Reportagen

Zwischen Kant und Herder

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Der Morgen des 28. März war ein verhangener Frühlingstag. Nebel hing über der Landschaft. Doch in Weimar herrschte bereits reges Treiben. An allen Ecken und Enden sind Bauarbeiter tätig, es wird gebaut, abgerissen und neu gebaut. Von der »Altenburg« blicken wir auf das Goethe-Schiller-Archiv. Hier soll um 9.00 Uhr der zweite Tag der Jahrestagung des Zentrums für Klassikforschung beginnen.
Das Tagungsthema ist: Genealogische Modelle in der Theorie des Geistes.
Im Tagungsraum der Petersen-Bibliothek haben sich schon Teilnehmer und Gäste der Tagung versammelt.

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Und dann geht es los. Der Moderator kündigt beinahe etwas überschwänglich den ersten Referenten an: Prof. Roderich Barth von der Universität Gießen, ein studierter Philosoph und Theologe. Einer seiner zahlreichen Forschungsschwerpunkte ist die Theologie und Philosophie der Aufklärung.
Barth leitet seinen Vortrag mit der Bemerkung ein, dass Herder die erste Adresse sei, wenn es um die Genese des Denkens gehe. Das breite Spektrum seines Denkens (Geschichte, Kultur, Philosophie, Literatur, Bildung u.a.) sei eine Voraussetzung. Biographisch werde Herder der Aufklärung zugeordnet. Faktisch sei er aber seiner Zeit voraus gewesen, habe Idealismus und Romantik vorweggenommen. Es gebe in der Wissenschaft auch Stimmen, die Herder eine Distanzierung zur Aufklärung zuschrieben, oder, wie der kanadische Philosoph Charles Taylor, Herder als »Gegenaufklärer« bezeichneten. Es gebe Gegenargumente zu Taylor, was aber nicht bedeute, dass Taylor verworfen werden müsste. (Leider blieb der Referent hier etwa so »klar«, wie der Morgennebel. Aber diese Argumentation spielte für ihn dem Anschein nach nur eine Nebenrolle.)
Weiter konstatierte Barth Schwierigkeiten im Umgang mit der Vielfalt des Herderschen Denkens. Das Hauptwerk Herders seien die »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« mit beeindruckender systematischer Geschlossenheit, eine Synthese in einer großen Meistererzählung, zur Begründung von Humanität habe Herder den Brückenschlag zwischen den Extremen des Denkens in seiner Zeit gewagt.
Aber es habe auch gegen Herders Ansatz in den »Ideen« Argumente gegeben. Bei manchen Zeitgenossen seien die »Ideen« auf Ablehnung gestoßen. Hier zitierte der Referent die, wie er es nannte, »ätzende« Kritik Kants an den »Ideen« (Kant rezensierte anonym den erste Band von 1784 und den zweiten von 1785). Ausführlich zitierte der Referent Kants Vorwurf der sich auf Analogien stützenden »Sagazität« und des »Mangels an logischen Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe«.
(Leider verwies Barth nicht auf die Zustimmung zu den »Ideen«, etwa von Wieland, Georg Forster, Christian Gottlob Heyne, Prinz August von Sachsen-Gotha. Selbst Goethe war begeistert, weil Herder mit den konkreten Details der Wissenschaften arbeitete und keine »Spezialterminologie erfand«, wie etwa Kant.)
Dem Anschein nach waren aber Kants Einwände auch für Barth evident, denn er fügte an, dass wichtiger als die persönlichen Folgen dieser Kantschen Kritik (er meinte wahrscheinlich die Herdersche »Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft« von 1799) sei das sachliche Problem. Kants Kritik ziele ins Zentrum des Herderschen Denkens. Zwar beruhe auch für Kant die menschliche Entwicklung auf der Natur. Aber für ihn erfolge die menschliche Geschichte nach Eigengesetzlichkeiten. Kant stehe für die Ausdifferenzierung des menschlichen Entwicklungsdenkens (vgl. »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«).

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Solche Fragen ließen sich nicht auf der Basis von Herders »Ideen« diskutieren, sondern erforderten einen interdisziplinären Ansatz, wie er auf der Tagung verfolgt würde.
Arnold Gehlen warne z.B. vor der unkritischen Verwendung des Entwicklungsbegriffs und verweise auf den frühen Herder. Dort könne man eine Genealogie der Geschichte finden. Gehlen verweise auf Herders »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«. Diesen Ansatz wollte Barth aber nicht verfolgen. Bei Herder selbst finde sich nämlich der Ansatz einer »Geschichte des menschlichen Verstandes«. Nach einem Hinweis von Wolfgang Pross sei diese Geschichte des menschlichen Verstandes die Matrix, auf die sich Herders gesamte Entwicklung bis in die 1770er Jahre hinein gründe.
In einem ersten Schwerpunkt, den der Referent »Heilsgeschichtliche Anfangsgründe des menschlichen Verstandes« nennt, versucht er mit Zitaten nachzuweisen, dass Herder vom sinnlichen Ursprung der Erkenntnis ausging. Er fügte an, dass das Zitat aus den Nachschriften Herders zu Kants Metaphysik-Kolleg stammte. Dies sei als Anfangsdokument von Herders »Genealogie des menschlichen Verstandes« zu betrachten.
Für Herder gründete sich diese Genealogie in der empirischen Psychologie. Kant habe Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik vorgetragen. Das sei die Begegnung Herders mit der »Schulmetaphysik« (der Metaphysik der Leibniz-Wolffschen Schule) und der Psychologie gewesen.
Mit einem Zitat Herders aus dem Jahre 1769 versuchte der Referent zu begründen, dass Herder von Baumgarten nicht nur die empirisch-psychologische Methodologie sondern auch die Aufwertung der von Kant unterschätzten Sinnlichkeit übernahm. Sinnliche Vorstellungen seien für Baumgarten nicht mit »nicht deutlich« oder mit »unteres Erkenntnisvermögen« abzutun. Mit dieser Baumgartenschen Methode habe Herder seine Genealogie des Verstandes entwickelt. Zudem sei Herder auf Leibniz zurückgegangen. Trotz Kritik habe Herder immer ein positives Verhältnis zu Baumgarten bewahrt.
Herders »anderer Lehrer« (neben Kant) in Königsberg, Johann Georg Hamann, habe das Gefühl für eine besondere Gattung gehalten. Von hier aus seien Bezüge zur heutigen Emotionsforschung möglich.
Herder habe eine Wende von der Erkenntnis zum Gefühl, der Poesie als Explikation der Seele vollzogen. Hier zitierte der Referent Herder »Der Mensch wie das Tier empfindet zuerst dunkel …«
Herder habe zeigen wollen, »wie aus Empfindungen meiner Sinne Bilder meiner Seele werden«. Hier werde eine »Doppelgenealogie« deutlich: die Psychologie des Künstlerischen Denkens und die Genealogie der Menschheit.
Es sei nicht verwunderlich, dass Herder nach seinem Weggang aus Königsberg eine »Geschichte der lyrischen Dichtkunst« in Angriff genommen habe. Herder sei es um eine genetische Erklärung der Poesie gegangen. Die »Geschichte des menschlichen Verstandes« sei zu einer natürlichen Erklärung geworden. Der Theologe Herder habe nach einer anthropologischen Erklärung der Poesie gesucht. Die erste Genealogie sei Herder in der Bibel begegnet. Rudolf Smend habe in Band 5 der Frankfurter Herder Werk-Ausgabe) originäre Bibelkommentare Herders ediert. In der »Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts« habe Herder darauf verwiesen, dass es sich in der Genesis nicht um den Versuch einer physikalischen Weltentstehungserklärung handle, sondern um eine poetische Erklärung.
Man habe also bei Herder eine historische, eine physikalische und eine narrative Genealogie.

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Den nächsten Schwerpunkt nannte Prof. Barth (auf dem Foto)  »Von den sinnespsychologischen Ansätzen zur Metaphysik«.
Herder sei mit seiner eigenen Erklärung unzufrieden gewesen. Bei Gelegenheit der Rezension von Karl Friedrich Flögels »Geschichte des menschlichen Verstandes« habe Herder die Idee der Synthese verschiedener Wurzeln gewürdigt: »Den Verstand gleich einer Pflanze aus einer Wurzel zu erklären wäre zu viel gewagt.«
In den Unterlagen aus Herders Nachlass könne man Herders Ringen mit dem Problem erkennen. Das Projekt der Entwicklung vom Sinnenmenschen zum Verstandesmenschen sei für Herder von Bedeutung geblieben, wurde aber nicht fertiggestellt. Die Idee der Genealogie sei erhalten geblieben. Herder habe das sensualistische Denken verarbeitet. Aber ihn habe weniger die Erkenntnis interessiert als die anthropologischen Grundlagen der Kultur.
Herder habe die Untersuchung des Arztes William Molyneux über das Verhältnis von Gesichts- und Tastsinn zur Kenntnis genommen. Francis Hutcheson und Gottfried Wilhelm Leibniz hätten die Beziehung der Sinne bejaht. Hier habe Herder angeknüpft. Zudem habe Herder einen Bericht von Condillac über die Heilung eines blinden Jungen gelesen.
So habe Herder die Geschichte des menschlichen Verstandes neu formiert. Der erste Versuch im vierten »Kritischen Wäldchen« sei von der Polemik gegen Riedel überlagert. Herder habe offensiv an Leibniz festgehalten und einige seiner Ansätze in Synthese weitergeführt. Die Darstellung einer Entwicklungsgeschichte des menschlichen Bewusstseins habe Herder zur Destruktion naiver Ansätze benutzt.
Die »Pointe« bestehe darin, dass Herder selbst den Ursprung der Entwicklung unmittelbarer Gefühle annahm. Das Selbstgefühl sei Ausgangspunkt der Entwicklung. Beim »Erwachen des Bewusstseins« handle es sich um eine Selbstexplikation. Zugespitzt formuliert habe Herder den Übergang von einer Geschichte des menschlichen Verstandes zu einer Geschichte des Selbstbewusstseins vollzogen.
Der eigentliche Fortschritt des Sensualismus bestehe im Ausdifferenzieren nach Einzelsinnen. Herder habe auch die Sinne unterschieden. Damit habe er die Grundlage für eine Ästhetik der Künste gelegt.
Das fertige Manuskript habe Herder aber zurückgehalten. Zu einer Publikation sei es nicht mehr gekommen.
Im »Reisejournal« von 1769 habe Herder einen kritischen Rückblick unternommen.
Hans-Dietrich Irmscher habe 1960 ein in Paris entstandenes Herder-Manuskript »Zum Sinn des Gefühls« ediert. Hier habe Herder Grenzen überschritten. Die Kategorien Kraft, Raum, Zeit hätten zentrale Positionen erlangt. Diese würden bei Herder aber »überwölbt« von den Begriffen Anziehung und Abstoßung (Attraktion und Repulsion). Zudem habe er Analyse und Synthese verbunden.
Aber, so der Referent, Herder sei »blass« geblieben. Hier verwies Prof. Barth auf die erkenntnistheoretische Arbeit von Marion Heinz (»Sensualistischer Idealismus«, Hamburg 1994).
Herder habe eine universales geistiges Prinzip vertreten. Die Konzeption des Selbstgefühls habe er an den Körper gebunden. Irmscher habe es die »Leiblichkeit« genannt. Aber die Phänomene der Leiblichkeit seien mit unserem Denken untrennbar verbunden. Menschlicher Verstand sei nur als Denken im eingeschränkten Raum vorstellbar. (Hier verwies der Referent auf Johann Gottlieb Fichte.)
Im letzten Schwerpunkt wollte der Referent einen Ausblick auf eine mögliche Genealogie des menschlichen Verstandes aufzeigen.
Zunächst versuchte er einzelnen Werken Herders einzelne Sinnesuntersuchungen zuzuordnen. Etwa dem Essay über den Sprachursprung das Gehör, dem Plastik-Aufsatz den Tastsinn und der allerdings weiter gefaßten Abhandlung »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele« das Gefühl.
Herder habe versucht, die naturhistorische Theorie Hallers mit der Analogie-Methode zu verbinden.

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Um 9.48 Uhr endete der Vortrag von Prof. Roderich Barth. Der Moderator ließ Fragen aus dem Publikum zu. Als erster meldete sich Dr. Günter Arnold, der Bearbeiter der Herder-Brief-Ausgabe, zu Wort. Arnold stellte keine Frage, sondern versuchte die Themenstellung des Referenten kritisch zu erweitern. Die aufgeführten Genealogien der Sinnespsychologie, des Verstandes usw. seien keine selbstständigen Projekte Herders, sondern nur Bausteine einer »Universalgeschichte der Bildung der Welt« gewesen. Das sei der (immanente) »Rahmen« des Herderschen Werkes. Das habe Rudolf Smend in seinen Kommentaren zu Herders »Ältester Urkunde« bestätigt. Von den Bibelkommentaren an, über den Essay über den Sprachursprung, die »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« bis zu seinen letzten Aufsätzen in der Zeitschrift »Adrastea« habe Herder mit diesem »Rahmen« gearbeitet, diesen aber nicht außerhalb des Stoffes dargestellt, d. h. nicht »rein methodologisch«. Den theologischen Aspekt habe Herder mit der Zeit in den Hintergrund gestellt, weil er die Verantwortung von Gott auf die Menschen selbst übertragen sah. Darin bestehe die Größe von Gott, dass er dem Menschen, seinem Geschöpf, selbst die Verantwortung übertrug. So habe Herder im Kommentar zu Genesis 3 den sogenannten »Sündenfall« im Geist der Aufklärung als eine Chance zur Emanzipation und Selbstschöpfung des Menschen interpretiert.
In einem Brief an Hamann (Riga, Ende April 1768 Herder-Briefe Bd. 1, S. 97–102) schreibt Herder an Hamann, dass er über den »Sündenfall« nachdenke: »Ich erinnere mich, einmal Kant, den großen Schüler des Roußeau hierüber befragt zu haben; er antwortete aber, wie Onkel Tobias Shandy …« Herder berichtet Hamann von einer eigenen Arbeit, die später als »Älteste Urkunde des Menschengeschlechts« erscheint. Herder schreibt über seinen Kommentar des ersten Buches Moses, der so genannten »Genesis«: »Ich lese also Orientalisch, Jüdisch, alt, Poetisch: nicht nordisch, Christlich, neu, u. Philosophisch, u. da kommen mir folgende Betrachtungen, in diesem abgebrochenen Poetischen Nationalliede vor.
Versus 1. die Schlange war (nach Orientalischer Art) listiger, als alle p Ich mag nicht Philosophisch commentiren: daß ein Thier das andre übertreffe: einige, jedes in seiner Sache, selbst die Menschen, übertreffe; … kurz: der Umgang mit künstlichern und listigen Thieren brachte den Menschen weiter, als wo er war p. Orientalisch: die Schlange sprach: ja sollte Gott gesagt p
Nun ists für mich, u. vielleicht auch für Sie das schönste Bild, daß wenn die Quelle unsres Uebels Klugheit seyn sollte, wie es Bibel und der dummste Verstand zugeben muß – daß kein edleres, antikeres Poetisch-Orientalisches Bild seyn kann, als: der Baum des Erkenntnisses p u. nach dieser Klugheit verlangen …«
Herder bitte Hamann, diesen Brief keinem andern zu lesen zu geben. Hamann hält den Gedanken Herders für »Ketzerei«. (Aber was in der Geschichte des Christentums »Ketzerei« genannt wurde, war häufig nur ein besseres Verstehen der Heiligen Schrift.)
Herder, so Arnold, habe letztlich mit seinem Gesamtwerk eine Art von »Phänomenologie des Geistes« betrieben. Die wichtigsten Menschen des Altertums seien ihm Moses, Homer und Plato gewesen. Schamanen, Dichter als Erzieher ihres Volkes, Philosophen seien die Stufen der Bildung der Menschheit und ihrer Weltanschauung gewesen. Herder habe sich deshalb immer gegen die These vom »Priesterbetrug« gewandt.
Der Moderator mahnte Arnold, zum Ende zu kommen, und Prof. Barth antwortete auf das Statement, dass er sich auf die frühe Phase und die eingeschränktere Thematik konzentriert habe, weil es sonst ein zu großes Projekt geworden wäre. Allein die Metaphysik-Problematik sei eine Lebensaufgabe.
Prof. Jürgen Stolzenberg wollte wissen, ob der Referent bei Herder »klare Hinweise« zur Verwendung von Leibnizschen Begriffen gefunden habe. Zudem mahnte er einen differenzierteren Blick auf die nachkantische Philosophie an. Barth ging zunächst auf letzteren Punkt ein. Was Kant in seiner »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« geleistet habe, das sei gegenüber Herder recht dünn. In Bezug auf die Verwendung von Leibniz-Begriffen durch Herder könne er keine klare Antwort geben. Herder sei es nicht um den Unterschied von Verstand und Sinnen gegangen. Bei Herder gäbe es viele Ungenauigkeiten. Herder sage nicht, dass Naturforschung Poesie sei, aber in seiner Begriffsbildung kämen Naturgesetze zum Tragen, die unsere Angewiesenheit auf Bilder und Metaphern belegten.
Prof. Ulrich Barth formulierte zunächst seinen Ausgangspunkt: Genealogie sei nüchtern betrachtet eine primitive Form von Wissenswissen. Kulturgeschichte sei Sprachgeschichte. Baumgarten und Wolff hätten die Sinnlichkeit als Basis der Entwicklung angesehen. Leiblichkeit sei kein Dualismus von Leib und Geist. Hier verwies er auf den Herderschen Essay über den Sprachursprung. Seine Frage sei, ob »Entwicklung« eigentlich »Selbstexplikation« sei, weder Prozess noch Temporalität. Wenn das so wäre, wie sei das Modell der Selbstexplikation einzustufen? Bei Leibniz habe die Monade einen Drang zur Selbstexplikation. Es gäbe keine andere Erklärung als Leibnizens Konzept der Monade. Deshalb müsse man bei Herder deutlicher den Einfluss Leibnizens von dem der Schulphilosophie unterscheiden.
Prof. Roderich Barth antwortete, dass er dem Statement weitgehend zustimme. Herder stimme nicht dem Sensualismus zu. Es gehe um Autonomie aber in einer Verschränkung mit Heteronomie.
Prof. Ulrich Barth fragte abschließend, ob nicht der Entwicklungsgedanke bei Hegel eigentlich »Selbstexplikation« sei. Der Referent verwies auf die fortgeschrittene Zeit und der Moderator schloss um 10.12 Uhr die Diskussion. Der nächste Vortrag folge. Erst am 29.3.2014 ging die Tagung zu Ende.

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Kommentar
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass das Werk Herders in die Diskussion der akademischen Philosophie eingebracht wird. Prof. Roderich Barth platzierte seinen Vortrag aus unserer Sicht irgendwo zwischen Kant und Herder. Aus der Sicht des Herderschen Werkes war der Versuch eine »Geschichte des menschlichen Verstandes« als konzeptionellen Ansatz darzustellen verwunderlich.
Günter Arnold deute in seinem Einwurf den großen Rahmen des Herderschen Werkes an, eine Universalgeschichte der Bildung der Welt«.
Der Referent hatte seine Thematik eingeschränkt, um sie darstellbar zu machen.
Interessant ist ein Satz aus seiner Antwort an Günter Arnold: die Problematik sei so umfangreich, dass es eine Lebensaufgabe wäre.
Ja, für Günter Arnold ist die Erforschung des Herderschen Werkes eine Lebensaufgabe. Seit den 1970er Jahren ist er Bearbeiter der kommentierten Gesamtausgabe der Herder-Briefe.
Heute wäre so etwas wohl kaum noch möglich. Junge Wissenschaftler sollen in kurzer Zeit umwälzende »Exzellenz-Ergebnisse« erbringen, die aber mit den Mainstream-Durchschnitt der Gutachter übereinstimmen.
Insofern sei Prof. Roderich Barth noch einmal für seinen Versuch gedankt, in Weimar den heute als Philosophen und auch als Theologen weitgehend vergessenen Johann Gottfried Herder zu vergegenwärtigen.
Peter Sloderdijk sagte vor etwa zehn Jahren in Weimar, dass Herder der letzte protestantische Denker gewesen sei, der sich an einer Kosmologie versuchte. Seine Nachfolger verstünden Gott nur noch als den »großen Sozialarbeiter«.
In der akademischen Philosophie, die sich noch historisch zu begründen versucht, dominieren seit dem 19. Jahrhundert Kantianer und Hegelianer. Die These von einer »reinen Vernunft«, die die Unterschiede von Sinnen, Verstand und Vernunft hervorhebt, hat den Rang eines allgemeinen Vorurteils erlangt. Die damit verbundene Kopflastigkeit der akademischen Philosophie versuchte man seit einigen Jahren mit einer »Philosophie des Leibes« auszugleichen. Aber eine Leiblastigkeit ist genau so wenig tragfähig, wie eine Kopflastigkeit.
Aus einer solchen, historisch gewachsenen Sicht wirkt Herder wie ein Störenfried.
Herder hatte Leibniz’ Antwort auf John Lockes Satz »Nichts ist im Verstand, was vorher nicht in den Sinnen war« – »Außer dem Verstand selbst.« – ernst genommen. Für Herder waren Verstand/Vernunft der innere Zusammenhang unserer Sinneseindrücke. Zudem waren Verstand/Vernunft für Herder an Sprache gebunden. Eine »reine« Vernunft, ohne Sprache, konnte es für Herder und Hamann nicht geben.
Zugegeben, das klingt heute immer noch ketzerisch.
Wer sich kurz über Herders Weltsicht informieren will, dem seien die »Hodegetischen Abendvorträge« Herders empfohlen, die er im Frühjahr 1799 seinen Sohn Emil und dem Gymnasiasten Gotthilf Heinrich Schubert hielt. Bernhard Suphan nahm diese Vorträge nach der Textgrundlage einer Mitschrift Schuberts in die Herder-Gesamtausgabe auf (Bd. 30). In der Frankfurter Ausgabe der Herder-Werke wurden die Vorträge unter den »Pädagogischen Schriften« in Band 9/2 von Rainer Wisbert ebenfalls nahezu unkommentiert veröffentlicht. Eine kommentierte Fassung der Vorträge ist in Eichler, A.: »Gotthilf Heinrich Schubert, ein anderer Humboldt« zu finden. (Mironde-Verlag 2010, S. 63–71, ISBN 9783937654355)
Herder bewahrte die Tradition von Philosophie als Weisheit und vermochte so eine Erneuerung der Philosophie zu leisten. Einseitige Versuche der Erneuerung (etwa als Kopernikanische Wende!) oder des bloßen Bewahrens (Konservatismus) sind nicht tragfähig. Innovation und Konservation machen nur im gegenseitigen Bezug Sinn: als Innokonservation. Herder wurde nicht müde diese wechselseitige Bedingtheit der Gegensätze zu erklären. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er Humanität nur auf der Basis des Gegensatzes von Vernunft und Glauben für begründbar hielt.
Bis heute ist diese Position für die akademische Philosophie, die sich einseitig auf Vernunft bezieht, nicht nachvollziehbar. Aber in der Weisheit kommen die Gegensätze von Skepsis und Hoffnung, von Erkenntnis und Existenz zusammen.
Weisheit, Philosophie ist für Herder so etwas, wie die Theorie von Poesie. In der Poesie fallen für ihn die Gegensätze Vernunft und Glauben praktisch zusammen. Das poetische Verhältnis zur Welt ist für ihn das eigentlich menschliche Verhältnis zur Welt. Marx nannte es in jungen Jahren das praktisch-geistige Verhältnis zur Welt.
Prof. Roderich Bart sprach im Vortrag davon, dass Herder von der »Erkenntnis« zur »Poesie« überging. Wie soll man das verstehen?
Der Briefauszug belegt, dass Herder bereits in Riga von der zentralen Rolle der Poesie ausging. Hamann nannte das Verfahren, das Herder in der »Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts« anwendete, eine »morgenländische Archäologie«.
Interessant an Vortrag und Diskussion war, dass wieder auf Gottfried Wilhelm Leibniz verwiesen wurde, der von Kant ignoriert und von Hegel zum »aufgehobenen Vorläufer« deklassiert wurde.
Wieso Leibniz? Es ist kein Zufall, dass Ernst Cassirer in den Erläuterungen zu den Philosophischen Hauptwerken Leibnizens, die bei Felix Meiner erschienen, einen Satz des großen Leipzigers heraushob: Unsere Erkenntnisse sind weder geistiger, noch sinnlicher sondern symbolischer Natur.
Bezeichnend für die Wissenschaftsgeschichte der alten Bundesrepublik ist, dass in der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik kein Herder-Kenner vertreten war. Herausragende Vertreter dieser Gruppe, wie etwa Peter Szondi, äußerten sich unter diesem Aspekt nicht zu Herder.
In der Wissenschaftslandschaft der DDR gründeten Werner Krauss und seine Schüler eine Wissenschaftsstruktur auf Herders weiter Literaturauffassung. Germanistik, Romanistik und Slawistik wurden als Kern der Kulturwissenschaften betrieben. Doch die Institutionen gibt es nicht mehr. Die Herausgabe des Werkes von Werner Krauss wurde nach 1990 abgebrochen. Einzelne Bände sind noch antiquarisch zu bekommen.
Poesie, Symbole, Metaphern. Hier sind wir bei der weiten Fassung von Literatur, die Herder sein Leben lang, bis in die Zeitschrift »Adrastea« von 1802/03 betrieb. Hier wird deutlich, dass selbst Erkenntnisse der Naturwissenschaften erst für die Menschheit relevant werden, wenn sie in eine literarische Form kommen. Umgekehrt: heute verstehen nicht einmal die Vertreter von naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen die Formeln der anderen Naturwissenschaftler. Was will man dann von Laien erwarten?
Insofern war das Thema der Weimarer Tagung sehr interessant angesetzt. »Genealogien der Natur und des Geistes«. Sigrid Weigel hatte schon vor Jahren geschrieben, dass sich in der Kultur Vererbung nicht wie bei der DNA vollziehe, sondern über Generationen. (Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006) Man müsste an den Aufsatz von Karl Mannheim über das Problem der Generationen erinnern. Oder auch an die Arbeiten von Nikolai Kondratjew.
Nicht zuletzt sei an die Herdersche Formulierung von der »Kette der Generationen« erinnert. Das ist übrigens der einzige Ausdruck, den Georg Friedrich Wilhelm Hegel als ein Herder-Zitat ausweist.
Johannes Eichenthal

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