Reportagen

Winckelmann und Lessing

Wo Lessing ist, so heißt es, da zieht die Kälte ein. Gemeint ist eigentlich Lessings literarische Methode, deren Kern darin besteht Vorgänge »auszukühlen«, wie Brecht das Verfahren nannte, um sie im Theater darstellbar zu machen. Eigentlich geht es darum Emotionen wie Mitleid oder Pathos an der »Oberfläche« des Dramas zu vermeiden, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers (oder Lesers) auf das Wesentliche lenken zu können. Nur so ist Größe in der dramatische Kunst darstellbar. In Lessings Geburtsstadt Kamenz veranstaltet man in diesem Jahr zwischen dem Geburtstag und dem Todestag Lessings die 48. Lessing-Tage. Da Lessing am 22. Januar geboren wurde und am 15. Februar starb, ist es so ziemlich sicher, dass sich auch die »Kälte« wieder als Gast einstellt.

Am Abend des 26. Januar lag das Kamenzer Lessing-Museum hinter einem Schleier aus feinsten Schneeflocken. Nasser Schnee bedeckte die Straße vor dem Ensemble und ebenso die Fußwege. Einsam trotteten wenige Menschen, nur von ihren angeleinten Hunden bewegt, auf dem Fußweg durch die ungemütliche Dunkelheit. Aber aus dem Röhrmeisterhaus drang helles Licht hervor. Menschen kamen zu zweit oder zu dritt heran. Man hörte Stimmen. Am Eingang die Ankündigung: Professor Max Kunze spricht heute über »Winckelmann und Lessing. Zwei Wege der antiken Kunst zu begegnen«.

Professor Max Kunze, ein klassischer Archäologe, der verschiedene Museen und Sammlung leitete, Herausgeber einer Winckelmann-Werkausgabe und Präsident der Winckelmann-Gesellschaft, stellte den etwa 60 Gästen zunächst das Ziel seines Vortrages vor: er wolle mit drei Beispielen zeigen, wie unterschiedlich man sich im 18. Jahrhundert der Antike nähern konnte. Einerseits habe Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) mit seinen 1776 erschienen Arbeit »Laokoon oder über die Grenzen zwischen Malerei und Poesie« versucht sich der Antike ausschließlich auf Grund von literarischen Quellen zu nähern. Goethe habe ihn dafür gelobt. Friedrich Schlegel habe ihm dagegen einen Mangel an Anschauung vorgeworfen.
Auf der anderen Seite sei Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) nach Italien gereist, um die Altertümer und Kunstschätze selbst in Augenschein zu nehmen.
Lessing habe mit der Methode Winckelmanns nichts anfangen können und habe den Unterschied im Herangehen einmal so formuliert: die einen hätten die Scherben, die anderen den Geist des Altertums geerbt. (Wobei hier unstrittig ist, dass Lessing für sich den Geist reklamierte.)
Lessing und Winckelmann seien sich nie begegnet und hätten auch nie miteinander im Briefwechsel gestanden.
Ursprünglich habe Winckelmann auf Lessings kritische Bemerkungen im »Laokoon« antworten wollen. Er bat darum, dass man ihm das Buch »dieses jungen Bärenführers« (Lessing) schicken möge. Sein erster Eindruck sei gewesen, dass Lessing »eine würdige Antwort« verdiene.
Dieser Brief sei über Kopien bekannt geworden. Man habe auch Lessing diese Äußerung Winckelmanns zugetragen. Lessing sei zu diesem Zeitpunkt in Europa nur durch sein Theaterstück »Miss Sara Sampson« bekannt gewesen. Aber einige Monate später habe Winckelmann hervorgehoben, dass es Lessing einfach an Kenntnissen mangele, dass er ihm eine Kritik ersparen wolle und auf einen Briefwechsel verzichten werde. Lessing schreibe durchaus scharfsinnig, habe aber Italien »nur im Traum gesehen«.
Lessing habe dagegen versucht die Antike philologisch zu verstehen. Er habe einmal gesagt, dass der Philosoph kaltblütig sein müsse. (Hier machte der Referent einen Sprung von der Philologie zur Philosophie, traf aber eigentlich nur die Vernunft. Doch Philosophie ist, anders als es der Referent und Lessing annehmen, nicht auf Vernunft beschränkbar.) Winckelmann habe in seiner Geschichte der Kunst des Altertumsseine seine Methode »zum System« entwickelt.
Lessing habe Winckelmanns Bücher als historische gelesen. In seiner Privatbibliothek seien alle Arbeiten Winckelmanns, angefangen von frühen Werken aus der Dresdner Zeit, vertreten gewesen. Nach dem Tode Winckelmanns erschien 1776 Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums« in Wien. Herausgeber war Friedrich Justus Riedel (1742–1785), ein Klotz-Schüler. Diese Ausgabe wurde bald wegen einiger Mängel kritisiert. Lessing habe die Absicht gehabt die Winckelmannschen Werke herauszugeben. Er habe zu diesem Zweck bereits 1775 mit Daßdorf, dem Direktor der Königlichen Bibliothek in Dresden, im Briefwechsel gestanden. Doch aus dem Plan wurde nichts.
An dieser Stelle ging Max Kunze auf den Lebensweg Winckelmanns ein. Dieser sei 1755 nach Rom gegangen. Zunächst habe er sich noch an antiken Schriftstellern orientiert (Pausanias, Plinius). In der Laokoon-Gruppe habe er ein Beispiel für die Vollkommenheit der alten Kunst gesehen. Winckelmann hatte zahlreiche Sammlungen besucht und untersucht. Ihm wurde allmählich gewahr, dass einige verloren geglaubte griechische Originale nur in römischen Kopien erhalten sind. So sei er zur Einsicht gekommen, dass man die Gegenstände selbst sehen müsse, um sie verstehen zu können. Aber das Sehen müsse man auch erst lernen. In vielen Briefen an Freunden habe die Winckelmannsche Aufforderung gestanden: »Komm und sieh!«
Winckelmann habe versucht die gesehene Kunst in Stile einzuordnen. Stil sei für ihn der organische Prozess des Wachstums, der Blüte und des Verfalles gewesen (also keine starre Regel oder Schublade).
Lessing habe im »Laokoon« Äußerungen von Winckelmann aus dem Jahre 1755 zitiert. Am Schluss habe er die Diskussion mit der Begründung abgebrochen, dass er erst die neu erschienene Winckelmannsche »Geschichte der Kunst« lesen müsse. Doch dieses Buch habe Lessing nachweisbar bereits zwei Jahre zuvor in einem Vorabdruck gelesen gehabt.
Hier ging Max Kunze detailliert auf die Diskussion um den Ursprung der Skulptur der Laokoon-Gruppe, des borgesischen Fechters und einer weiteren Skulptur ein. Lessings Äußerungen seien scharfsinnig gewesen aber seine Kenntnisse gründete er ausschließlich auf Abbildungen, mitunter auch auf (durch die Drucktechnik bedingte) spiegelverkehrte Darstellungen.
Winckelmann sei durch derartige Kritiken etwas in den Hintergrund geraten. Erst im 19. Jahrhundert habe man Winckelmann wieder entdeckt. Heute versuche die Wissenschaft über die Beschreibung des Kunstwerkes und über Quellenkritik der Sache näher zu kommen.

Das Publikum dankte dem Referenten mit herzlichem Beifall. Es wurden Fragen zugelassen.
Ein Zuschauer wollte wissen, ob es im Römischen Reich tatsächlich so gewesen sei, dass die Römer Politik betrieben und die Griechen bildende Kunst.
Ja, es habe nur einen römischen Maler gegeben, alle anderen seien Griechen gewesen. Die Griechen wiederholten einerseits alte Werke oder sie schufen völlig neue Werke.
Es sei heute immer noch schwierig Alter und Status von Skulpturen aus der römischen Zeit festzustellen. Im Grund sei man in der Diskussion wieder bei Lessing und Winckelmann. Man wisse inzwischen, dass die Laokoon-Gruppe eine römische Kopie sei und dass sie über die Jahrhunderte immer wieder restauriert wurde. Bei der letzten Restaurierung habe man alles entfernt, was als nicht zum Original gehörig angesehen wurde.
Auf eine spätere Frage fügte Max Kunze hinzu, dass man im besten Falle die Marmor-Steinbrüche feststellen könne, aus denen das Material für die Skulpturen stammte. Aber über Alter und Originalität könne man kaum etwas sagen.
Heute wisse man auch, dass die Skulpturen einst bemalt waren. Blut und Wunden waren auf der Laokoon-Skulptur sichtbar. Erst der Klassizismus habe die Vorstellung von weißen Plastiken geprägt.
Ein Zuschauer fragte, ob man auf unterschiedliche Antike-Bilder von Winckelmann und Lessing schließen könne. Max Kunze meinte, dass man das eher nicht könne.
Ein Zuschauer fragte, ob man auf unterschiedliche philosophische Auffassungen zwischen Lessing und Winkelmann schließen könne.
Max Kunze antwortete, dass sich Winckelmann nicht für Philosophie interessiert habe. Es sei ihm um persönliche Eindrücke gegangen. Wenn er eine neue Plastik gefunden habe, schrieb er seinen Freunden jeweils, dass er das schönste Kunstwerk aller Zeiten gefunden habe.
Gegen 20.30 Uhr ging die Veranstaltung offiziell zu Ende. Man diskutierte aber noch in kleinen Kreisen weiter. Ehe sich alle wieder in die nasse Kälte jenes 26. Januar-Abends begaben.

Kommentar

Man muss den Veranstaltern danken und gratulieren. In unserer Zeit gehört viel Engagement dazu, um einen solchen erfahrenen Referenten und einen solch interessiertes und kenntnisreiches Publikum zusammenzubringen. Das ist die Tradition, die dem Geist Lessings gerecht wird. Und um den Geist Lessings geht es doch. Oder?
Die Gegenüberstellung von Lessing mit Winckelmann brachte sicher auch in Kamenz einige neue Einsichten. Vielleicht könnte man diesen Weg fortsetzen. So könnte man doch auch vermuten, dass Winckelmann John Lockes Satz kannte »Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war.« Gerade er praktizierte ja die Wertschätzung der sinnlichen Erfahrung. Aber kann man nicht auch vermuten, dass Winckelmann, der in Halle beim Leibniz-Verehrer Christian Wolff studierte, die Antwort Leibnizens auf Locke kannte: »Außer dem Verstand selbst!« Also Verstand und Vernunft kann man nur als den inneren Zusammenhang unserer Sinneswahrnehmungen verstehen, nicht als »höhere Stufe« irgendeiner Erkenntnis. Weder Lessing noch Goethe taugen hier als Kronzeugen. Es war Johann Gottfried Herder, der das philosophische Verfahren Winckelmanns weiterführte. Herder nutzte jede Möglichkeit, um sich Plastiken selbst anzuschauen. Für Herder stand fest, dass alle Erkenntnis mit der sinnlichen Erfahrung beginnen muss, dass aber Verstand und Sprache das innere Bild vermitteln, dass alle unsere Sinne gemeinsam aufbauen. Auch Herder stützte sich hier auf die Linie von Plato zu Leibniz. Die Plastik war für Herder die Krönung der Kunst. Bekannt ist Herders Aufsatz mit dem Titel »Plastik«. Also: es gibt Themen für weitere Veranstaltungen in Kamenz. Wir freuen uns schon darauf.

Johannes Eichenthal

Information

Die Kamenzer Lessing-Tage gehen noch bis zum 19. Februar 2011.
www.lessingmuseum.de

Winckelmann-Gesellschaft und Winckelmann Museum in Stendal
www.winckelmann-gesellschaft.de

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