Essay

Hans Brockhage zum 85. Geburtstag

»Paradies ist Sehnsucht«, so nannte der international bekannte Skulpturist Hans Brockhage das Buch über die westerzgebirgische Schnitzkunst, das sein letztes Buch werden sollte. Er verstarb am 17. Februar 2009, kurz vor seinem 84. Geburtstag. Der Porzellangestalter und Galerist Olaf Stoy hatte aus Anlass des 85. Geburtstages von Hans Brockhage für den 17. Dezember 2010 die Eröffnung einer Ausstellung mit dem Titel »Paradies ist Sehnsucht« angesetzt. Geplant war ein Galeriegespräch. Der Winter war an jenem Tag jedoch so unberechenbar, dass Olaf Stoy die Eröffnungsveranstaltung absagte und auf die Finissage verlegte.

Am 28. Januar 2011 war es dann soweit. Der Winter hielt sich zurück. Die interessierten Gäste konnten ungehindert anreisen. Wie immer war die Stimmung in der Stoyschen Galerie gut. Eine Überraschung gab es auch. Eine Studienkollegin von Hans Brockhage, die mit ihm im zerstörten Dresden ab 1946 an der Hochschule für angewandte Kunst studierte, hatte sich einen Besuch der Ausstellung nicht nehmen lassen. Sie trug zur Erinnerung an die Dresdner Zeit bei: eine Werkbank hatte jeder Student selbst mitzubringen, die Ateliers mussten selbst aufgebaut werden, Heizmaterial gab es kaum und satt zu essen hatte man auch nicht. Dennoch einte diese Generation ein ungeheurer Wissensdrang.

Im Atelier waren einige Facetten des reichen Brockhagenschen Werkes zu sehen. Holzfiguren, kleine Plastiken, Skizzen, Unterlagen und sogar ein 30–40 cm dickes Buchmanuskript aus geklebten Seiten. An der Decke schwebte jedoch ein Holzengel mit betont sachlicher Figur. Ähnliche Figuren schuf Hans Brockhage in seiner Dresdner Zeit unter Anleitung der Professorin Marianne Brandt. Zu den eindrucksvollsten Zeugnissen jener Zeit gehört eine Gruppe Pyramidenfiguren die die Dresdner Trümmerfrauen darstellen.

Sabine Schmidt (Foto), die jüngste Tochter von Hans Brockhage, sprach zum Ende der Ausstellung mit Andreas Eichler über Leben und Werk ihres Vaters. Eichler, ein promovierter Philosoph, wollte sogleich wissen, wie der Meister seine Bücher machte. Geduldig gab Sabine Schmidt Antwort. Dann kamen die beiden auf Marianne Brandt zu sprechen. Eichler meinte, dass Brockhage sein Leben lang über das Verhältnis von Architektur, Plastik und Malerei im Werk der Brandt nachgedacht habe. Die Einordnungen der Kunsthistoriker, die heute noch das Werk der Brandt auf die Teeservice reduzieren, waren ihm zu flach. »Tiefer loten« war eine seiner Lieblingsaufgaben.
Hier verwies Eichler, wir hatten es befürchtet, wieder auf Herder. Er zog einen kleinen Band mit Herder-Texten hervor, den die Dresdner Kunsthochschule 1954 gemeinsam mit Heinz Begenau von der Weimarer Klassik-Stiftung herausgegeben hatte, um die singuläre Stellung der Ausbildung in Dresden zu belegen. Einst habe er mit Hans Brockhage über den Herderschen Ästhetik-Ansatz gesprochen, da habe Frau Brockhage aus der Bibliothek dieses kleine Büchlein hervorgeholt. Hans Brockhage habe sich erinnert, dass Marianne Brandt mit Heinz Begenau befreundet gewesen sei. Und, Begenau habe in Sachen Herderscher Ästhetik allein auf weiter Flur gestanden. Zwar habe Wolfgang Harich im Aufbau-Verlag als gesamtdeutsche Sensation Herders »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« und die Herder-Biographie von Rudolf Haym neu herausgegeben, aber Harich habe im Banne der Kant-Hegel-Begeisterung von Georg Lukács gestanden. Dem Herderschen Ansatz, der vor allem in seinen beiden Kant-Kritiken von 1799 und 1800 deutlich wurde, vermochte nur Begenau zu folgen.
Hier war Eichler nun in seinem Element. Niemand konnte oder wollte ihn aufhalten. Bis heute würde der Hamann-Herdersche Ansatz von der akademischen Philosophie sträflich vernachlässigt. Nicht einmal mehr die Textkenntnisse seien vorhanden. Dabei biete dieser Ansatz gerade für Künstler eine ernsthafte Reflexionsgrundlage.
Herder sei ein Kunstliebhaber gewesen. Er habe sich bemüht wichtige Gemälde, Plastiken und Musikstücke im Original zur Kenntnis zu nehmen. Seine Philosophie sei auf sinnlicher Erfahrung aufgebaut. Die zwei Gegensätze in der menschlichen Natur von Vernunft (Skepsis) und Religiosität (Hoffnung) kämen praktisch in der Poesie zusammen. Jedoch habe Herder Poesie nicht auf »Dichtung« reduziert, wie etwa Lessing, sondern im Sinne des griechischen Begriffes »Poisis« als Hervorbringen, Sagen des Unsagbaren, Sichtbarmachen des Nichtsichtbaren verstanden. Bereits um 1770 sei der Herdersche Ansatz in verschiedenen Artikeln über den Ursprung der Sprache, Gefühl und Empfindung, Plastik u.a. nachweisbar.
Herder habe philosophiehistorisch die Linie von Plato zu Leibniz fortgesetzt. Empirisch habe er sich in Erkenntnisfragen auch auf zeitgenössische medizinische Forschungen gestützt. Herder sei davon ausgegangen, dass wir die Welt nicht nur mit dem Kopf erkennen, sondern mit allen Sinnen, mit dem ganzen Körper. Alle Sinne seien dabei gleichrangig. Eine Stufung der Erkenntnis, wie sie Kant und Hegel vornahmen, war für Herder nicht tragfähig. John Locke habe einst gesagt, dass nichts im Verstande sei, was nicht vorher in den Sinnen war. Die Antwort Leibnizens auf Locke: »Außer dem Verstand selbst«, habe Herder ernst genommen. Verstand ist für ihn nur als innerer Zusammenhang der Sinneswahrnehmungen denkbar. Alle Sinne bauten gemeinsam ein inneres Bild auf. Weil wir mit unserem ganzen Körper erkennen, deshalb ist unser inneres Bild in der Regel körperlich. Weil unser inneres Bild körperlich ist, stellt die Plastik vom menschlichen Körper für Herder auch die Krone der Kunst dar.
Der Verstand sei der innere Zusammenhang des Bildes. Aber Verstand, Denken sei für Herder immer an Sprache gebunden. Dabei komme der Sprache für Herder sogar der Vorrang zu: wir können nur denken, was wir auch sprechen können. Dabei fasste er Sprache weit, als Zusammenhang von Lautsprache, Zeichensprache und Schriftsprache.
Sprache sei für Herder der Kern von Poesie. Deshalb habe Herder Sprache auch als Kern des »Hervorbringen«, der menschlichen Tätigkeit verstanden: unsere Sprache widerspiegelt nicht nur die Wirklichkeit sondern schafft sie auch.
Auf den Skulpturisten Hans Brockhage bezogen meinte er, dass dieser schließlich gesehen habe, dass die Plastik das Zentrum von Kunst sei. In der Architektur gehe es um die Darstellung des Körpers im Raum und in der Malerei um die zweidimensionale Darstellung des Körpers. Im Schaffen seiner Lehrerin Marianne Brandt habe Brockhage die Plastik als Zentrum erkannt. Selbst die berühmten Teekannen waren für ihn Plastiken. Aber gleichzeitig war ihre Malerei für ihn nur im Bezug auf die Plastiken verstehbar, und umgekehrt.
Bei einem Skulpturisten wie Brockhage, so Eichler, sei die Plastik einerseits eine Widerspiegelung der seelischen Verfasstheit. Andererseits sei Plastik auch eine Projektion von »Körper«.

Olaf Stoy (Foto) gab an dieser Stelle die Diskussion frei. Die Gäste brachten wichtige Details und Ergänzungen ein. Die Veranstaltung wurde so zu einem Ereignis. Wir bedauern alle, die nicht da waren. Zu danken ist dem Künstler und Galeristen Olaf Stoy. Er vermag es in seiner Galerie und in den Galeriegesprächen immer wieder auf originäre und innovative Weise der Öffentlichkeit wichtige Themen zugänglich zu machen, von denen die geld- und ruhmsüchtige »Hochkultur« unserer Zeit keine Ahnung mehr hat.

Johannes Eichenthal

Information

Olaf Stoy: Atelier für Kunst und Gestaltung. Werkstatt und Galerie. August-Bebel-Straße 2, 01728 Bannewitz
www.olafstoy.de

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