Essay

Journal meiner Reise im Jahre 2014

140709Reise2511

Den 8. Juli reiste ich ab und den 9. Juli ging ich in See, um ich weiß nicht wohin? zu gehen. An Bord fielen mir einige alte Zeitungen aus dem Juni in die Hände. Hier las ich Berichte zum Geburtstag von Jürgen Habermas. Am 16. Juni 2014 beging dieser Philosoph und Soziologe seinen 85. Geburtstag. Er ist einer der herausragenden Wissenschaftler der alten Bundesrepublik. Einerseits kann er auf ein umfangreiches Werk zurückblicken, seine vielleicht bekannteste Arbeit ist die »Theorie kommunikativen Handelns« aus dem Jahre 1981, in der das Ideal eines »herrschaftsfreien Diskurses« für eine lernfähige, demokratische und friedliche Entwicklung des bundesdeutschen Sozialstaates beschworen wird. Andererseits wurden Habermas auch zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen verliehen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in der überregionalen Presse mehrere Artikel zu Ehren des Jubilars erschienen.

140709Reise2517
11. Juli
In den Artikeln wird einerseits mit Superlativen, »weltbekanntester Philosoph der Gegenwart« u.a., nicht gespart. Allein der Wikipedia-Eintrag zu seinem Namen macht 32-Druckseiten aus. Andererseits verwundert es, wenn Alexander Cammann in der Wochenzeitung »Die Zeit« vom 29. Juni seinen Artikel mit »Der Herr der Großdebatten« überschreibt. War es ein Freudscher Verschreiber oder versteckte Demontage? Der Erfinder des »herrschaftsfreien Diskurses« als »Herr« der »Debatten«? Andererseits verwundert es auch, wenn Habermas in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 13. Juni 2014 auf die Frage, ob sich die »Komplexität« seiner Texte und sein Anspruch auf »öffentlichen Vernunftgebrauch« nicht widersprechen, antwortet: »… mein Ehrgeiz, ein breites Publikum zu erreichen, war immer begrenzt.«

140709Reise2474
12. Juli
Was ist hier passiert?
Wir leben nicht mehr in der alten Bundesrepublik. Habermas studierte und wirkte in einer Zeit des entstehenden Sozialstaates. Willy Brandt hatte das geflügelte Wort von »Mehr Demokratie wagen« geprägt. In diesem Zeitgeist entstand das Habermassche Werk. Viele verstanden seinerzeit den Habermasschen Ansatz als Aufforderung, öffentliche Lernprozesse zu thematisieren. Es war schon eine Ironie der Geschichte, dass Habermas gerade in der Zeit der Schröder-Fischer-Regierung zu höchsten Ehren kam, obwohl der Rückbau des Sozialstaates und die Beteiligung am Krieg gegen die Republik Jugoslawien ohne UN-Mandat in deren Amtszeit fiel. Die Eule der Minerva erhebt sich oft erst nach Einbruch der Dämmerung zu ihrem Fluge.
Die heutige Politik hat mit »Lernprozessen« eher wenig im Sinn. Man hat »immer Recht« oder »konnte es nicht wissen«. Rat wird deshalb eher bei »PR-Kosmetikern« gesucht als bei Philosophen-Soziologen. Man muss den Bedeutungsverlust konsta­tieren.

140709Reise2471
14. Juli
Wir wollen an diesem Tage deshalb fragen, was am Werk von Jürgen Habermas in die Zukunft weist. Es geht uns nicht darum Schwachstellen auszumachen oder über diese oder jene Seite des Werkes zu schimpfen, also das, was gemein hin als »Kritik« angesehen wird. Die Frage ist, ob es mindestens einen Punkt gibt, an dem das Werk des »Hegels des bundesdeutschen Sozialstaates« in die Zukunft weist.

140709Reise2475
15. Juli
Im Merkur 430 vom Dezember 1984 veröffentlichte Jürgen Habermas eine Sammelrezension mit der Überschrift »Rückkehr zur Metaphysik?« (Vgl. Habermas, J.: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt 1988/1992, S, 267–279.) Habermas macht deutlich, dass ihm eine Philosophie, die sich auf »Selbstbewusstsein« beschränkt, und die sich als eine Art »erneuerte Metaphysik« darstellt, zu wenig ist. Ausdrücklich nennt er dabei den Namen von Dieter Henrich.
Henrich antwortet in Merkur 10/1985 mit »Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas.« (Dieter Henrich: Konzepte. Frankfurt/Main 1987, S. 11–43) Henrich beharrt weitschweifig auf seiner Vorstellung, dass Philosophie auf Selbstbewusstsein zielen müsse. Das hatte Habermas nicht bestritten, er hatte die Beschränkung auf Selbstbewusstsein bemängelt.

140709Reise2478
16. Juli
Jürgen Habermas, und jetzt kommen wir langsam zu unserer Frage nach dem Weiterführenden, veröffentlichte 1988 eine Artikelsammlung mit dem Titel »Nachmetaphysisches Denken«. Die Frage ist, was Habermas als wesentlichen Aspekt seines »nachmetaphysischen Denkens« hervorhebt: einen Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie.
In diesem Punkt sieht er, neben vielen Gemeinsamkeiten, den entscheiden Dissens zur Auffassung von Dieter Henrich.
Man muss anfügen, dass Habermas diesen »Paradigmenwechsel« mit den Mitteln englischer und amerikanischer analytischer Sprachphilosophie zu realisieren versucht. Die sogenannte »Sprech-Akt-Theorie« erlangt in der »Theorie kommunikativen Handelns« eine zentrale Bedeutung. Das ist nicht verwunderlich: »Meine Generation hat bei den amerikanischen und französischen, manchmal auch den englischen Kollegen nur dadurch Interesse wecken und Anerkennung finden können, dass wir versucht haben, mit analytischen Mitteln die Stärken unserer eigenen Tradition zu erschließen und bei der Bearbeitung des systematischen Probleme aus den Quellen von Kant bis Hegel und Marx zu schöpfen.« (Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 13. Juni 2014)
Diese Begründung reicht aber nicht hin. Dieter Henrich nutzt ebenso diese analytische Gerätschaft, um die »Erfindung des Selbst« aus dem Fichteschen Geist darzustellen.
Im Unterschied zu Dieter Henrich geht Habermas aber davon aus, dass dem Selbstbewusstsein die Interaktion vorausgeht. Die Anerkennung dieser Einsicht ist dem Anschein nach der wesentliche Aspekt dessen, was Habermas Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie nennt.
In diesem Punkt sehen wir die Zukunftswirkung des Habermasschen Werkes.

140709Reise2521
17. Juli
An den philosophischen Schulen im deutschen Sprachraum, die sich auf die Tradition der klassischen deutschen Philosophie stützen, ging der Habermas-Henrich-Diskurs dem Anschein nach folgenlos vorbei. Doch auch das »Paradigma« der »Sprachphilosophie« ist bislang im deutschen Sprachraum kaum erschlossen. Die Sprech-Akt-Theorie ist wohl als Kompensation für die Fehlleistungen der empiristischen Logik zu verstehen. Damit lässt sich eher explizieren als neues Denken zu gewinnen.
Insofern unterschätzt Habermas vielleicht auch die Potenz des deutschsprachigen philosophischen Erbes. Erbeaneignung ist kein einmaliger Akt. Zudem muss man die sichere Laufbahn der eigenen Tradition verlassen können, sich selbst in Frage stellen können, um einen neuen Blick auf die Erbschaft, die ja immer Erbschaft ihrer Zeit ist, erwerben zu können.
Die Ausgangsbedingungen für Habermas waren nicht schlecht. Er ist Mitherausgeber der Suhrkamp Theorie-1-Reihe. Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder wurden in dieser Reihe veröffentlicht. Herder wird in der »Theorie kommunikativen Handelns« zwei Mal zitiert, allerdings nur in völlig nebensächlichen Fragen.
Im »Nachmetaphysischen Denken« zitiert Habermas Wilhelm von Humboldt mit der Aussage: Sprache …, die auch verbindet, indem sie vereinzelt, … und in die Hülle des individuellen Ausdrucks die Möglichkeit allgemeinen Verständnisses einschließt.« (Zitiert nach Habermas, J.: Nachmetaphysisches Denken, S. 202.)
Habermas, im Banne der Sprech-Akt-Theorie,  geht nicht auf die Humboldtsche These ein, sondern merkt nur an, dass Humboldt seine Auffassung nicht »begründet« habe. Doch diese Position äußert und begründet Humboldt nicht nur an der zitierten Stelle. Johann Gottfried Herder, der einige Jahre früher zu dieser Einsicht kommt, entwickelt in der Tradition von Plato bis Leibniz keine »Sprachphilosophie«, sondern gründet seine »Philosophie der Bildung der Welt« darauf, dass Verstand/Vernunft an Sprache gebunden sind, dass es keine Vernunft ohne Sprachbindung geben kann, und dass Verstand/Vernunft/Sprache den innere Zusammenhang unserer Sinneswahrnehmung, unsere Seele, kommunizierbar machen. In diesem Lichte erscheint Sprache nicht nur als Mittel zur Kommunikation, sondern auch als die Sphäre unseres Denkens, unserer Konstituierung als Menschen. Wir können nur denken, was wir auch sprechen können. Die Sprachformen gehen den Denkformen voraus.
Herder, der auch den Ausdruck »Weltmarkt« prägte, hat keinen Grund die »zwecksetzende Vernunft« als »instrumentelle Vernunft« oder »bloß teleologische Vernunft« gering zu schätzen. Außer der »zwecksetzenden Vernunft« gibt es keine menschliche Vernunft. »Bewusstsein« erscheint in diesem Lichte als Moment der zwecksetzenden Vernunft. Selbstverständlich besteht für Herder im Rahmen der zwecksetzenden Vernunft die Möglichkeit, aus den eigenen Fehlern lernen zu können. Und diese Fähigkeit, aus den eigenen Fehlern lernen zu können, macht für ihn den Kern von Vernunft aus. Er muss dafür auch nicht den Ausdruck »kommunikative Vernunft« erfinden. “
Und letztendlich ist für Herder die Vernunft nur eine der beiden »Säulen der Humanität«. Die andere ist der Glaube, im Sinne von existenzieller Hoffnung.
Eine Philosophie der Bildung der Welt muss die Einheit von Einheit und Gegensatz von Vernunft und Glaube erfassen, wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden will.
Eine Beschränkung auf Vernunft, selbst wenn wir sie »kommunikative Vernunft« nennen,  ist zu wenig.
Das wären doch Themen, über die Herr Professor Habermas einmal wieder mit dem Papst i. R., Joseph Kardinal Ratzinger diskutieren könnte. Dieses Mal vielleicht, anders als am 19. Januar 2004 in München, wirklich öffentlich?
»… lasset uns die Metaphysik lassen und praktisch reden.«

Den  18. Juli 2014 ging ich in Nantes an Land.
Johannes Eichenthal

 

Information

Wenigstens die Eingangsreferate der Münchner Diskussion sind veröffentlicht

 

Habermas, J.: Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? (In: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt/Main 2005, S. 106-118)

Kardinal Ratzinger, J.: Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates. (In: Werte in Zeiten des Umbruchs. Freiburg, Basel, Wien 2005, S. 28-40)

 

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