Essay

Zum 300. Geburtstag Christian Fürchtegott Gellerts

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Am 4. Juli 2015 jährte sich der Geburtstag des protestantischen sächsischen Pfarrersohnes Christian Fürchtegott Gellert zum 300. Male. Zum Zeitpunkt seines Todes am 13. Dezember 1769 war seine Popularität so groß, dass der Leipziger Rat den Friedhof wegen völliger Überlastung sperren lassen musste.

Anlässlich seines 300. Geburtstages konnten wir in den Juli-Wochen des Jahres 2015 nur drei Artikel in den Online-Ausgaben großer Tageszeitungen des deutschsprachigen Raumes finden.

Klaus Walther schrieb für die Chemnitzer Freie Presse, Kai Aghte erinnerte in der Mitteldeutschen Zeitung Halle und Manfred Koch brachte Gellert den Lesern der Neuen Zürcher Zeitung nahe. (Weitere Hinweise auf Artikel ergänzen wir dankbar.)

Drei gute Artikel sind selbstverständlich besser als dreihundert schlechte. Allein die Zahl deutet darauf hin, dass Gellert für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur an Bedeutung verloren hat. Hier geht es nicht nur um Vergessenheit, welcher gute Autor wird nicht regelmäßig vergessen und anschließend neu entdeckt? Nein, hier geht es um unsere unliterarische Zeit selbst. Freilich, was heute als »Bestseller« massenhaft gekauft wird, das muss den Bezug auf Gellert scheuen. Aber gibt es wirklich kaum noch Liebhaber der Literatur mit einem Herz für Gellert?

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Wer war Christian Fürchtegott Gellert? Er wurde als neuntes von dreizehn Kindern einer protestantischen Pfarrersfamilie mit »prekärem« Einkommen im sächsischen Hainichen geboren. Dennoch ermöglichten die Eltern, nach einem Stipendiat der Fürstenschule St. Afra in Meißen, ein Studium der Theologie, Philosophie und Literatur an der Landesuniversität Leipzig. In Leipzig studierte Gellert von 1734-38. Wegen finanzieller Probleme musste er 1739 das Studium unterbrechen und eine Stelle als Hofmeister annehmen. Hartnäckig setzte er jedoch 1740/41 sein Studium fort, wurde 1744 mit einer Arbeit über Theorie und Geschichte der Fabel promoviert und habilitierte sich in einer öffentlichen Verteidigung. Aus spärlichen Hinweisen kann man den Einfluss von Martin Opitz und Paul Flemming auf Gellerts Werk erahnen.

Ab 1744 hielt Gellert als Privatdozent Vorlesungen über Poetik, Stilkunde und Moral. 1751 berief man ihn zum außerordentlichen Professor. Seine Vorlesungen erlangten eine ungewöhnlich große Anziehungskraft. Als er 1761 zum ordentlichen Professor berufen werden sollte, lehnte er mit Verweis auf seine angeschlagene Gesundheit ab.

Der kleine, schwächliche Christian Fürchtegott Gellert war ausnehmend höflich, zurückhaltend und uneitel. Mitunter soll er sich mit verdrießlicher Miene getarnt haben, um nicht allzusehr belästigt zu werden.

Die beiden aus unserer Sicht vortrefflichsten Hinführungen zum Werk Gellerts stammen von Karl Wolfgang Becker. Unter dem Titel »Die Fahrt mit der Landkutsche« erschienen im Berliner Buchverlag der Morgen 1985 »Dichtungen – Schriften – Lebenszeugnisse«. Die Gellertschen Fabeln und Erzählungen veröffentlichte vollständig der Reclam Verlag Leipzig im Jahre 1984. Beide Bände sind liebevoll kommentiert, mit Namensregister und Publikationsgeschichte versehen. Leider sind beide Bände heute nur noch antiquarisch zu erhalten, dafür jedoch relativ preiswert.

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Die Wirkung des Werkes? Wenn üppige Zeiten in der Literatur das Seichte hervorbringen, dann ist in schweren Zeiten oft große Literatur entstanden. Gellert lebte unter dem Damoklesschwert des sächsischen Staatsbankrotts, und der Finanzkürzung für die Leipziger Universität, wie der anschließenden Auspressung durch die preußischen Besatzungsmacht. Obwohl Gellert asketisch lebte, hatte er lange Zeit Mühe seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er gehörte aber zu den beliebtesten Autoren seiner Zeit. Seine Geschichten wurden von Königen wie von einfachen Menschen gelesen. Selbst wenn die Lieferung einer Wagenladung Brennholz an Gellert von einem dankbaren bäuerlichen Leser durch die »moderne Wissenschaft« als »Fabel« dekonstruiert wurde, hätte es so gewesen sein können, in einer Zeit, in der noch anspruchsvolle Literatur auf eine dankbare Leserschaft traf.

Nach dem Tode Gellerts gaben enge Freunde Gellerts »Sämtliche Schriften« heraus und begründeten das Idealbild eines deutschen, christlichen Dichters und schrieben ihm die größtmögliche Bedeutung für die deutsche Literatur zu.

Gegen diese Idealisierung traten bereits kurz nach Gellerts Tod einzelne Kritiker auf. Die spätere Missachtung Gellerts in der deutschen Literatur richtet sich dem Anschein nach eher gegen das verklärte Gellert-Bild als gegen dessen wirkliches Werk. Mittlerweile wird das Werk Gellerts von mehreren Deutungsschichten überlagert.

Welches Werk? Gellert verstand sich als ein protestantischer Philosoph und Literat. Er hatte sich eine klassische Bildung der antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Literaturgeschichte angeeignet. Aber er begnügte sich nicht mit einer simplen Fortschreibung der erstarrten Lutherischen Tradition: »Wir müssen es also nicht genug seyn lassen, nur die Alten nachzuahmen; die Natur war ihre Lehrmeisterin und so soll sie auch die unsrige sein!«

Gellert nahm zeitgenössische französische und englische Literaten zur Kenntnis. Er ahmte jedoch auch diese nicht modisch nach, sondern versuchte eigenständig zur Bildung einer deutschen Nationalliteratur beizutragen. Dies tat er mit seinen Erzählungen, Komödien und Dramen. Die größte Wirkung erzielte er aber mit seinen Fabelsammlungen, weil die Fabeln zur »Kinderzeit« des bürgerlichen deutschen Kommunikationszusammenhanges »deutsche Nationalliteratur« passte. Gellert erschloss Fabeln vor allem aus der altdeutschen Überlieferung. Bis dahin unterhielt sich die Machtelite Französisch und die Gelehrtenkreise Lateinisch. Gellert schuf dagegen mit seinen Fabeln vorbildhafte literarische Beispiele der deutschen Sprache. Das Genre Fabel setzte er mit Dichtung gleich, unabhängig von der gewählten Form (Prosa, Lyrik usw.) In der Einleitung seiner Fabelsammlung verwies Gellert auf Fabelsammlungen von Ulrich Boner, Hugo von Trymberg, Freidank, Burkhard Waldis, Heinrich von Alkmar, Johann Fischart, Hans Sachs, Georg Rollenhagen, Nathan Chytraeus u.a. Gellert zitiert und kommentiert in seiner Einleitung einzelne Texte, verzichtet aber auf eine »gelehrte Abhandlung«. Berühmte Leute hätten schon genug darüber geschrieben.

Gellert sah den Sinn der Fabel nicht in einer »Wertevermittlung« oder bloß normativen Ethik. Nein, Gellert betonte immer wieder, dass es in Sachen Vernunft darum gehe, der Natur gemäß zu denken und zu leben, uns in die Ordnung der Natur einzufügen.

Passt diese Verbindung von christlichem Glauben und Vernunft zusammen? Ja, wenn man eine Vorstellung von Vernunft hat, die über das mathematische Denken hinausgeht und wenn man eine Vorstellung von Glauben hat, die über Fixierung auf Bibeltextbuchstaben hinausgeht. Die Gegensätze von Glauben und Vernunft finden dann in der Weisheit ihre Einheit. Beispielhaft steht dafür Gellerts Gedicht »Der Menschenfreund«. Gellerts Vorläufer Paul Flemming, aus einem Pfarrhaus im nahen Hartenstein stammend, deutet diese Traditionslinie an: Selbstbeherrschung und innerer Frieden kann äußeren Frieden hervorbringen.

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Gellert nahm mit der Ablehnung einer normativen Moralfunktion der Fabel eine andere Haltung ein als die Mehrheit der Gelehrten. Die Fähigkeit großen Autoritäten standzuhalten, demonstrierte der Leipziger Dichterprofessor auch ausgerechnet in einer Audienz beim Preußenkönig Friedrich II. im Jahre 1760, während des Siebenjährigen Krieges. Auf die Frage, ob man in bösen Zeiten lebe, antwortete Gellert: »Das werden Ew. Majestät besser bestimmen können als ich. Ich wünsche ruhige Zeiten. Geben Sie uns Frieden, Sir.«

Friedrich II. entgegnete: »Kann ich denn, wenn Dreie gegen Einen sind?«

Gellert antwortet: »Das weiß ich nicht zu beantworten. Wenn ich König wäre, so hätten die Deutschen bald Frieden.«

Friedrich II. fragte ablenkend: »Hat er Lafontaine nachgeahmt?«

Gellert antwortete: »Nein, Sire, ich bin ein Original.«

Im Anschluss forderte der Kriegskönig Gellert auf eine Fabel vorzutragen.

Gellert wählte eine, in der der Kriegsgott Mars von der Bildfläche eines Malers verschwinden muss.

 

Ein kluger Maler in Athen,

Der minder, weil man ihn bezahlte,

Als, weil er Ehre suchte, malte,

Ließ einen Kenner einst den Mars im Bilde sehn,

Und bat sich seine Meinung aus.

Der Kenner sagt ihm frei heraus,

Daß ihm das Bild nicht ganz gefallen wolle,

Und daß es, um recht schön zu sein,

Weiter minder Kunst verraten sollte.

Der Maler wandte vieles ein:

Der Kenner stritt mit ihm aus Gründen,

Und konnt ihn doch nicht überwinden.

Gleich trat ein junger Geck herein,

und nahm das Bild in Augenschein.

»O«, rief er, bei dem ersten Blicke,

»Ihr Götter, welch ein Meisterstücke!

Ach welcher Fuß! O wie geschickt

Sind nicht die Nägel ausgedrückt!

Mars lebt durchaus in diesem Bilde.

Wie viele Kunst, wie viele Pracht,

ist in dem Helm, und in dem Schilde,

Und in der Rüstung angebracht!«

Der Maler ward beschämt gerühret,

Und sah den Kenner kläglich an.

»Nun«, sprach er, »bin ich überführet!

Ihr habt mir nicht zuviel getan!«

Der junge Geck war kaum hinaus:

So strich er seinen Kriegsgott aus.

Wenn deine Schrift dem Kenner nicht gefällt;

So ist es schon ein böses Zeichen;

Doch wenn sie gar des Narren Lob erhält:

So ist es Zeit, sie auszustreichen.

Johann Gottfried Herder, 29 Jahre später als Gellert geboren, setzte dessen Ansatz fort. In seinen späten Zeitschriftenprojekt »Adrastea« widmet Herder der literarischen Gattung Fabel große Aufmerksamkeit: »Die Fabel ist der Grund aller Dichtung«. Interessanterweise zitiert Herder ähnlich altdeutsche Fabelsammlungen wie Gellert. In der Fabel geht es nicht darum von Tieren Moral zu lernen oder einen »allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall anzuwenden«: es geht um die literarische Einsicht, dass die Natur das aufgeschlagene Lehrbuch für unsere Vernunft ist. Herder hebt die Fabel aber auch deshalb heraus, weil der Mensch nicht gern von anderen belehrt und zurechtgewiesen wird, sondern durch Vorhaltung der Sache sich selbst belehrten möchte.

Und wir fügen an: Fabel ist nur ein anderes Wort für Mythos. Alle existenziell bedeutsame mündliche oder schriftliche Überlieferung erfolgte und erfolgt als Fabel oder Mythos.

Diesen Grundzusammenhang vermochte Christian Fürchtegott Gellert dem entstehenden Bildungsbürgertum zu vermitteln. Darin liegt die Unsterblichkeit seines Namens begründet.

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Ist Gellert heute aktuell? Wie andere große Geister war Gellert nie aktuell sondern blickte immer über seine Zeit hinaus. Eine einfache Musealisierung wird seinem Werk deshalb nicht gerecht. In einer Welt der Reduktion von Kultur auf das Spektakel und der massenhaften Verbreitung von Instant-Mythen erscheint die Begegnung mit dem Gellertschen Erbe zunächst nur als Kurzzeit-Event denkbar. Auf den zweiten Blick erkennen wir aber, dass gerade die Erschließung der humanen Fabelwelt für jede neue Kindergeneration als Zugang zur Weltliteratur von größter Bedeutung ist. Die deutsche Muttersprache ist zugleich die unabdingbare Voraussetzung für ein individuelles Denkvermögen und die Erschließung anderer Sprachen. Der muttersprachlich begründete Diskurszusammenhang »Nationalliteratur« ist eine Stufe, eine Schicht unserer Bildung zur Humanität. Weltliteratur und kosmopolitisches Denken ist nur als innerer Zusammenhang zwischen muttersprachlich basierten Diskurszusammenhängen denkbar, nicht als deren Ersatz, weil das Allgemeine nur im Besonderen existiert, nie »rein« als »Universalkultur« oder »reines Weltbürgertum«. Insofern wird das Gellertsche Werk bleibende Bedeutung für unsere Bildung zur Humanität behalten, wenn denn nicht der Weg des Menschen im armen Narzissmus, primitiven Geldreichtumswahn und im Weltbürgerkrieg enden soll.

Johannes Eichenthal

 

Information

Gellert, Christian Fürchtegott: Fabeln und Erzählungen. Hrsg. Karl Wolfgang Becker. Reproduktionen von 6 Radierungen von Dagmar Ranft-Schinke. Reclam-Verlag Leipzig 1984

Gellert, Christian Fürchtegott: Die Fahrt auf der Landkutsche. Dichtungen, Schriften, Lebenszeugnisse. Hrsg. Karl Wolfgang Becker. Buchverlag der Morgen, Berlin 1985

Gellert, Christian Fürchtegott: Werke in 2 Bänden. Hrsg. Gottfried Honnefelder. Insel-Verlag Frankfurt/Main 1979

Gellert, Christian Fürchtegott: Gellerts sämmtliche Schriften (10 Teile). Hrsg. J. A. Schlegel und G. L. Heyer. Leipzig 1769-1774. (Reprint G. Olms Verlag Hildesheim 1968)

http://www.freiepresse.de/KULTUR/Die-Menschenwelt-im-Tierreich-artikel9238237.php

http://www.mz-web.de/kultur/christian-fuerchtegott-gellert-ein-fabelhafter-aufklaerer,20642198,31124244.html

http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/vorschule-der-empfindsamkeit-1.18573951

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