»Ankommen in der deutschen Lebenswelt. Migranten-Enkulturation und regionale Resilienz in der Einen Welt.«
Das war das Motto einer öffentliche Buchvorstellung mit Bundestagspräsidentin a.D. Rita Süssmuth und Olaf Zimmermann, dem Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, am 6. Oktober 2016, im Berliner Café Einstein.
Prof. Dr. Matthias Theodor Vogt, Leiter des Institutes für kulturelle Infrastruktur Sachsen in Görlitz, formulierte in seinem Beitrag prägnant die Ergebnisse der vorgelegten Studie und öffnete sie damit zur Diskussion.
Von links: Matthias Theodor Vogt, Rita Süssmuth, Olaf Zimmermann am 6. Oktober 2016 in Berlin. (© Photo: Laura Proft)
Wir geben diese Ansprache von Matthias Theodor Vogt im Wortlaut wieder:
Verehrte Frau Süssmuth, lieber Herr Zimmermann, seien Sie herzlich bedankt für Ihre freundlichen Worte und Ihre Anerkennung unserer Arbeiten!
Mesdames Monsieur représentants les Ambassadeurs Français, Slovaque, Hongrois et Finnois respectivement, Herr Staatsminister, verehrter Herr Meyer, sehr geehrte Vertreter der Bundes- und der Landesregierungen, lieber Herr Verlagsleiter Schaber,
Meine Damen und Herren!
Ich danke – auch im Namen meines Hauptmitarbeiters Erik Fritzsche, meines geschätzten Kollegen Anton Sterbling und des weiteren Teams – ich danke für Ihr Kommen, und für
– Ihr Interesse an regionaler Resilienz in der Einen Welt,
– Ihr Interesse an einer glückenden Enkulturation von Migranten und Hiesigen,
– Ihr Interesse an einem Ankommen beider in der gesamtdeutschen Lebenswelt!
Ich komme zum Schluß.
Damit meine ich jetzt nicht die protokollarische Reihenfolge, die mich als letzten der heutigen Redner sprechen läßt. Ich meine die Schlußpassagen unserer Studie. Da Ihnen kaum daran gelegen sein dürfte, mich jetzt 526 Seiten einschl. 870 Fußnoten vortragen zu lassen, will ich mich auf die Quintessenz der Studie konzentrieren. Auf – quint im Wortsinn – die fünf konkreten Handlungsvorschläge am Ende des Bandes.
Handlungsvorschlag I: Vorstellungswelten der Aufnahmegesellschaft »Innovation und Integration«
Der erste Handlungsvorschlag heißt »Innovation und Integration«. Er zielt auf einen ganz neuen Typus von Kulturpolitik, auf eine von den Bürgern selbst und dezentral auf der gesamten Landesfläche getragene Landesausstellung. Sie könnte den Kern eines sowohl lokalen wie digitalen Landesmuseums darstellen.
Der Handlungsvorschlag geht davon aus, daß einem wichtigen Teil der deutschen Aufnahmegesellschaft, zumal der sächsischen, eine aus freien Stücken erfolgende Willkommenskultur derzeit innerlich nicht möglich ist. Wenn man alle diffusen Ängste, die derzeit von Populisten so trefflich ausgeschlachtet werden, zunächst einmal wegläßt, ist der Kern dieser innerlichen Unfähigkeit ein radikal falsches Geschichtsbild. Hier wird – sozusagen neunundneunzig Abendländer gegen einen Migranten – ein Sachsen verteidigt, das es nie gegeben hat, heute nicht gibt und niemals geben wird.
Punkt eins ist, daß es keinen Sachsen gibt, der nicht entweder selbst aus dem Elend (das ist der mittelalterliche Begriff für Ausland) in die vor 1200 Jahren noch menschenleeren Gebieten an Elbe, Pleiße oder Neiße gezogen ist oder der von entsprechenden Vorfahren abstammt. Alle Sachsen sind Immigranten, aus einer der acht Windrichtungen.
Punkt zwei ist, daß dieses Territorium sich in ständigem Fluß befand und befindet.
Wenn Sie aber versuchen, einen Fluß aufzustauen, dann wird er binnen kurzem zur Kloake.
Punkt drei ist, daß die Integrationsbemühungen der später Kommenden dasjenige wesentlich ausgelöst haben, was die Sachsen fischelant | frz. vigilant nennen, eine geradezu landestypische Innovations-Inklination.
Punkt vier ist, daß Innovationen einer spezifischen Disposition bedürfen; einer, ich zitiere Andreas Eichler, der dies im Zwickauer Raum untersucht hat, »Ermutigung der Menschen zur Kultur der Selbständigkeit«.
Eine Kulturpolitik mit einer solcher Zweckstellung ist das Gegenteil einer sozialistischen Kulturpolitik. Brauchen wir dies? Brauchen wir, Herr Masopust, ein Orchester in der letzten Kreisstadt? Ich sage, und ich sage dies in bewußtem Gegensatz zu den Tendenzen, die Infrastruktur flächendeckend veröden zu lassen: Ich sage, gerade jenseits der Großstädte brauchen wir die geistigen Voraussetzungen für Selbständigkeit! Denn sonst implodiert die Republik. Und genau dies können wir gerade beobachten. In Frankreich, in der Slowakei, in Ungarn, in Deutschland. Der Brexit wurde in der Peripherie entschieden, aus dem – objektiv richtigen – Gefühl einer Hintanstellung. Marine Le Pen triumphiert im zentrumsfernen Roussilon. Auf Usedom haben teils 42 Prozent der Wähler ohne Migrationshintergrund die für das Funktionieren des Systems notwendige Zustimmung aufgekündigt.
Es wird aber teuer, wenn die Bevölkerung nicht in ihrer Gesamtheit zu Grundkonsensen, Verbindungen, Zusammenhalt, ja Loyalität zurückfinden kann. Die Bundesrepublik lebt, wie jede Demokratie, aus der Bejahung des Systems durch jeden Einzelnen an jedem Ort und seinen Willen, aktiv an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse mitzuarbeiten.
Deren Kernstrukturen sind dabei nicht einmal teuer. Während 1870 Rechtspflege und Gewaltmonopol knapp 10 % des Bruttoinlandsprodukts in Anspruch nahmen, liegen heute – aufgrund einer hochentwickelten Normen-Verinnerlichung der deutschen Bevölkerung – die Kosten für Parlamente, Justiz, öffentliche Sicherheit und Ordnung, Verteidigung, Finanzverwaltung sowie das privatwirtschaftliche Anwalts- und Notarsystem bei etwas über 3,5 % des BIP.
Einem neuen Weg für die Konsensstiftung kommt eine größere Bedeutung als je zuvor seit der Wiedervereinigung. Es hatte schon seinen guten Grund, daß Louis XIV. bei seiner Gründung der Académie française als Ziel angab, »en reformant le luxe«. Luxus im Barock meinte aber etwas ganz anderes als ‚Luxus‘ heute. Es gilt zu konstatieren, daß Sprache wie bei Ludwig XIV. oder allgemeiner die Kultur heute das Gegenteil von Luxus ist, sie spiegeln die Essenz unseres Gemeinwesens wider. Sie sind kein nice-to-have, sie sind das must-be par excellence. Am stärksten in der sogenannten Peripherie, in der 70% der Deutschen wohnen und sich je länger desto stärker als Bürger zweiter und dritter Klasse fühlen. Es gibt auch die Gefahr eines internen Brexit.
In einem auf bloßen Verfassungspatriotismus gegründeten Staat spielt – dies ist die große These unserer Studie – die (vertikale) Beziehung des Menschen zum Raum keine wesentliche Rolle mehr. Es ergibt sich jene gefühlte Lücke, die die Dresdner ‚Spaziergänger‘ und so viele andere lautstark beklagen, aber nicht zu fassen wissen. Nur auf (horizontale) Gleichheit zu setzen, ist in einer Demokratie zu wenig.
Entfremdung des medialen Mainstreams von einem wichtigen Teil der Leserschaft können Sie erkennen, um nur ein Beispiel zu nennen, an der falschen Markteinschätzung von gleich 24 Verlagen, die Robert Schneiders Debütroman »Schlafes Bruder« abgelehnt hatten und der in der Zwischenzeit in 36 Sprachen vorliegt. Die baden-württembergischen Grünen haben es 2016 in ihrem Wahlprogramm verstanden, gerade in den urbanen Zentren das »gedachte Dorf« zu vermitteln. Es gibt also Ansätze auch in der Politik, dem Vertikalen wieder seine Rolle als notwendigem Pendant zum Horizontalen zu geben.
Zurück nach Sachsen. Vor drei Tagen, am 3. Oktober, standen den 400 Wutbürgern 450.000 friedliche Besucher gegenüber. Das Medienbild trügt: Wut wurde nur durch einen von Tausend artikuliert. Es gibt auch hier eine starke und nun gezielt zu stärkende Zivilgesellschaft.
In praktisch allen Gemeinden Sachsens lassen sich Belege für »Innovation und Integration« finden. Wenn man etwa Schüler, historisch Interessierte oder auch Heimatvereine über einen bewußtseins- und diskursprägenden Zeitraum hinweg danach forschen ließe, käme ein imponierendes Bündel zusammen. Eben eine Landesausstellung auf einem neuen, ‹von unten› operierenden und dezentralen Format: »Innovation und Integration – 1.200 Jahre sächsische Erfolgsgeschichte«. So ließe sich Binnen-Integration anpacken, bei den Vorstellungswelten der Aufnahmegesellschaft.
Handlungsvorschlag II: Vorstellungswelten der Migranten, Bundesfreiwilligendienst Integration
Meine Damen und Herren, Staaten haben im physischen Sinn keine materielle Realität. Es gibt auch keine allgemein akzeptierte Staatsdefinition, nur hilfsweise wird (noch immer) auf die Dreiheit von Staatsvolk – Staatsgebiet – Staatsgewalt zurückgegriffen. Faktisch handelt es sich um eine abstrakt-immaterielle, solidarische Rechtsgemeinschaft. Die jeweilige Rechtsgemeinschaft ist eine im geistigen Raum zu verortende interpersonale Konvention und letztlich abhängig davon, ob und inwieweit die Bevölkerung des betreffenden Territoriums, deren Normen entweder notgedrungen akzeptiert oder als handlungsleitende internalisiert und intergenerativ weitergibt.
Rossini wußte, wie man eine solche Internalisierung in Szene setzt. Es war Rossini, der Sie eingangs unserer heutigen Buchvorstellung erfreute oder vielleicht auch ein wenig erschreckte. Sie alle kennen vermutlich den Schweizer Triumph am Ende der Tell-Ouvertüre, aber es gibt am anfang auch ein wunderbares Cellostück und dann das Gewitter, das wir Ihnen vorgespielt haben.
Ein solches Gewitter ist 2015 über Ungarn gezogen. Es war in einer verzweifelten Lage, als sich im Spätsommer Zentausende auf dem Ostbahnhof Keleti pályaudvar stauten und das Land ins Chaos zu stürzen drohten. In Deutschland brannten da bereits Flüchtlingsunterkünfte. Dies wiederum löste eine breite bürgerliche Gegenreaktion aus, eine Willkommenskultur, die, bald drei Generationen nach dem Ende der NS-Diktatur, das Außenbild der Republik endlich nachhaltig entbräunte. Wie Herfried und Marina Münkler zu recht festhalten, war diese breite bürgerliche Gegenreaktion gegen das Brennen von Flüchtlingsunterkünften die Grundvoraussetzung für Angela Merkel, nicht die bereits bereitstehenden Bundeswehrsoldaten zur Sicherung der Grenzen loszuschicken, sondern dem Gebot der Barmherzigkeit zu folgen, die deutschen Grenzen zu öffnen und damit Ungarn zu entlasten.
Nun sind sie da, der Rechtsstaat geriet an die Grenzen der gewohnten Standards. Ob nun 1,1 Mio. oder 890.000 Menschen zu uns gekommen sind, ist dabei weniger erheblich. Daß der Staat nicht alles ist, ist selten so deutlich geworden wie in den letzten zwölf Monaten. Ohne die Unzähligen, die sich mit Zivilcourage, mit Sachverstand, mit Erbarmen in Vereinen, Kirchen und Kommunen der Migranten angenommen haben, wäre der Staat nicht so billig weggekommen, wie er mit rund 1 % der öffentlichen Mittel tatsächlich weggekommen ist. Wir alle, wir alle zusammen, sind Deutschland. Der Staat ist nur einer der vielen Akteure und höchstens der Zweitwichtigste, nach denjenigen Bürgern, die ihre citoyenneté auch praktizieren.
Im Gewitter der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 ist aber auch – mit Ibsens Greger Werle aus der Wildente zu reden – eine große Lebenslüge der Bundesrepublik deutlich geworden. Der Glaube nämlich, wenn man die Augen nur fest genug zumache und gar nichts sich ändere, dann werden die Renten schon sicher sein und unser Wohlstand auf ewige Zeiten immer nur weiterwachsen. Hier sitzt die Vorsitzende der Integrations-Kommission Zuwanderung gestalten – Integration fördern, Rita Süssmuth, die 2001 ein Einwanderungsgesetz für die mehr als drängenden Arbeitsmarkt- und Sozialversicherungsprobleme forderte. Ihr wurde daraufhin parteischädigendes Verhalten vorgeworfen. Die Rechnung, die Frau Nahles diese Woche aufgemacht hat, ist keine Gleichung mit vier Unbekannten. Zu wenig Kinder. Steigende Lebenserwartung. Lange Ausbildungszeiten. Kaum Interesse an Berufen ohne Studium bei grassierender Abstraktionsphobie. Alle Größen sind hinreichend bekannt, um Adenauers Kommentar zur Rentenformel als historisch widerlegt zu erkennen. Er sagte: Kinder kriegen se immer. Heute gibt es in 83 % der Berliner Haushalte keine minderjährigen Kinder. Ohne Migrantenkinder hätte Berlin kaum eine Zukunft. (Der in aktuellen Debatten oft zu hörende Begriff postmigrantisch ist auch insofern absurd, als jeder Migrationsakt eine physische und eine psychische Kompenente hat. Und das Geschehen in unseren Seelen läßt sich zu Lebzeiten niemals abschließen.)
Wenn aber Menschen zu uns kommen, die nicht bloß befristet als Schutzsuchende kommen – Art. 16 a Grundgesetz legt bekanntlich keinerlei Obergrenzen fest –, sondern die sich auf den mühsamen Weg einer Selbstintegration in unsere Rechtsgemeinschaft begeben wollen, dann müssen wir erstens abschließend festhalten, daß befristeter Schutz und Selbstintegration ethisch, rechtlich und politisch zwei völlig unterschiedliche Gebiete sind.
Integration kann nicht unterstellt werden, es ist ein pro-aktiver Prozeß. Zweitens brauchen sowohl Migranten wie Aufnahmegesellschaft gangbare Wege für eine Selbstintegration, die den anthroplogischen Grundgegebenheiten beider Seiten nicht widerspricht.
Als eine Art Vorstufe für eine langfristige und selbstbestimmte Integration haben wir als zweiten Handlungsvorschlag einen Bundesfreiwilligendienst Integration konzipiert, der vom Menschen und dessen anthropologischen Möglichkeiten und Begrenzungen ausgeht. Nennen Sie es ein nulltes Lehrjahr für eine anschließende Berufsausbildung. Kern sind die Vorstellungswelten der Migranten.
Der Dienst läßt sich ganz einfach beschreiben: von morgens bis mittags Eingliederung in einen Betrieb.
Nachmittags aber keine trockene Staatsbürgerkunde, sondern eine Erfahrung der deutschen Lebenswirklichkeit durch aktive Beobachtung des Rollenverhaltens als Frau und Mann, Polizist und Verkehrssünder, Jugendlicher und Alter etc. etc. verbunden mit der angeleiteten Möglichkeit, die sinnlich wahrgenommenen Erfahrungen in Rollenspiele umzusetzen und sich wiederum sinnlich und darauf aufbauend auch kognitiv zu eigen zu machen. Deutsch-Unterricht einmal ganz anders. Deutsch ist zunächst einmal eine Sprache. In ihr – und ausschließlich in ihr – werden jene Wertvorstellungen aufbewahrt, die das Zusammenleben in der deutschen Alltagswelt konstituieren und es zu Deutschland machen. Übersetzungen helfen da nicht weiter, die der Sprache zugrundeliegenden Wertmuster müssen sinnlich vermittelt erlebt und verinnerlicht werden. Hierin, und dies ist der Kern von kultureller Bildung, liegt der Bedarf für den Enkulturationsansatz.
Den Bundesfreiwilligendienst Integration wollen wir ergänzen durch die aktive Mitwirkung in einer gemeinnützigen Einrichtung, vorzugsweise bei der Freiwilligen Feuerwehr, die durch einen früheren Bundesverteidigungsminister fränkischer Herkunft ganz nebenbei in ihrer Existenz geschädigt wurde. Und natürlich in einem Sportverein.
Sie sehen: ein solcher Bundesfreiwilligendienst Integration würde ein ganzheitliches Ankommen des Migranten in der deutschen Lebenswelt ermöglichen. Natürlich haben wir das Ganze durchgerechnet; es wird Sie nicht verblüffen, daß ein solcher Bundesfreiwilligendienst Bund, Länder und Sozialversicherungen durchaus weniger kosten würde als die derzeitige Praxis.
Nicht nur am Rande darf ich darauf verweisen, daß diese mit der Würde, die auch der Migrant grundgesetzlich ohne Einschränkung beanspruchen darf, schwer kompatibel ist.
Handlungsempfehlung III: Eckpunkte für die Diskussion einer sächsischen Staatsbürgerschaft
Meine Damen und Herren, ich will Ihre Zeit nicht überbeanspruchen. Deshalb nur ganz kurz zum dritten Handlungsvorschlag. Er ist der mit Abstand komplexteste. Es gibt in der ganzen, an Rechtskundigen doch eher reichen Republik nur einen Juristen, der hier vorgearbeitet hat, Karl Thedieck. Er wurde im Frühjahr 1989 mit summa cum laude promoviert. Dann kam die Wiedervereinigung und das Problem schien erledigt. Schien!
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland war ursprünglich als »Provisorium« für ein örtliches, temporales und personales »Staatsfragment« in einer denkbar schwierigen Phase deutscher Staatlichkeit konzipiert. Vorangegangen war die Expansion des NS-Staates mit ihrer Ideologie militärpolitisch prinzipiell unbestimmter Grenzen, ihrem Ewigkeitsanspruch, und ihrer Doppelung von Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit.
In seiner – eine ganze Theorie des »Staatsfragments« entfaltenden – Grundsatzrede vor dem Parlamentarischen Rat sprach Carlo Schmid am 8. September 1948 explizit von einem »räumliche[n] Offensein«, das »nicht durch sich selber ausgeschlossen« sei. Ich kann die Implikationen aus diesem »Offensein« hier nicht weiter ausführen. Ich will nur an einen Schweizer Grundsatz erinnern: der Bürger muß die Gesetze auch verstehen können, um sie befolgen zu können. Verfassungspatriotismus setzt eine hochgradige Abstraktionskompetenz voraus, zynisch gesagt: Abitur oder besser noch den Doktortitel. Was aber machen die anderen, also die Mehrheit unserer Republik, Menschen wohlgemerkt genau gleichen Rechts? Symbole bleiben per se leer, wenn sich nicht zuvor eine Deckung ergeben hat zwischen einem abstrakten Gebilde und einer auch ohne Abstraktionskompetenz vorstellbaren Größe.
Bis zu einem folgenschweren Eingriff der Nationalsozialisten beruhte Staatsangehörigkeit auf der unmittelbaren Eigenstaatlichkeit der Länder und der nur mittelbaren Eigenstaatlichkeit des Reiches. 1934 bestimmte die Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit vom 5. Februar 1934: »§ 1. (1) Die Staatsangehörigkeit in den Ländern fällt fort. (2) Es gibt nur noch eine deutsche Staatsangehörigkeit (Reichsangehörigkeit).« Was im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz der absolute Ausnahmefall war, die Reichsangehörigkeit der Elsaß-Deutschen und der Deutschen in den Schutzgebieten (Kolonien), beides war seit Versailles 1919 ohnehin nichtig geworden, das wurde hier unter dem irreführenden Rubrum »Staatsangehörigkeit (Reichsangehörigkeit)« zum Normalfall erklärt. Der bisherige Normalfall wurde ersatzlos gestrichen. Das ist kein coup d’état (Staatstreich), sondern ein Koupieren von Staaten (und wurde 1952 von der DDR kopiert). Die Lage von 1934 ist aber auch die Lage von 2016.
Dies ist der Hintergrund, warum es in Deutschland keine Legaldefinition des Staatsbürgers gibt. Man kann sich in einem ausgesprochen lächerlich zu nennenden Vorgang einbürgern lassen. Aber wohin man eingebürgert wird, das bleibt unbestimmt.
Bert Brecht sagte, das Volk sei nicht tümlich. Mit unserem Handlungsvorschlag III wollen wir in aller Behutsamkeit anregen, über eine Leerstelle zu diskutieren, die nichts mit den Flüchtlingen zu tun hat, aber durch die sogenannte Flüchtlingskrise offen zutage getreten ist.
Eine abstrakt-immaterielle, solidarische Rechtsgemeinschaft bedarf ihrer Verortung im Raum, sonst wird sie zum Opfer spätethnischer Abgrenzungspopulisten und Diffamierungsdemagogen.
Handlungsempfehlung IV: Erarbeitung eines komplexeren Zugangs zu Integrationsfragen und zur interkulturellen Öffnung
Meine Damen und Herren, EU-Forschungskommissar Carlos Moedas fordert »real solutions« für »real problems«. Was wäre dem hinzuzufügen?
Unsere vierte Handlungsempfehlung konstatiert, daß es dringend eines komplexeren Zugangs zu Integrationsfragen und zur interkulturellen Öffnung bedarf. Unsere bescheidene Studie kann nur der Anfang sein.
Handlungsempfehlung V: Hilfe zu leisten für den Aufbau einer gemeinwohlverantwortlichen Zivilgesellschaft in den Ländern des globalen Süden durch Gründung einer »Eine-Welt-Universität«
Meine Damen und Herren, ich habe eingangs versprochen zum Schluß zu kommen. Jetzt (wie Sie merken, nur wenige Minuten später) will ich mein Versprechen auch einlösen.
Die Bundesrepublik bedarf der »defences of peace«, wie die (übrigens als Organization for Reconstruction konzipierte) UNESCO in ihrer Präambel fordert. Sie bedarf der »defences of peace« nicht nur in ihrem Inneren, sondern gerade auch im Außenverhältnis. West und Nord, Süd und Ost – sie kann nur im Einklang mit ihren nahen Nachbarn und den weiteren Ländern der Welt in Richtung Frieden und Wohlfahrt steuern. Einzelne Deutsche leisten schon jetzt mit rund 500 Mio. Euro bzw. schätzungsweise 14 % des gesamten Spendenaufkommens Erhebliches für den globalen Süden. Es freut mich, daß unsere heutige Veranstaltung auch das Interesse des katholischen und des evangelischen Berlins gefunden hat. Erstens haben die beiden Kirchen am Spendenaufkommen einen entscheidenden Anteil. Zweitens haben sie vor Ort durchaus andere Zugänge als eine Regierung, die sich (seit der Regelung von Zwischenstaaatlichkeit in Münster-Osnabrück 1648) immer erst an die jeweilige und oft genug korrupte Regierung wenden muß. Drittens bringt etwa Luxemburg seit 2000 die von ihm völkerrechtlich zugesagte Official Development Assistance in Höhe von 0,7 % des Nationaleinkommens sehr wohl auf. Die Bundesrepublik dagegen erreicht mit derzeit 0,4 % kaum mehr als die Hälfte ihrer 1970 (!) übernommenen Verpflichtung.
Wer über Migration redet, muß auch über die Push-Faktoren sprechen, die die Migranten zu uns getrieben haben und leider wohl weiter treiben können. Jeder Cent für eine Verringerung der Push-Faktor ist eine Investition auch in unsere europäische Zukunft!
Was ist der zentrale Push-Faktor in den Ländern des Globalen Südens? Es ist das Fehlen von Zivilgesellschaft, von citoyenneté, von einer Ermutigung der Menschen zur Kultur der Selbständigkeit.
Wir schlagen deshalb die Gründung »Eine-Welt-Universität« vor. Ihre wirtschaftswissenschaftliche Fakultät sollte in Lehre und Forschung die spezifischen Bedingungen zivilgesellschaftlicher Betriebs- und Volkswirtschaft in den Ländern des Globalen Südens untersuchen. Die für Deutschland gültigen Modelle lassen sich nicht einzueins übertragen. Ihre staatswissenschaftliche Fakultät die entsprechenden Ordnungsstrukturen. Die kulturwissenschaftliche die für Ordnung notwendigen Sinnstrukturen. Die geowissenschaftliche Fakultät spezifische Bezüge zwischen Menschen und seinem Raum.
(Für die Akademiker unter ihnen sei kurz angemerkt, daß die Zukunftscharta der Bundesregierung das Notwendige hierbei aufzeigt: Sozialethik, Komplexitätsreduktionskompetenz, Alteritäts- und Alienitätskompetenz, Ambiguitätskompetenz jenseits binärer Schwarz-Weiß-Logik sowie Kenntnisse der kulturellen und religiösen Vielfalt unserer Welt. Es gilt der Satz aus dieser Studie: Ohne kulturelle Kompetenz keine interkulturelle Kompetenz.)
Mesdames Monsieur représentants les Ambassadeurs Français, Slovaque, Hongrois et Finnois respectivement, – diminuer ce qui repousse les réfugiants en dehors de leur pays d’origine – n‘y aurait-il pas un intérêt commun pour les pays européens? Läge es nicht im gemeinsamen Interesse nicht nur Europas, sondern der europäischen Länder selbst, nachhaltig zu einer Verringerung der Push-Faktoren in den Herkunftsländern der Flüchtlingsströme beizutragen?
Meine Damen und Herren,
Die Flüchtlinge des Jahres 2015/16 haben uns auf wichtige Probleme im Inneren Deutschlands und Europas aufmerksam gemacht. Dafür sollten wir ihnen dankbar sein und sie als Menschen ganzheitlich annehmen. In der ganzen Ernsthaftigkeit der Sinnfragen, zu der uns im Sinne Schillers und Kästners die Kunst Zugang bietet. Wer sich von Ängsten leiten läßt, riskiert seine eigene Zukunft. Daher ist der Schlußsatz unsere Studie ein Wort aus der Osternacht: Sursum corda, empor die Herzen!
Ich danke Ihnen, wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und uns jetzt gemeinsam eine ebensolche Diskussion!
Information
Matthias Theodor Vogt, Erik Fritzsche, Christoph Meißelbach. Mit Beiträgen von Siegfried Deinege, Werner J. Patzelt, Anton Sterbling und zahlreichen Verantwortungsträgern in Wirtschaft, Politik und Kultur.
Geleitwort von Rita Süßmuth und Nachwort von Olaf Zimmermann.
Ankommen in der deutschen Lebenswelt.
Migranten-Enkulturation und regionale Resilienz in der Einen Welt.
Europäisches Journal für Minderheitenfragen Vol. 9 No. 1-2 2016
Berliner Wissenschafts-Verlag 2016, 526 S., 72 s/w Abb., 1 farb. Abb., kart.
ISBN: 978-3-8305-3716-8, 78,10 €
E-Book-PDF: ISBN: 978-3-8305-2975-0, 78,10 €,
ISSN Print: 1865-1089, ISSN Online: 1865-1097
Weitere Informationen unter http://kultur.org/forschungen/merr/.
Eine Vorschau mit Auszügenaus der Studie finden Sie unter http://kultur.org/wordpress/wp-content/uploads/Vogt_Ankommen_Auszug-Kulturrat_EJM-2016.pdf