Rezension

EINE ZEITREISE DURCHS HERZLAND DER DICHTER UND DENKER

Sehr geehrte Damen und Herren, nachfolgend veröffentlichen wir als Gastbeitrag eine Rezension von Wolfgang Möhrig-Marothi.

Johannes Eichenthal

Daß Literatur- und Philosophiegeschichte keineswegs eine staubtrockene Angelegenheit, von Interesse lediglich für Fachleute, ist, hat das Autoren- und Verlegerehepaar Andreas und Birgit Eicher mit dem soeben erschienen reichillustrierten Buch »Von den Minnesängern bis Herder«, dem 1. Teil eines großangelegten – »Sprache und Eigensinn« betitelten – Werks, Frucht einer mehr als zehnjährigen Arbeit, unter Beweis gestellt.


Rückenansicht des Buches

Der 320 Seiten umfassende Band im Format 23 × 23 cm lädt »zu einer ‹Wanderung›, einer Entdeckungsreise durch 800 Jahre mitteldeutscher Literaturlandschaft ein« (S. 10), und zwar anhand von »22 Persönlichkeiten mit besonderer sprachlicher Eigenart, um den individuellen Zugang zur Gesamtgeschichte zu erleichtern« (S. 11).
Diese und weitere namhafte Gestalten der deutschen Geistesgeschichte führt das »Personenlexikon 12. Jahrhundert bis Herder« (S. 298–319) am Schluß des Buches in einer kurzgefaßten Übersicht nochmals auf; aber auch hier mußten sich beide Autoren in Anbetracht der enormen Fülle des Stoffes Selbstbeschränkung auferlegen (Daher konnten Persönlichkeiten wie etwa Eike von Repkow, der im frühen 13. Jahrhundert auf der Harzburg Falkenstein den »Sachsenspiegel« verfaßte, oder Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, der 1727 die Herrnhuter Brüdergemeinde stiftetet, keine Berücksichtigung mehr finden.).


Denkmal für Herzog Ernst von Sachsen-Gotha und Altenburg vor dem Gothaer Schloss Friedenstein

Die chronologisch angeordnete »Wanderung« beginnt mit den berühmten mittelhochdeutschen Dichtern Heinrich von Veldeke, Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide, die sich zeitweise am Hof (Neuenburg, Wartburg) des Literaturmäzens Hermann I., Landgrafen von Thüringen und Pfalzgrafen von Sachsen, aufhielten. Dieser Fürst »baute die Wartburg zum, neben Wien, bedeutendsten Literaturzentrum des deutschen König- und Kaiserreichs aus« (S. 298). – Anschließend werden die Mystikerin Mechthild von Magdeburg, die Autorin des ersten philosophisch-literarischen Traktats in deutscher Sprache, und Meister Eckhart, der bedeutendste deutsche Mystiker des Mittelalters (er wirkte unter anderem in Erfurt), vorgestellt. – Es folgen der Wittenberger Reformator Martin Luther und sein spiritualistisch-revolutionärer Kontrahent Thomas Müntzer, gebürtig aus Stolberg im Harz.

In Görlitz, am Ufer der Neiße, in dem roten Haus, etwas links von der Bildmitte, lebte Jakob Böhme.

– Auch die beiden Hauptvertreter der protestantischen Mystik, der Zschopauer Pfarrer Valentin Weigel, und der Görlitzer Schuster Jakob Böhme, der »Philosophus teutonicus«, sowie der am Weimarer und Köthener Hof tätige Philosoph und Bildungsreformer Wolfgang Ratke und der aus Hartenstein stammende große Barocklyriker Paul Fleming werden porträtiert.

Stadtplan von Görlitz, dem Wohnort Jakob Böhmes

– Nicht fehlen dürfen selbstverständlich die frühen Aufklärungsphilosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, ein Universalgenie aus Leipzig, und Christian Thomasius, der Begründer der deutschsprachigen Universität. – Auch Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, der vielseitig gebildete Erfinder des europäischen Hartporzellans, erfährt eine Würdigung. – Und das musikalische Genie Johann Sebastian Bach wird speziell in seiner literarischen Bedeutung, d.h. als Musik­epiker, gewürdigt. – Im Anschluß daran werden dargestellt: Caroline Neuber aus dem vogtländischen Reichenbach, die Begründerin des deutschen Theaters; der aus der Bitterfelder Gegend stammende Romacier Johann Gottfried Schnabel, Verfasser der berühmtesten deutschen Auswanderer-Fata »Insel Felsenburg«; der geniale Johann Joachim Winckelmann, Begründer der Klassischen Archäologie und Kunstgeschichte, aus Stendal; und der mit dem Letztgenannten befreundete Chemnitzer Christian Gottlob Heyne, verdienstvoll durch sein Wirken als Wissenschaftsorganisator an der Göttinger Universität.


Den Abschluß und gewissermaßen die Krönung des (vorliegenden ersten Teils des) Werks bilden die Porträts der beiden Klassiker Lessing und Herder, wobei letzterer die besondere Wertschätzung des Textautors (Andreas Eichler) genießt, welches sich auch darin zeigt, daß das jenem Weimarer Klassiker gewidmete Kapitel das umfangreichste des ganzen Buches ist. (Andreas Eichler stand übrigens lange mit Günter Arnold ‹1943–2017› im Briefwechsel, der von Wilhelm Dobbek die Aufgabe des Herausgebers des Projekts »Johann Gottfried Herder. Briefe.« übernahm und von 1977 bis 2016 18 Bände veröffentlichte.). »Mit der Zusammenführung unterschiedlicher geistiger Strömungen erweiterte Herder unsere literarische Tradition durch Neuerschließung des Erbes in bis dahin ungekanntem Maße.« (S. 295
Das – noch der Vollendung (d.h. Fortsetzung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ) harrende – Eichlersche Opus magnum zeichnet sich durch Allgemeinverständlichkeit und didaktisch gelungene Materialdarbietung aus. Es liefert vom jeweiligen Autor zunächst die Vita, informiert dann über verfügbare Werkausgaben, bringt anschließend Auszüge aus einem repräsentativen Text des Autors und kommentiert ihn, um endlich unter dem Titel »Was bleibt?« ein Resümee über die geistesgeschichtliche Relevanz der porträtierten Persönlichkeit zu bieten. Die in den Text eingeflochtenen zahlreichen (annähernd 200!) Farbillustrationen (Bildnisse von Personen; Ansichten von Denkmälern, Bauwerken, Städten und Landschaften) wie auch die zur touristischen Orientierung beigefügten ganzseitigen Stadtübersichten (Kartenausschnitte mit Hervorhebung textrelevanter Gebäude) machen die Lektüre zu einem multimedialen, quasi ganzheitlichen Geschichtserlebnis, das zu weiterer individueller Erschließung des ungemein reichen kulturellen Überlieferungsgutes des mitteldeutschen Raumes, also hauptsächlich der jetzigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, anregt. Man darf gespannt sein auf den in Aussicht gestellten Folgeband von Sprache und Eigensinn.

Wolfgang Möhrig-Marothi, Kottenheide im Vogtland

Information
In allen Buchhandlungen oder direkt beim Verlag erhältlich
Andreas Eichler: Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn. Teil 1. 23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche Abbildungen
VP 29,90 €
ISBN 978-3-96063-025-8

www.mironde.com

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Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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