Rezension

DAS LÄCHELN DER ANNA SEGHERS

Achim Roscher, langjähriger Redakteur der Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur«, veröffentlichte 2019 Gespräche mit der Schriftstellerin, Mitglied der Akademie der Künste und ehemaligen Präsidentin des deutschen Schriftstellerverbandes Anna Seghers. Deren Roman »Das siebte Kreuz«, der 1942 in deutscher Sprache in Mexiko und in englischer Sprache in den USA erschien, gehört zu ihren meistübersetzten Büchern. Eine erste Verfilmung erfolgte 1944 in den USA. 

Unter dem Titel »Das Lächeln der Anna Seghers« führt Roscher, der 1932 im sächsischen Limbach geboren wurde, den Leser in die Begegnung mit der Autorin ein. Roscher gehörte 1952 zu den Gründungsmitgliedern der Zeitschrift des Schriftstellerverbandes »Neue Deutsche Literatur« (NDL). Die erste Begegnung zwischen der im Jahre 1900 als Netty Reiling in Mainz geborenen Schriftstellerin und obersten Dienstherrin der Redaktion, erfolgt im Treppenhaus, weil Seghers kein Vertrauen in den Paternoster hat. Mit diesem Bild wird die Begegnung zweier Generationen deutlich. Hier die eher konservative, lebenserfahrene, promovierte Kunsthistorikerin und weltbekannte Schriftstellerin, da der junge Redakteur. Beide sind auf Verständigung zwischen den Generationen aus. Roscher beschreibt Seghers als wachen Geist. Mit Besonnenheit versucht sie die Erfahrungen ihrer Exilgeneration zu bewahren und gleichzeitig für neue Anregungen offen zu sein. Diese schwierige Verbindung von Gegensätzen, die nicht allen Exilanten gelang, gehört zu ihren großen Stärken. Nach der Lektüre eines Artikels von Rolf Recknagel in der Neuen Deutschen Literatur über die Identität des Schriftstellers, der das Pseudonym »Bernhard Traven« benutzte, fragt sie Roscher am 3. April 1961 (S. 27f.) nach Recknagels Adresse. Sie wolle ihm rasend gerne schreiben. Recknagel sei mit der Vermutung, dass es sich um den Schriftsteller Ret Marut handele, auf der richtigen Spur. Man müsse ihn unterstützen. Sie drängt darauf, dass die NDL-Ausgabe mit Recknagels Artikel zu einem Preisausschreiben des Magazins »Life« in die USA geschickt wird. Obwohl die westliche Forschung erst Jahrzehnte später zu Recknagels Entdeckung aufschließen konnte, wurde der Beitrag in den USA nicht berücksichtigt. Aber Seghers wollte es wenigstens versuchen. Mit dieser Episode macht Roscher vielleicht eine Lebenshaltung der Autorin deutlich.

Am 6. Mai 1973 fragt Roscher sie nach der Zukunft des Romans im beginnenden Fernsehzeitalter. Seghers fragt ironisch zurück, ob die Menschen sich etwa ihre Kulturansprüche von diesem Fernsehgerät diktieren lassen wollten. Roscher antwortet, dass Arnold Zweig 1955 in NDL unter dem Titel »Der Roman lebt« auf Harold Nicolsons skeptische Prognose im Londoner »Observer« geantwortet habe. Viele Jahre später habe er Zweig einmal gefragt, ob er Nicolson immer noch so vehement widersprechen würde. Zweig habe geantwortet: Naja, leben wird der Roman schon, aber sicherlich immer weniger gut, so wie auch die, die Romane schreiben.

Seghers habe nachdenklich geantwortet: Da kann er recht haben. (S. 64)

Am 17. Januar 1983 findet das letzte Gespräch zwischen Seghers und Roscher statt. (S. 144) Roscher beendet mit einem wichtigen Teil dieses Gespräches auch seine Einführung auf Seite 24: »Bei einem späteren Besuch, meinem letzten, sagte sie unvermittelt, nachdem sie lange nachgesonnen hatte. Duuu, jetzt passmal acht … Dann erzählte sie stockend und hüstelnd von einem sonderbaren Begebnis mit einem Brief von Heinrich Heine. Ich hatte ihn gerahmt an der Wand ihres Arbeitszimmers gesehen, mir aber versagt, nach seiner Herkunft und seinem Inhalt zu fragen. Ich ahnte wohl um die symbolische Bedeutung des Dokuments. Von Heine an seine Mutter, sagte Anna mit leiser, heiserer Stimme und sah mich mit großen Augen aus tiefen Höhlen an. Was hatte sie zu diesem Hinweis bewogen, da ich nach dem Brief garnicht gefragt hatte? Ich wußte, dass es ihr nicht gelungen war, ihre Mutter vor Deportation und Tod zu retten. Bewegte sie nun die Rettung des Briefs? So blieb ich eine Weile neben ihr sitzen, sagte nichts und fragte nichts. Als sie die Augen lange geschlossen hielt und ich ihre ruhigen Atemzüge vernahm, erhob ich mich leise. Da griff sie nach meinem Arm und drehte mir fragend das Gesicht zu. Ich komm wieder, sagte ich und ahnte doch, dass es ein Versprechen bleiben würde.« 

In seiner Einführung fügt Roscher dem Gesprächstext von Seite 144 folgende Passage an: »Von der Türe aus sah ich, dass sich eine Strähne ihres weißen Haares über ihr furchiges Antlitz gelegt hatte, auf dem – schmerzlicher Widerspruch – ein Lächeln stehen geblieben war. Das Lächeln einer jungen Frau.« 

Anna Seghers starb wenige Monate später, am 1. Juni 1983. 

Achim Roscher legte mit seinem Buch, dem neben Einführung und Gesprächen auch eine kleine Auswahl von Briefen beigefügt ist, eine liebevolle und kluge Hinführung zu Seghers Werk vor. Seine Sprache ist einfühlend und präzise. Ab und zu lässt er uns über ein Wort oder einen Satz stolpern, den er in Seghers hessischer Mundart wiedergibt. Er regt uns dazu an, wieder einmal ein Buch von Anna Seghers zu lesen.

Johannes Eichenthal

Information

Anna Seghers, Achim Roscher: Mit einer Flügeltür ins Freie fliegen. Gespräche. Verlag Neues Leben. Berlin 2019, 186 Seiten, Lesebändchen, zahlreiche Abbildungen, Fotos und Faksimiles

ISBN 978-3-355-01884-5

www.eulenspiegel.com

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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