Für den 8 . Juli hatte der Bücherliebhaber Dieter Lehnhardt, er ist auch Mitherausgeber des Büchersammlerbuches »Haben Sie das alles gelesen?«, zu einer Lesung von Guntram Vesper, dem Träger des Leipziger Literaturpreises von 2016, nach Hüttenberg-Reiskirchen eingeladen. Am Nachmittag warteten bereits die Stühle auf Lesende und Gäste.
Selbst das preisgekrönte Buch »Frohburg« lag schon bereit für die Lesung.
Der 8. Juli war ein sehr heißer Sommertag. Das macht durstig. Familie Lehnhardt und ihre Freunde hatten für diesen Fall Vorsorge getroffen.
Dieter Lehnhardt begrüßte vor dem Publikum Guntram Vesper und Moderator Hans-Christoph Buch, der dem Publikum den Schriftsteller Vesper vorstellte. Guntram Vesper (Jahrgang 1941) war mit seinen Eltern 1957 von Frohburg bei Leipzig nach Reiskirchen bei Gießen übergesiedelt und betätigte sich seit seiner Jugend schriftstellerisch. Die Bekanntschaft von Buch und Vesper geht auf die legendären »Gruppe 47« zurück. Am Ende meinte Buch, dass man mit 70 die Kindheitserinnerungen bearbeite, denn »die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden könne«.
Guntram Vesper las im Anschluss mit ruhiger und verständlicher Stimme einige Seiten vom Anfang seines mehr als 1000-Seitigen und 1027 Gramm schweren Erinnerungs-Buches »Frohburg«. Im Gespräch mit Hans-Christoph Buch hatte Vesper hervorgehoben, dass der Text 3,4 Mio Anschläge umfasse.
Das Publikum hörte an diesem Sommerabend konzentriert zu. Der Text erforderte auch große Aufmerksamkeit. Es gibt keine Kapitelstruktur o.ä. Zudem verzichtet der Autor auf ein, dem interessierten Leser entgegenkommendes, lineares Erzählen. Wie in einem Film wechseln beständig »szenenartige« Darstellungen. Der Autor stellte uns unablässig neue Details vor, wie er seine eigenen Erinnerungen immer wieder erweiterte, ergänzte und weiterführte.
Die titelgebende Stadt »Frohburg« ist der Ausgangspunkt dieser umfangreichen Erzählung, die in ihren Hauptteilen ausgeweitet wird auf Sachsen, Böhmen, Thüringen, den Uranbergbau im Erzgebirge, tausende Namen, Jahreszahlen, Einschätzungen und Wertungen. Man konnte angesichts der gigantischen Erzählung glauben, der Autor schreibe seine Erinnerungen ohne jede Zielstellung nieder. Doch am Ende des Buches taucht plötzlich die Erklärung auf: »Was für ein Bild die Nachwelt von uns hat, hängt von vielen Umständen ab. Vielleicht haben wir Glück und kommen mit unserem Doppelgesicht und unseren Gemeinheiten durch, und man redet hauptsächlich gut über uns. Vielleicht haben wir aber auch Pech, und gerade unsere Unzulänglichkeiten stehen im Vordergrund und bekommen das Gewicht von Niedrigkeiten und Schlimmeren.« (S. 1002)
Wir können den Autor trösten. Nachdem sein Manuskript als Buch veröffentlicht wurde, geht es nur noch um den Text. Selbstbewusste Literaturrezeption orientiert sich nicht am Lebenslauf, an der politischen Meinung, an der moralischen Gesinnung, nicht am »Bild« des Autors, sondern allein am Text.
Das Publikum in Hüttenberg-Reiskirchen dankte dem Autor für seine Lesung mit herzlichem Beifall. Man konnte das Buch an einem Bücherstand erwerben. Der Erlös des Verkaufes geht, wie im vergangenen Jahr, als Spende an eine gemeinnützige Einrichtung.
Guntram Vesper signierte noch lange Bücher und nutzte die Gelegenheit mit seinen Lesern ins Gespräch zu kommen.
Guntram Vesper, Hans-Christoph Buch, dem Publikum, der Familie Lehnhardt und ihren Freunden ist für diesen schönen Sommerabend in einzigartiger Atmosphäre zu danken. Der aufgehende Vollmond erleuchtete den Garten, in dem das Publlikum noch bis Mitternacht über Literatur und Leben diskutierte.
Kommentar
Das kleine Hüttenberg-Reiskirchen hat sich in den letzten Jahren durch engagierte Literaturveranstaltungen einen Namen gemacht. Man muss nicht in eine Metropole fahren, um Literatur und Natur genießen zu können. Dieter Lehnhardt demonstriert zudem, dass ein Büchersammler und Mitglied der traditionsreichen Goethe- und anderer literarischer Gesellschaften nicht an der Vergangenheit klebt sondern zukunftsorientiert ist.
In diesem Lichte erscheint auch das Zitat »Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann« als unzureichend. Schon Johann Gottfried Herder fragte, ob man überhaupt von »Vertreibung« reden könne. Man müsse doch stutzig werden, wenn man wegen Klugheit »vertrieben« worden sein soll. Eher seien Eva und Adam in die Selbständigkeit aufgebrochen.
Er-Innerung (Georg Friedrich Wilhelm Hegel) ist ein Nach-Innen-Gehen um sich wesentlich Ent-Äußern zu können. Insofern geht es hier nicht um »Gedächtnis-Archivierung« in einem »resistenten, kulturellen Schlaraffenland«. Erinnerung macht Sinn, wenn sie unsere Selbständigkeit und Resilienz heute für die Zukunft begründen kann. Oder nicht?
Clara Schwarzenwald
Information
Gundram Vesper: Frohburg. Roman. Schöffling-Verlag. Frankfurt 2016.
1002 Seiten, 34,90 € ISBN 978-3-89561-633-4
Von Mitherausgeber Dieter Lehnhardt ist noch lieferbar:
Klaus Walther/Dieter Lehnhardt: Haben Sie das alles gelesen?
Ein Buch für Leser und Sammler.
366 Seiten, 12,5 × 21,5 cm, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen,
zahlreiche farbige Fotos, VP 29,90 Euro, ISBN 978-3-937654-80-5
In allen Buchhandlungen oder direkt beim Verlag www.mironde.com