Heinrich Melchior Mühlenberg wurde am 6. September 1711 in Einbeck geboren, studierte in Göttingen Theologie und wurde 1739 an die Franckeschen Stiftungen nach Halle vermittelt. 1741 entsandte Gotthilf August Francke Mühlenberg als Prediger nach Pennsylvania. Mühlenberg gilt heute als Gründervater (Patriarch) des amerikanischen Luthertums.
Professor Eberhard Görner wird nicht müde bei seinen zahlreichen Buch- und Filmvorstellungen den Wiederaufbau der Franckeschen Stiftungen, der seit den 1990er Jahren in einer gigantischen Baustelle vor sich geht, zusammen mit der Dresdener Frauenkirche und der Zisterzienserinnen Abtei in Waldsassen als die Leuchttürme der deutschen Wiedervereinigung zu bezeichnen.
Im Jahre 2011 wird in den Franckeschen Stiftungen des 300. Geburtstages von Pfarrer Heinrich Melchior Mühlenberg gedacht. Vom 25.–27. März 2011 gab es eine Tagung, in deren Rahmen Eberhard Görner auch sein neues Mühlenberg-Buch vorstellte. Am 1. Mai 2011 wurde in Halle eine Wanderausstellung zu Leben und Werk Mühlenbergs eröffnet: »Freiheit, Fortschritt und Verheißung. Blickwechsel zwischen Europa und Nordamerika seit der frühen Neuzeit«. Nach Halle wurde sie bisher in Göttingen, Erfurt, Berlin, Wittenberg, Eisleben und Großhennersdorf gezeigt. Momentan ist sie in Einbck zu sehen. Es folgen noch Clausthal-Zellenfeld und Hannover. Die Ausstellung, die unter der Schirmherrschaft des Auswärtigen Amtes und des Außenministerium s der USA steht, wurde ab Ende März in Minnesota gezeigt, danach in St. Louis/Missouri, Atlanta, Washington und Orlando. Vom 6. September bis 16. Oktober wird sie in Philadelphia am Lutheran Theological Seminary, das sich in der nachfolge Mühlenbergs sieht und mit den Franckeschen Stiftungen kooperiert, zu sehen sein.
Wir geben im Anschlus den Abendvortrag von Generalkonsul a.D. Dr. Hans Jürgen Wendler in den Franckeschen Stiftungen am 24. August 2011 wieder.
Foto: Das Hauptgebäude der Franckeschen Stiftungen (Aufnahme aus dem Vorjahr) von Baustellen umgeben,
Einer von vielen – Mühlenberg und die deutschen Spuren in den USA
In dem internationalen Fachsymposion anlässlich des 300. Geburtstages von Heinrich Melchior Mühlenberg (1711–1787), das heute hier begonnen hat, beschäftigen wir uns in erster Linie mit den politischen, sozialen, kulturellen oder religiösen Verhältnissen auf beiden Seiten des Atlantiks im vorrevolutionären und im revolutionären 18. Jahrhundert. Heute Abend möchte ich diese Perspektive etwas erweitern und einige der Spuren nachzeichnen, die nicht nur Mühlenberg und seine Familie, sondern auch die deutschen Einwanderer, die ihm vorausgingen, und die, die ihm folgten, in drei Jahrhunderten in den heutigen USA gezogen haben. Ich werde dabei auch auf die Bedingungen eingehen, die die Deutschen zur Auswanderung aus ihrer alten Heimat veranlassten, sowie auf die, die sie in ihrer neuen Heimat vorfanden. Die Integration und Transformation der deutschen Auswanderer in ihrer neuen Heimat ist daher ein Hauptthema meines Vortrags.
Die organisierte deutsche Auswanderung nach Nordamerika begann am 6. Oktober 1683. An jenem Tag landeten an Bord der Concord nach langer Seereise dreizehn Krefelder Familien – insgesamt 33 Personen – im Hafen von Philadelphia. Sie waren ihrem Führer, dem Rechtsgelehrten und Pietisten Franz Daniel Pastorius (1651–1719), nach Pennsylvania gefolgt, um dort ein neues Leben aufzubauen. Die Kolonie William Penns war zwei Jahre zuvor als letzte britische Eigentümerkolonie gegründet worden, hatte 1682 eine Charter of Liberties erhalten, die weitgehende Religionsfreiheit garantierte – vorzugsweise für Quäker und andere Protestanten –, und versprach allen neuen Kolonisten die großzügige Vergabe von Ackerland. Damit war sie ein bevorzugtes Ziel für deutsche Auswanderer aus protestantischen Landen. Heute wird der 6. Oktober übrigens von allen Deutschamerikanern gefeiert, sei es in Form der Steubenparade wie in New York oder in Form von Oktoberfesten wie in den meisten anderen Landesteilen, in denen Deutsche siedeln. Präsident Reagan hat ihn 1983, zum 300. Jahrestag der deutschen Einwanderung, zum German-American Day proklamiert.
Die Krefelder zogen zwei Reitstunden nördlich von Philadelphia in ein Gebiet, in dem sie die erste deutsche Siedlung, »Germantown«, gründeten. Germantown ist heute ein Stadtteil von Philadelphia und zeigt nur noch wenig deutsche Spuren, doch wuchs es damals rasch aus einem »Armentown«, wie es zunächst noch genannt wurde, zu einem bedeutenden wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum heran. Zahlreiche Siedler folgten, und selbst Präsident George Washington zog 110 Jahre später dorthin, als 1793 in Philadelphia, seinem Amtssitz, eine Gelbfieberepidemie ausbrach und das gesündere Klima des höher gelegenen Germantown besseren Schutz vor einer Ansteckung versprach.
Die sogenannten Pennsylvania-Deutschen, die Pastorius und den Krefeldern folgten und sich rings um Germantown niederließen, gehörten vielfältigen protestantischen Gruppen an: Mennoniten und Quäkern, Lutheranern und Reformierten, auch Hugenotten und Amischen.
Viele kamen aus der Pfalz, so dass sich das Pfälzische zu dem Pennsylvania Dutch entwickelte, das zum Teil noch heute gesprochen wird. Als ich vor einigen Jahren in dem pennsylvanischen Dorf mit dem schönen Namen Paradise mit den Amischen sprach, konnten wir uns durchaus noch gut verständigen. Zu den Pfälzern kamen die sogenannten Schwenckfeldianer aus Schlesien, Angehörige freikirchlicher Gemeinden, die nach der Lehre des Kaspar Schwenckfeld lebten, sowie Gruppen, die urchristlichen Vorstellungen anhingen, und schließlich die Herrnhuter Brüder, die in Pennsylvania 1740 Nazareth und 1741 Bethlehem gründeten.
In diese Welt verschiedenster, häufig miteinander rivalisierender protestantischer Strömungen, unterschiedlichster Pietismen und vielfältiger religiöser Erfahrungen entsandten die Franckeschen Stiftungen, damals noch als Glauchasche Anstalten bekannt, 1742 den jungen Pfarrer Heinrich Melchior Mühlenberg. Damals siedelten bereits etwa 40.000 Deutsche in Pennsylvania, die annähernd vierzig Prozent der pennsylvanischen Bevölkerung ausmachten. Regelmäßig kamen neue Schiffe voll mit deutschen Einwanderern aus allen britischen Häfen hinzu. Die Schiffslisten, die seit 1727 regelmäßig in Philadelphia geführt wurden, belegen, dass in Spitzenzeiten fast jede Woche ein neues Schiff in den Hafen segelte. Sofern sich die Neuankömmlinge nicht in Philadelphia oder Germantown niederließen, siedelten sie zersplittert in großer Einsamkeit und häufig in bitterer Armut. Etwa die Hälfte der Neueinwanderer des 18. Jahrhunderts kamen als sogenannte Redemptioner (von to redeem, sich loskaufen). Wie Leibeigene waren sie gezwungen, bei einem Dienstherrn so lange zu arbeiten, bis sie ihre Passagekosten verdient hatten und sich damit loskaufen konnten. Erst danach erhielten sie Land zur eigenen Bearbeitung.
Mühlenberg stieß 1742 auf eine Kolonie, deren Oberschicht hauptsächlich aus Quäkern bestand, in der die Masse der Kolonisten allerdings anderen Konfessionen anhing und in der Regel arm war. Unabhängig vom Staat konnte jedoch jeder nach Glückseligkeit und seinem Seelenheil streben. Mühlenberg, gewohnt an das lutherische Staatskirchentum in Deutschland, bemühte sich anfangs, preußische Ordnung in das kirchliche Leben zu bringen und es in die in Deutschland üblichen lutherische Bahnen zu lenken, doch lernte er schnell, fern der Heimat und unter ganz anderen Bedingungen – man kann durchaus sagen, unter Wild-West Bedingungen – pragmatisch vorzugehen. Dass es ihm und seinen Nachfolgern schließlich gelang, ein Kirchenwesen von unten nach oben aufzubauen, selbständige, körperschaftlich organisierte deutsch-lutherische Gemeinden zu schaffen und sie überregional zu konsolidieren, ist sicher eine große Leistung. Damit war ein gut funktionierendes kulturelles und religiöses Netz für weitere deutsche Einwanderer geknüpft.
Insgesamt waren bis zu Mühlenbergs Tod, bzw. bis zur Gründung der USA, etwa 100.000 Deutsche in die britischen Kolonien am Atlantik ausgewandert. Zusammen mit ihren Familien stellten sie in der Revolutionszeit etwa 225.000 Personen, d.h. zwischen acht und neun Prozent der etwa drei Millionen europäischen Siedler. Allein in Pennsylvania machten sie allerdings mehr als ein Drittel aus. Was bewegte so viele Deutsche im späten 17. und während des 18. Jahrhunderts zur Auswanderung nach Amerika?
In der Migrationsforschung unterscheiden die Historiker zwischen Push-Faktoren, das heißt dem Auswanderungsdruck im Herkunftsland, und Pull-Faktoren, dem Einwanderungssog des Ziellandes. Zu den Push-Faktoren im Deutschland des Heiligen Römischen Reiches zählten vor allem Gewissensgründe infolge religiöser Unterdrückung. Seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 war das sogenannte ius reformandi, das Recht, die Religionszugehörigkeit der Untertanen zu bestimmen, nach dem Grundsatz des cuius regio, eius religio geregelt. Das bedeutete, dass der Landesherr die Religion seines Landes bestimmen konnte. Untertanen, die einen Religionswechsel vor ihrem Gewissen nicht verantworten wollten, hatten nur das ius emigrandi, das Recht auszuwandern. Ursprünglich galten diese Grundsätze lediglich für Lutheraner und die ihnen Gleichgestellten, doch seit dem Westfälischen Frieden von 1648 wurden sie auch auf Reformierte ausgedehnt, das heißt auf Täufer, Zwinglianer, Calvinisten und ähnliche Gruppen.
Die Folge dieser Regelungen waren nicht nur Religionsverschiebungen im Heiligen Römischen Reich, sondern auch massive Auswanderungen ganzer Gruppen, sei es nach Ost- und Südosteuropa oder sei es nach Übersee in die Neue Welt. In bezug auf Nordamerika nahm diese Emigration in der Regel die Form von Gruppenwanderungen an, das heißt von relativ homogenen religiösen Gruppen, die von Geistlichen oder Adligen über den Atlantik in die neue Welt geführt wurden. Gemeinsam ließen sich diese Gruppen dann in Gebieten nieder, in denen schon Glaubensverwandte siedelten. Pfälzer Protestanten flohen so vor drohender Rekatholisierung, besonders 1708/1709 und erneut 1727, und siedelten gemeinsam in Pennsylvania. Salzburger Protestanten flohen 1734 vor ihrem katholischen Fürsterzbischof und siedelten in Georgia. Pietisten wie die Herrnhuter Brüder emigrierten zwar auch, um der Gängelung durch die Staatskirche zu entgehen, vor allem aber, um zu missionieren. .
Foto: Die Franckeschen Stiftungen haben die Ausmaße eines Stadtteiles von Halle. An vielen Punkten sind Rekonstruktionarbeiten im Gange.
Ein zweiter wesentlicher Push-Faktor war die wirtschaftliche und soziale Not vieler Familien. Sie führte dazu, dass sich zahlreiche Familienväter als Redemptioner verdingten, um ihr Glück in Übersee zu versuchen. Es wird geschätzt, dass etwa 50.000 bis 60.000 Deutsche auf diese Weise im 18. Jahrhundert nach Amerika gelangten. Das Redemptioner-System ist häufig als weiße Sklaverei denunziert worden, doch hatte es auch Vorteile. Es ermöglichte armen Menschen eine freie Passage nach Amerika, bot die Chance, sich dort in einer Übergangszeit ohne Existenzsorgen mit der neuen Umwelt vertraut zu machen, die englische Sprache und neue Arbeitsmethoden zu erlernen und sich auf eine spätere eigenständige Tätigkeit vorzubereiten. Insgesamt dürfte das System soziale Mobilität eher gefördert als gehemmt haben.
Doch warum gingen so viele Deutsche ausgerechnet nach Amerika, d.h. auf die beschwerliche, wochenlange Reise in eine überseeische ungewisse Zukunft? Häufig wohl deshalb, weil den europäischen Push-Faktoren in Amerika genau die entsprechenden Pull-Faktoren gegenüberstanden. Statt religiöser Unterdrückung lockte die Freiheit des Bekenntnisses. Gegenüber staatlicher Gängelung in der alten Welt verhieß die neue Welt politische Freiheit und individuelle Selbstbestimmung. Anstelle von Not und Armut versprach Amerika das better life, eine höhere Lebensqualität als daheim. Kurz: es lockte die eingängige Alliteration, die der Begleitkatalog zur Ausstellung im Titel führt: Freiheit, Fortschritt und Verheißung.
Die Werbe- und Propagandaschriften der europäischen Kolonialmächte, der von ihnen begünstigten Handelskompanien oder der privilegierten privaten Eigentümer verbreiteten die frohe Botschaft eines besseren Lebens in Amerika überall im protestantischen Europa. Sie rühmten das Klima, die Bodenverhältnisse und die Ertragsfähigkeit des Ackerlandes in der neuen Welt. Im Ausstellungskatalog wird William Penn mit dem Lob der »Feuchtigkeit und Gesundheit des Landes und der Lufft« zitiert, und Daniel Pastorius mit einer Beschreibung des Ackerlandes, das »mit weiten Flüssen und Brunnenquellen« durchzogen und »zu vielen Edlen Früchten sehr bequem sey.« Ein besseres Leben, mehr Freiheit und ein ungehindertes Streben nach Glückseligkeit, das heißt vor allem Eigentum, gehörten zu den attraktivsten Verheißungen des neuen Kontinents.
Eine besondere Herausforderung für die frühen Siedler, aber auch eine neue Chance, bildete der amerikanische Unabhängigkeitskrieg von 1775 bis 1783. Deutsche kämpften auf beiden Seiten, z.B. der ehemals preußische Baron Friedrich Wilhelm von Steuben (1730–1794) als General auf Seiten der Kontinentalarmee Washingtons und der junge August Wilhelm Gneisenau (1760–1831) auf Seiten der Briten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der eine zum Drillmeister des amerikanischen Heeres und der andere zum preußischen Heeresreformer aufstieg. Mit den Briten sympathisierten auch viele deutsche Lutheraner. Der Zwiespalt des im Kurfürstentum Hannover geborenen Heinrich Melchior Mühlenbergs, ob seine Loyalität zuerst dem britischen König Georg III. aus dem Hause Hannover zu gelten habe, unter dem er zum britischen Staatsbürger naturalisiert worden war, oder seiner lutherischen Gemeinde, einschließlich seiner Kinder, auf dem revolutionären Weg zu einem neuen Staat, legt ein beredtes Zeugnis für den Gewissenskonflikt seiner Landsleute ab.
Einen interessanten Sonderfall bildeten die britischen Subsidienregimenter, mit denen bis zu 30.000 deutsche Söldner, davon etwa 17.000 aus Hessen und Braunschweig, in die britischen Kolonien kamen. Sie kämpften für die Loyalisten, die bei England verbleiben wollten, blieben nach dem Krieg aber vielfach in den neu gegründeten USA. Mit der Ratifizierung der amerikanischen Verfassung im Jahre 1789 wurden sie wie praktisch alle deutschen Siedler vorbehaltlos loyale Amerikaner, die aktiv an der Gestaltung des neuen Staates mitwirkten.
Exemplarische Beispiele für die Anpassung an die neuen Verhältnisse und die Transformation der deutschen Siedler sind die drei Söhne Mühlenbergs, Johann Peter Gabriel (1746–1807), Friedrich August Conrad (1750–1801) und Gotthilf Heinrich Ernst (1753–1815). Mühlenberg schickte alle drei noch vor der amerikanischen Revolution nach Halle, um an den Glauchaschen Anstalten eine deutsche Schule zu besuchen. Nach ihrer Rückkehr wurden sie jedoch schnell amerikanische Patrioten und machten in dem neuen Staat allesamt bemerkenswerte geistliche, militärische, politische oder wissenschaftliche Karrieren.
Johann Peter Gabriel wurde im Unabhängigkeitskrieg wie Steuben zunächst General der Kontinentalarmee und danach Mitglied des Repräsentantenhauses und des Senats. Friedrich August Conrad wurde zunächst Pfarrer in Philadelphia, anschließend Mitglied des Kontinentalkongresses und schließlich – von 1789 bis 1815 – Mitglied des Repräsentantenhauses und dessen erster Sprecher. Vielen Amerikanern ist er heute noch bekannt als Erstunterzeichner der Bill of Rights. Gotthilf Heinrich Ernst, der in Halle nicht nur zur Schule gegangen war, sondern hier auch Theologie studiert hatte, wurde wie sein Bruder Pfarrer in Pennsylvania, um dann erster Präsident des Franklin College in Lancaster zu werden. Er machte sich einen Namen als einer der bedeutendsten Biologen der frühen USA.
Solch erfolgreiche deutsch-amerikanische Karrieren waren natürlich auch starkem Anpassungsdruck geschuldet. Schon Benjamin Franklin, mit dem Vater Mühlenberg ernsthafte Dispute über die Loyalität der Pennsylvania-Deutschen hatte, fragte 1751 sorgenvoll: »warum sollten die pfälzischen Bauern, die in unsere Siedlungen schwärmen und durch ihr Zusammensiedeln ihre Sprache und ihre Sitten bis zum Ausschluss von unseren etablieren dürfen? Warum sollte das von Engländern gegründete Pennsylvania eine Kolonie von Ausländern werden, die in Kürze so zahlreich sein werden, dass sie uns germanisieren, statt dass wir sie anglifizieren …?« Mühlenberg versuchte, ihn zu beschwichtigen, indem er eine deutsch-lutherische und englisch-anglikanische Koalition schuf, die Franklin gegen die pazifistischen Bestrebungen der Quäkerpartei unterstützte, doch Franklin blieb skeptisch hinsichtlich der Bereitschaft der Deutschen, sich in Amerika zu integrieren und für die Unabhängigkeit des Landes einzutreten. Erst die Teilnahme der Söhne und vieler anderer deutscher Pennsylvanier am Unabhängigkeitskrieg auf Seiten der Amerikaner sowie deren aktive Mitwirkung an der politischen Ausgestaltung der neu gegründeten Union räumte seine Zweifel aus.
Rekonstruiertes Wohnhaus des Stiftungsgründers Hermann August Francke
Was beim Übergang von deutschen Kolonisten zu amerikanischen Staatsbürgern allerdings immer mehr auf der Strecke blieb, war die deutsche Sprache. Schon Mühlenberg hatte 1759 in einem Brief an Gotthilf August Francke und dessen Londoner Repräsentanten Friedrich Michael Ziegenhagen empfohlen, zweisprachige Prediger zu entsenden oder die aus Halle nach Amerika geschickten zumindest vorher in London Englisch lernen zu lassen. »Denn ich kann nicht verbergen,« merkte er an, »dass die englische Sprache neben der deutschen immer nötiger wird, und ein Mann das hiesige Klima physisch und moralisch eher gewohnt wird, wenn er eine Zeit lang in der Altenglischen Luft und in der Cur des Herrn Hofprediger Ziegenhagen gewesen ist …« Mühlenbergs Söhne, die zunächst alle Pfarrer wurden, forderten – häufig im Einklang mit anderen lutherischen Pfarrern – noch vehementer, dass neben Deutsch auch Englisch gepredigt werde oder nur noch englische Gottesdienste angeboten würden. Sie fürchteten, dass der Glaube der Voreltern verloren ginge, wenn das Luthertum nicht in englischer Sprache weitergegeben würde und verwiesen dabei auch auf das Beispiel Martin Luthers selbst. Luther habe die Bibel ins Deutsche übersetzt und die deutsche Sprache in den Gottesdienst eingeführt, da das Kirchenvolk nur so das Wort Gottes verstehe.
Die Folge war, dass die deutsche Sprache zumindest bei den Lutheranern, anders als beispielsweise bei den Amischen, mehr und mehr preisgegeben wurde. Um den Glauben der Väter weiterzutragen, wurde deren Sprache geopfert. Historiker haben mit Recht darauf hingewiesen, dass damit eine Neugewichtung im Identitätsgefüge der Deutschen einherging. Die Identität der nachrevolutionären Deutschamerikaner war nicht mehr an die Sprache geknüpft, sondern viel mehr an Herkunft und Tradition. Das lutherische Bekenntnis konnte damit sowohl ein wichtiger Pfeiler deutscher kultureller Identität bleiben als auch der neuen amerikanischen Identität werden.
Welche Spuren ihres Schaffens haben die deutschen Einwanderer des 18. Jahrhunderts hinterlassen? Neben der Etablierung ihres protestantischen Glaubens vor allem die damit zusammenhängenden Leistungen: den Kirchen- und Orgelbau sowie ihre Bibeln, Andachts- und Liederbücher. Besonders die Tradition des Orgelbaus wirkt bis heute weiter. Ende Oktober 2011 wird beispielsweise in der Evangelischen Kirche zum Heiligen Kreuz in Berlin ein großes internationales Symposion abgehalten über »Amerika und Deutschland – Partnerschaft im Orgelbau«. Die vielfältigen wechselseitigen Einflüsse werden dabei intensiv erörtert werden.
Eng verbunden mit dem Wirken deutscher Protestanten und Pietisten ist die Schärfung der Gewissen und der Gelehrsamkeit. So erschien der erste öffentliche Protest gegen die Sklaverei bereits 1688 in Germantown auf einer der regelmäßigen Versammlungen deutscher Quäker. Höchstwahrscheinlich war Pastorius selbst der Autor des von ihnen veröffentlichten englischsprachigen Dokuments. Zeugnis des besonders auf Bildung und Erziehung gerichteten Wirkens deutscher Lutheraner und Pietisten ist vor allem das Franklin College in Lancaster, Pennsylvania, das gemeinsam von deutschen Lutheranern und Reformierten mit Unterstützung englischer Konfessionen getragen wurde. Dessen erster Präsident wurde Mühlenbergs dritter Sohn. Es existiert auch heute noch als Franklin & Marshall College. Auch das 1848 gegründete Muhlenberg College, das heute mit der Evangelical Lutheran Church in America verbunden ist, gehört in diese Tradition.
Neben dem religiösen Erbe sind aber auch die Spuren deutschen Handwerks noch deutlich erkennbar. Außer der Tuch- und Leinenweberei war vor allem der Buchdruck und die Ausbildung einer unabhängigen Presse ein besonderer Beitrag der deutschen Kolonisten. Deutsche Einwanderer in Pennsylvania waren Pioniere der Papierherstellung, der Gießkunst, die wichtig war zur Herstellung beweglicher Lettern, und der Produktion von Druckerschwärze. Der mit den Quäkern sympathisierende Christopher Saur, der 1738 in Germantown eine Buchdruckerei gründete, ist bis heute unvergessen als Begründer einer deutschsprachigen Presse, als Herausgeber von praktischen Kalendern und frommen Büchern und besonders wegen des Drucks der ersten in Amerika erschienenen Lutherbibel im Jahre 1743. Da das Druckrecht für englische Bibeln in London war, blieb es lange Zeit die einzige in Britisch-Amerika gedruckte protestantische Bibel.
Etwa zur gleichen Zeit ging Johann Peter Zenger (1697–1746) in New York als Verteidiger der Pressefreiheit in die amerikanische Geschichte ein. 1733 hatte er das »New York Weekly« mitgegründet. Als seine Artikel, die den Nepotismus und die Korruption der Regierung anprangerten, in Misskredit fielen, war er bereit, für die Freiheit des gedruckten Wortes auch ins Gefängnis zu gehen. Beredter Ausdruck für die damalige Bedeutung der deutschsprachigen Presse war übrigens auch die Tatsache, dass der Pennsylvania Staatsbote am 5. Juli 1776 als erste amerikanische Zeitung über die Unabhängigkeitserklärung berichtete.
Im 19. Jahrhundert wandelte sich das Bild des Aufbruchs nach Amerika grundlegend. An die Stelle der geführten Gruppeneinwanderung trat immer mehr die individuelle Masseneinwanderung, häufig auch in Form von Ketten, wenn voraus gereiste Familienangehörige oder Bewohner derselben Ortschaft die Zurückgebliebenen ebenfalls zur Auswanderung bewegten. Es wird geschätzt, dass zwischen 1820 und 1920 fast sechs Millionen Deutsche auswanderten, davon 5,5 Millionen in die USA. Zumeist reisten sie über die Häfen Hamburg oder Bremen, wo früh auch amerikanische Konsulate eingerichtet wurden. Bis zum Bürgerkrieg kamen sie zumeist, um unabhängige Farmer zu werden, danach, im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung, zunehmend auch, um Lohnarbeit in den Städten zu leisten.
Die Push-Faktoren waren jetzt andere. Religiöse Unterdrückung war nicht mehr so ausschlaggebend für den Entschluss zur Auswanderung als vielmehr wirtschaftliche Not oder das Scheitern der Freiheits- und Einheitsbewegungen in Deutschland. Der berühmte »Auszug der 800« 1838 aus Sachsen, konservative lutherische Gemeindemitglieder, die vor der rationalistischen Theologie ihrer Landeskirchen flohen, war eher eine Ausnahme, wenn auch eine wichtige. 1847 gründeten sie die konservative Missouri Synode mit, die heute die zweitgrößte lutherische Kirche in den USA ist. Die Gemeinde Niederfrohna bei Chemnitz hat ihnen im Sommer 2011 eine wichtige Ausstellung gewidmet. Die Regel waren aber eher Armutsflüchtlinge. Deutsche aus Württemberg und Baden, die zwischen 1815 und 1817, den dortigen »Hungerjahren«, nach Amerika zogen. Oder die sogenannten »Pauper«, die zwischen 1844 und 1847 vom Mainzer Adelsverein nach Texas geschickt wurden und dort die heute noch bestehenden Siedlungen der »Texasdeutschen« gründeten, vor allem New Braunsfeld (1845) und Fredericksburg (1846).
Ebenso wichtig wurden jedoch politische Gründe. Die Enttäuschung der deutschen Liberalen und Demokraten über das wiederholte Scheitern der deutschen Einheitsbewegung drängte viele von ihnen zur Auswanderung. In den 1830er Jahren nach dem Hambacher Fest und dem Frankfurter Wachensturm emigrierten bereits zahlreiche Studenten und Intellektuelle in die USA. Noch stärker schwoll dieser Strom nach der gescheiterten Revolution von 1848 an. In den 1850er Jahren wanderte fast eine Millionen Deutscher aus. Waren es 1847 noch 74.000, wurden es 1852 schon 145.000 und 1854 sogar 215.000, die als »48er« das politische Leben der USA bereicherten. Zu den berühmtesten »48ern« zählten die Liberalen Franz Sigel (1824–1902), Friedrich Hecker (1811–1881) und besonders Carl Schurz (1829–1906), der in den 1860er Jahren zum amerikanischen Innenminister aufstieg.
Als soziales Moment zur Auswanderung wirkte auch die Bauernbefreiung, deren unmittelbare Folgen häufig Landflucht, Proletarisierung und Verarmung war. Viele dieser städtischen Armen wählten die Auswanderung, um ihre Lage zu verbessern. Speziell für die deutschen Juden war auch die Verweigerung voller Bürgerrechte ein Grund zu emigrieren. Vielleicht der berühmteste Name dieser jüdischen Emigration ist der von Levi Strauss (1829–1902), der 1843 auswanderte und im Kalifornien des Goldrausches die Jeans erfand, die bis heute Symbol von Pioniergeist, Freiheit und Abenteuer ist. Als kumulierte Folge von Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Verstädterung und Verarmung erreichte die deutsche Auswanderung in den 1880er Jahren ihre Spitzenwerte. Insgesamt wanderten in jenem Jahrzehnt 1,5 Millionen Deutsche aus, allein im Jahr 1882, dem Spitzenjahr der deutschen Auswanderung, 250.000.
Warum zog es so viele Menschen nach Amerika? Nach wie vor wirkte die Verheißung von »life, liberty and the pursuit of happiness«. »Life« und »the pursuit of happiness« bedeutete »unbegrenzte Möglichkeiten«, ein besseres Leben, das möglich wurde durch eine boomende Wirtschaft, die immer mehr Arbeitskräfte in den Bevölkerungszentren des Ostens verlangte. Es bedeutete aber auch weites und freies Land westlich des Mississippi, das kostenlos erworben werden konnte. Die sogenannte Homestead Act von 1862 versprach jedem Siedler gratis 160 Acres Land im Westen, das sind etwa 65 Hektar, unter der Bedingung, dass er es in fünf Jahren kultiviere und dann dafür einen Besitztitel beantrage. Auf diese Weise wurde an etwa 1,6 Millionen Farmer ca. zehn Prozent allen Landes unentgeltlich verteilt. Viele Deutsche profitierten davon, so dass das Gebiet vom Mississippi bis zu den Rocky Mountains bis heute eines der Hauptsiedlungsgebiete der Deutschamerikaner geblieben ist.
»Liberty« bedeutete Offenheit des Landes und der Gesellschaft, demokratische Teilhabe an der Politik und individuelle Selbstentfaltung. Besonders im Westen, an der Siedlungsgrenze, war der Staat fern und jeder selbst seines Glückes Schmied. Dort gediehen auch die vielen Bekenntnisse, die Amerika bis zur Gegenwart auszeichnen. Wenn Amerika heute ein sehr viel religiöserer Kontinent ist als Europa – jedenfalls gemessen am Kirchenbesuch –, dann hauptsächlich deswegen, weil Religion in Amerika sehr viel stärker mit der Idee der Freiheit verbunden ist. Die wachsende Säkularisierung Europas und der sehr viel größere Einfluss der Religion in Amerika reflektieren die unterschiedlichen Erfahrungen mit religiöser Freiheit.
Zu diesen Pull-Faktoren gesellen sich stark verbesserte Migrationsbedingungen. Brauchte ein Segelschiff, wie Mühlenberg es benutzte, noch 35 bis 42 Tage, um den Atlantik zu überqueren, schafften es die Dampfschiffe, die seit den 1830er Jahren eingesetzt wurden, in dreizehn bis neunzehn Tagen. Zwei große Liniendienste standen zur Verfügung: die 1847 gegründete HAPAG, die von Hamburg aus operierte, und der 1857 gegründete Norddeutsche Lloyd in Bremen. Sie transportierten das Gros der deutschen Auswanderer in die Häfen der amerikanischen Ostküste.
Im Amerika des 19. Jahrhunderts bildeten die Deutschen mit ihren Clubs und Zirkeln eine der größten, bestorganisierten und höchst angesehenen Einwanderergruppen. Allgemein wurde anerkannt, dass sie mit ihren Leistungen ganz entscheidend zum Aufbau des Landes beitrugen. Einige Namen, die heute noch Klang haben, mögen das demonstrieren. Besonders erfolgreich war Johann Jacob Astor (1763–1848), der als Pelzhändler und Bankier zum reichsten Mann der USA aufstieg. Andere erfolgreiche Unternehmer waren der Chemiker und Pharmahändler Karl Pfizer, die Karosseriebauer Gebrüder Studebaker, der Orgelbauer Heinrich Steinweg (1779–1871), der die Firma Steinway and Sons begründete, der Pharmaunternehmer Max Kade und schließlich auch John D. Rockefeller (1839–1937), dessen Vorfahren im 18. Jahrhundert aus Wied nach Germantown auswanderten und der 1912 zum reichsten Mann der Welt wurde. Bis heute wichtig ist auch das Erbe der deutschen Braumeister. Die Biere der von Deutschen gegründeten Brauereien wie Anheuser-Busch in St. Louis, Joseph Schlitz in Milwaukee oder Coors in Colorado dominieren bis heute den amerikanischen Markt.
Wichtig sind aber auch die deutschen Beiträge zum Bildungswesen der USA. Der Philologe Karl Follen (1796–1840) reformierte die Harvard University nach dem Vorbild Humboldts und legte damit die Grundlagen für ein Universitätssystem nach deutschem Muster. Heute hat sich das Bild genau umgekehrt: wir reformieren unsere Universitäten nach amerikanischem Vorbild. Die Deutsche Margarethe Meyer-Schurz, Ehefrau von Carl Schurz, führte den Kindergarten nicht nur als Institution, sondern auch als Wort in Amerika ein. Die Sprachschulen des Maximilian Berlitz kennen wir auch hier.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Spuren deutscher Einwanderer in allen gesellschaftlichen Bereichen der USA und nicht zuletzt auch im Gebrauch der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert allenthalben deutlich sichtbar waren und ihre Leistungen höchste Anerkennung genossen. Viele Deutschamerikaner waren so stolz auf ihre Leistungen und ihre Bedeutung, dass sie um 1840, vielleicht auch erst zur Zeit von Carl Schurz – so genau konnte ich das nicht recherchieren –, die Ansicht verbreiteten, um ein Haar wäre Deutsch sogar Amtssprache der USA geworden. Diese Ansicht ist bis heute tief im Selbstverständnis der Deutschamerikaner verankert. Ich selbst habe sie bei den deutsch-amerikanischen Verbänden und Clubs immer wieder gehört. Tatsächlich handelt es sich um die sogenannte »Mühlenberg-Legende«, die auf Mühlenbergs zweiten Sohn, Friedrich August Conrad, zurückgeht. Als 1794 eine Petition neu in Virginia angekommener deutscher Farmer den Kongress bat, alle Gesetze auch in deutscher Sprache zu veröffentlichen, lehnte Mühlenberg, damals Sprecher des Repräsentantenhauses, das Ansinnen mit der Gegenforderung ab, die Neusiedler sollten lieber eilends Englisch lernen, damit sie schnell bessere Staatsbürger würden. Die Petition wurde denn auch mit knapper Mehrheit abgelehnt. Dennoch wurde die deutsche Sprache während des ganzen 19. Jahrhunderts weiterhin aktiv als Verkehrssprache der Deutschamerikaner und in etwa 800 deutschsprachigen Presseorganen gepflegt.
Im 20. Jahrhundert wandelt sich das Bild des Deutschen in den USA radikal. Es spiegelt die Tiefen und Höhen der wechselseitigen Beziehungen. Am Anfang steht die große Wende der amerikanischen Einwanderungspolitik bereits zu Ende des 19. Jahrhunderts. Unliebsame Einwanderergruppen werden sukzessive ausgeschlossen. Schon 1875 führte die Angst vor der »gelben Gefahr« dazu, dass Chinesen nicht mehr einwandern durften. Eindeutig eine rassistische Maßnahme. 1884 folgte der Ausschluss von sogenannten Kontraktarbeitern, das heißt Einwanderern, die mit bereits im Ausland geschlossenen Arbeitsverträgen ins Land kamen. Lobbyisten forderten erfolgreich ein Verbot solcher Einwanderer, da sie als »unfrei« und »ungelernt« wie die chinesischen »Kulis« galten und befürchtet wurde, sie könnten als Streikbrecher eingesetzt werden. Tatsächlich war es eine Maßnahme gegen die sogenannte »neue Einwanderung« seit den 1880er Jahren, die nicht mehr vorwiegend aus protestantischen Nordwesteuropäern bestand, den sogenannten »Wasps« (White Anglo-Saxon Protestants), sondern immer mehr aus katholischen oder orthodoxen Einwanderern aus Süd- und Osteuropa. In die gleiche Richtung ging auch der Versuch, Analphabeten von der Einwanderung auszuschließen, der allerdings drei Mal am Veto des Präsidenten scheiterte.
Da der Zensus von 1890 feststellte, dass der Kontinent jetzt besiedelt und die Siedlungsgrenze, die berühmte »frontier«, verschwunden sei, gewannen die sogenannten »Nativisten«, die Einwanderung systematisch einschränken und die »Amerikanisierung« der Neueinwanderer forcieren wollten, im 20. Jahrhundert starken Auftrieb. Deutsche blieben wegen ihres großen im 19. Jahrhundert gewonnenen Ansehens zunächst weitgehend von Einschränkungen befreit, doch änderte sich das abrupt im Ersten Weltkrieg. Die große Tradition deutscher Amerikaauswanderung kam zu einem plötzlichen Ende, und aus angesehenen deutschamerikanischen Bürgern wurden über Nacht »Feinde im Innern«. An vielen Orten kam es zu antideutschen Maßnahmen, einschließlich der Verbrennung deutscher Bücher und des Verbots der deutschen Sprache. Die reich gefächerte deutschsprachige Presse war damit zum Untergang verdammt. Selbst deutsche Worte in der amerikanischen Sprache wurden geächtet. Aus »Sauerkraut« wurde beispielsweise liberty cabbage. Auch andere deutsche Spuren wurden systematisch verwischt.
Die meisten Deutschamerikaner hatten keine Wahl und gaben dem Amerikanisierungsdruck bereitwillig nach. Der Historiker John Higham spricht sogar vom »spektakulärsten Fall kollektiver Assimilation« des 20. Jahrhunderts. Zwar gab es schon in den 1890er Jahren eine gewisse Selbstpreisgabe der deutsch-amerikanischen Institutionen, doch wird man ohne Übertreibung sagen können, dass der Erste Weltkrieg die große Zäsur in der Stellung der Deutschen in den USA markiert. Aus einer der markantesten und sichtbarsten Einwanderungsgruppen wurde jetzt eine ethnische Gruppe unter vielen. Ihre prägend Kraft in der amerikanischen Gesellschaft ging weitgehend verloren.
In den 1920er Jahren wurden die USA nicht nur isolationistisch, sondern zunehmend auch einwandererfeindlich. Die Einwanderungsgesetze von 1921 und 1924 führten ein System nationaler Quoten ein, das die jährliche Einwanderung zunächst auf jeweils 3% der Nationalitäten begrenzte, die 1910 schon im Lande waren, und 1924 sogar nur auf 2 % derjenigen von 1890. Solche nationale Herkunftsquoten richteten sich zwar in erster Linie gegen die »neue Einwanderung« aus Süd- und Osteuropa, die seit 1890 ins Land schwemmte, und begünstigten im Prinzip deutsche Einwanderer, deren Quote mit jährlich etwa 50.000 höher war als jede andere europäische Quote. Jedoch erschwerten die ökonomischen Bedingungen der Weimarer Republik in Deutschland und das Erfordernis, in Amerika einen Sponsor zu finden, der sich dafür verbürgte, dass der Einwanderer nicht der Allgemeinheit zur Last fallen würde, eine Einwanderung wie vor 1890. Die Zeit deutscher Masseneinwanderung war unwiederbringlich dahin.
Es gehört zur Tragik der deutschen Einwanderung in die USA, dass auch zur Nazizeit das Einwanderungssystem mit seinen bürokratischen Anforderungen nicht geändert wurde. Obwohl die deutsche Quote kaum ausgeschöpft wurde, fanden infolge der vielen bürokratischen Barrieren nur 95.000 deutsche und österreichische Juden Zuflucht vor Hitler in den USA. Zwischen Hitlers Machtergreifung und Amerikas Kriegseintritt blieben über eine Million Quotenplätze ungenutzt. Zu den Auserwählten, die die Flucht schafften, gehörten allerdings prominente Persönlichkeiten wie Albert Einstein (1879–1955) oder Henry Kissinger (geb. 1923). Andere bildeten beispielsweise in der University in Exile in New York oder rund um Lion Feuchtwangers Villa Aurora in Los Angeles Zentren des deutschen Exils, die das amerikanische Kulturleben befruchteten. Beide Orte leben übrigens bis heute als historische Denkmäler weiter.
Während des Zweiten Weltkrieges verhielt sich die Masse der Deutschamerikaner weitgehend loyal. Trotzdem wurden über 10.000 Deutschamerikaner ihrer Freiheit beraubt und als feindliche Ausländer interniert. Japaner und Italiener traf das gleiche Schicksal. Das war eindeutig ein Rechtsbruch, für den der amerikanische Kongress vor einigen Jahren einen Gedenktag, einen »Day of Remembrance«, eingerichtet hat.
Nach dem Krieg gab es nur noch zwei kurze Wellen deutscher Auswanderer. Zunächst – unmittelbar nach Kriegsende – kamen vor allem sogenannte Displaced Persons, die an ihre kriegszerstörten Herkunftsorte nicht mehr zurückkehren konnten, Volksdeutsche, die aus Südost- und Osteuropa vertrieben wurden, oder deutsche Kriegsbräute. In den 1950er Jahren folgte die letzte Arbeitsemigration von etwa einer halben Million Deutscher, die vor allem aus wirtschaftlichen Gründen in Amerika eine neue Heimat suchten. Mit dem Beginn des Wirtschaftswunders in Deutschland war die traditionelle Amerikaauswanderung jedoch endgültig beendet. Deutschland wurde selbst zum Einwanderungsland. Wer jetzt noch nach Amerika übersiedelte, tat das zumeist im Rahmen von Personenaustauschprogrammen nur noch auf Zeit als Schüler, Student, Wissenschaftler oder Forscher, oder aus beruflichen Gründen als Repräsentant seiner Firma oder einer deutschen Organisation.
Obwohl in den drei Jahrhunderten, die wir betrachtet haben, über sieben Millionen Deutsche nach Amerika auswanderten und zuletzt noch fünfzig Millionen Amerikaner bei der Volkszählung von 2010 angaben, sie seien deutscher Abstammung, sind die Nachkommen deutscher Einwanderer weitgehend vollständig assimiliert. Der Soziologe Russell Kazal bezeichnet sie als »bemerkenswert unauffällig«. In der Tat lebt ihr kulturelles Erbe hauptsächlich nur noch als Folklore, in Form von Vereinen, die deutsche Geselligkeit üben, etwa als alljährliche Oktoberfeste, oder in Form der vielfältigen Partnerschaften, die amerikanische Gemeinden, Städte, Regionen oder Universitäten mit Deutschland gebildet haben. Nur kleinste Minderheiten, wie die Texasdeutschen oder die Amischen in Pennsylvania, pflegen noch ihre ursprünglichen Traditionen. Das große Erbe der Deutschamerikaner wird heute vor allem in den zahlreichen Heimatmuseen gepflegt oder – seit kurzem – in dem 2010 in Washington eröffneten German-American Heritage Museum.
Trotzdem sind die Spuren jener sieben Millionen Deutschen, die den Atlantik überquerten, um der Verheißung Amerikas zu folgen, wenn auch transformiert und modifiziert, nicht aus dem amerikanischen Alltag verschwunden. Sie werden sichtbar in deutscher Handwerkskunst, heute gepriesen als »German engineering«, in deutscher Gelehrsamkeit und Wissenschaft und nicht zuletzt auch im Erbe der von Mühlenberg organisierten Kirche Martin Luthers. Die Lutheraner gehören hinter Katholiken, Baptisten, und Methodisten zur fünftgrößten christlichen Kirche Amerikas. Sie teilen sich auf in die Evangelical Lutheran Church in America mit etwa fünf Millionen Mitgliedern, die Missouri Synode mit etwa 2,6 Millionen, die Wisconsin-Synode mit über 400.000 und weiteren kleineren lutherischen Kirchen. Sie alle sind sich immer noch ihres deutschen Erbes bewusst, wie die Tausende von Amerikanern bezeugen, die alljährlich nach Wittenberg, Eisleben oder Erfurt reisen, um dort auf den Spuren des Gründers ihrer Kirche zu wandeln. In sechs Jahren, zum 500. Jahrestag des Thesenanschlags an der Schlosskirche zu Wittenberg, dürfte diese Reisewelle ihren Höhepunkt erreichen. Mühlenbergs Erbe hat also reiche Früchte getragen, und es ist richtig und notwendig, daran an seinem 300. Geburtstag zu erinnern.
Trotz seiner Leistungen für seine Kirche und für sein Land: Mühlenberg ist nur einer von vielen, e pluribus unus. Diese drei Worte sollen abschließend daran erinnern, dass er nicht nur eine deutsche Mission erfüllte, sondern zugleich eine zutiefst amerikanische. E Pluribus Unum ist der Wahlspruch auf dem 1782, also noch zu Mühlenbergs Lebzeiten, geschaffenen großen Siegel der USA. Alle Amerikaner kennen diesen Spruch, da er auf jeder Dollarnote steht. Bis 1956 war er de facto das Motto der USA, bis er offiziell von »In God We Trust« abgelöst wurde. 1782 bezog sich e pluribus unum auf die einzelnen Bundesstaaten, die die USA bilden sollten. Heute wird der Spruch jedoch eher auf die vielen Völker und Ethnien bezogen, aus denen das amerikanische Volk entstanden ist und die aus der Union, spätestens seit dem Bürgerkrieg vor 150 Jahren, eine Nation machten.
Der Autor unseres Beitrages: Generalkonsul a.D. Dr. Hans Jürgen Wendler
E PLURIBUS UNUM als Wahlspruch dürfte auch Mühlenberg gefallen haben, denn er schuf aus den Lutheranern verschiedener Länder und Nationen ein vom Staat unabhängiges Kirchenwesen, das mehr Kraft und Ausstrahlung entfaltete als die Summe der lutherischen Einzelgemeinden. Wenn wir etwas von Mühlenberg und seinen Nachfolgern für unsere heutige Zeit lernen können, dann ist es vielleicht das, was Mühlenberg in der neuen Welt selbst lernen musste: dass es bei der Schaffung eines Gemeinwesens nicht nur auf Integration des Einzelnen, sondern auch auf Innovation des Ganzen ankommt. Mühlenberg steht für beides: die Integration der höchst unterschiedlichen und versprengten deutsch-lutherischen Gemeinden in Pennsylvania und die Innovation eines Kirchenwesens, das nicht mehr europäischen Vorbildern folgte, sondern der Verheißung Amerikas für religiöse Freiheit und individuelle Unabhängigkeit. Dafür feiern wir ihn heute zurecht.
Hans Jürgen Wendler
Information
Die Webseite der Franckeschen Stifungen: www.francke-halle.de
Neuerscheinung: Eberhard Görner: In Gottes eigenem Land. Heinrich Melchior Mühlenberg – der Vater des amerikanischen Luthertums.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2011. ISBN 978-3-89812-766-0
Eberhard Görner stellt sein Buch 2011 in folgenden Orten vor:
3. November 2011 in Niederfrohna