Starke Frauen in Schneeberg
Rezension

Starke Frauen in Schneeberg

Am Abend des 18. Oktober fahren wir in die alte erzgebirgische Bergbaustadt Schneeberg. Der Bergbau war mit anstrengender Arbeit in dunklen Schächten und Stollen verbunden. Männer dominierten diesen Beruf und bis heute ist unser Bild vom Bergmannsberuf von Männern geprägt. Das Wort Berg-Frau gibt es nicht. Für die Bergmänner, die den größten Teil ihres Lebens in der Finsternis verbrachten, waren Licht und Sonne von besonderer Bedeutung. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war das Durchschnittsalter hiesiger Bergleute nur 35 Jahre. Die Männer starben früh an der »Schneeberger Krankheit«. Heute weiß man, dass das Radon-Gas, das im Berg auftrat, die Ursache für die Erkrankungen der Lungen war. Sie sehnten sich nach Licht und Sonne.

Starke Frauen in Schneeberg

In der Stadtbibliothek, die im Kulturzentrum »Goldne Sonne« untergebracht ist, versammelten sich am Abend des 18. Oktober Besucher, um einer Lesung der Münchner Publizistin Gunna Wendt beizuwohnen. Frau Wendt stellte ihre Biographie der Franziska (eigentlich Fanny Sophie Liane Auguste Adrienne) Gräfin zu Reventlow vor.

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Gunna Wendt ging zunächst auf den Lebensweg der am 18.5.1871 in Husum geborenen Gräfin ein (verließ früh das Elternhaus, 1892 Lehrerinnenexamen, 1893 Kunststudentin in München, Nietzsche- und Ibsen-Leserin, Übersetzerin aus dem Französischen, Malerin, Sängerin, Schauspielerin, die mit Rainer Maria Rilke, Ludwig Klage, Erich Mühsam u.a. Künstlern und Schriftstellern bekannt war) die am 27.7.1918 im Tessin verstarb. Der Untertitel der Biographie lautet »Eine anmutige Rebellin«.

Starke Frauen in Schneeberg

Große Aufmerksamkeit widmete Frau Wendt den publizistischen Leistungen der Gräfin Reventlow, die auch unter schwierigsten Lebensumständen Haltung zu bewahren wusste.

Auf Nachfrage stellte Frau Wendt klar, dass die Gräfin Reventlow eine eigenständige Existenz führte und nicht von ihrer Familie unterstützt wurde. Gefragt, ob die Gräfin mit ihrer Publizistik eine anti-bürgerliche Haltung vertreten habe, antwortete Frau Wendt, dass sich die Gräfin nicht auf ein Dagegen-Sein beschränkte. Wer nur gegen eine Sache sei, der ahme nur nach, wenn auch auf umgekehrte Weise. Der Gräfin, die auch die Sackgassen erkannte, die sich im George-Kreis und anderen Modeerscheinungen auftaten, sei es nicht vordergründig um eine Kritik der Verhältnisse gegangen sei, sondern wesentlich darum anders zu leben als es der spätfeudal-bourgeoise deutsche Durchschnitt sowie dessen elitäre Bohèmien-Antipoden suggerierten. (Eine Problematik, die auch Michel Foucault bei seiner Retrospektive der Jugendrebellion Ende der 1960er Jahre interessierte, und die bei jeder kommenden Jugendrevolte wieder zur Debatte stehen wird: wie können wir erstarrte Verhältnisse ändern, ohne so zu werden, wie das, was wir ändern wollen?)

Gunna Wendt machte an diesem Abend erst einmal deutlich, dass das publizistische Werk der Gräfin Reventlow bis heute noch nicht angemessen rezipiert werde. Als Analytikerin des Zeitgeistes um 1900 wird Franziska Gräfin zu Reventlow bis heute leider noch nicht gesehen.

Starke Frauen in Schneeberg

Das Publikum, in dem leider Schüler oder Studenten fehlten, dankte der Münchner Autorin für den anregenden Vortrag mit Beifall. Man hätte eigentlich gern sofort Texte der Franziska zu Reventlow lesen wollen.

Starke Frauen in Schneeberg

Liebevoll organisiert hatten die Veranstaltung die Damen der Stadtbibliothek (1. und 2. von rechts). Auch eine Mitarbeiterin der ansässigen Br. Fr. Goedsche‘s Buchhandlung war mit einem Büchertisch und der Reventlow-Biographie vertreten (li.). Das Buch und das Lesen ist dem Anschein nach voll in den Händen der Frauen, und das in einer Berg-Männer-Stadt!

Ganz so neu ist diese Erscheinung jedoch sicher nicht. Um 1700 war es möglich, dass in Schneeberg die Witwe des Unternehmers Veit Hans Schnorr die Geschäfte letztlich besser führte als ihr Mann. Zudem gab sie ihrem Sohn Veit Hans Schnorr dem Jüngeren (später von Carolsfeld) außer dem Geschäftssinn ein Streben nach universeller Erkenntnis weiter. Dazu gehörte die Freundschaft zu Künstlern und Literaten aus ganz Europa, und eine Bibliothek von gewaltigen Dimensionen. Damals gab es noch Unternehmerinnen und Unternehmer, die wirklich etwas von Büchern verstanden …

Johannes Eichenthal

 

Information

 

Gunna Wendt: Franziska zu Reventlow, die anmutige Rebellin. Biographie. Aufbau-Verlag ISBN 978-3-7466-7084-3

www.aufbau-verlag.de

 

www.buch-schneeberg.de

 

Bibliothek@goldne-sonne.de

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