Reportagen

DIE LEBEN DES KÄPT’N BILBO

Gaststätte und Galerie »Zum Prellbock« hatten für den Abend des 24. Mai 2019 zu einer Lesung mit Ludwig Lugmeier und dessen Buch »Die Leben des Käpt’n Bilbo« nach Lunzenau eingeladen.

Der Galeriechef, Gastwirt, Schriftsteller, bildender Künstler und Muldenkapitän Matthias Lehmann begrüßte eine kleine, doch interessierte und informierte Zuschauerschar. Durch Zufall hatte er Ludwig Lugmeier bei einer Leseveranstaltung kennen gelernt. Die Geschichte des Kapitäns Bilbo hatte ihn derartig begeistert, dass er den Autor nach Lunzenau einlud.

Ludwig Lugmeier dankte für die Einladung und erklärte, dass er in einem Ausstellungskatalog mehrere Bilder von Jack Bilbo sowie ein Foto von dessen Londoner »Galery of modern Art« sah. Er habe wissen wollen, wer Jack Bilbo war. Doch Bilbo sei nicht zu fassen gewesen. Er war, wie andere literarische Vorbilder, »niemand«. So musste er sich intensiv mit Bilbo befassen und aus den Forschungen entstand ein Buch.

Im Anschluss las Ludwig Lugmeier zwei längere Abschnitte aus seinem Buch über das Leben von Käpt’n Bilbo. Der hieß eigentlich Hugo Cyrill Kulp Baruch und wurde 1907 in Berlin, in einer großbürgerlichen Wohnung am Kurfürstendamm, als Enkel des Theater- und Filmausstatters Hugo Baruch geboren. Der 1848 geborene Hugo Baruch stammte aus einer Breslauer Theaterfamilie. Zunächst gründete er in Köln ein Theater und einen Kostümverleih. Trotz zeitweiliger Rückschläge gab Baruch nicht auf. Schließlich gründete er 1880 mit einem Teilhaber die Firma Baruch & Cie. Bald wurde es die größte Theater- und Filmausstattungsfirma Europas. 1890 verlegte er seinen Sitz nach Berlin, auf die Friedrichstraße. Baruch wurde Millionär und erhielt den Titel »Hoflieferant«. Alles schien erreicht. Nur die Wahl seines Fimennachfolgers wollte ihm nicht gelingen. Mit einem Geschäftspartner vereinbarte er die Ehe von dessen Tochter mit seinem talentiertesten Sohn Bruno. Aus der Ehe ging Hugo Cyrill Kulp Baruch hervor. Doch die Eltern trennen sich recht schnell wieder. Der kleine Hugo wurde von einem englischen Kindermädchen betreut. Aber als die geschiedene Mutter das Kindermädchen entließ, begann eine unstete Kindheit und Jugend in der Zeit des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit. Von Kindheit an war er mit Schauspielern, Regisseuren, Theater und Kino in Kontakt gekommen. Der Jugendliche erlebt Höhen und Tiefen des Schicksals und kämpfte mit den Mitteln der Verkleidung und der Persiflage um das Überleben. Ein Intermezzo bei New Yorker Geschäftspartnern des Vaters endete mit einem Fiasko. Doch im Resultat veröffentlichte eine Zeitung seine erste »Autobiographie«, in der er sich als Jack Bilbo, als Ex-Leibwächter Al Capones ausgab. (Es sollten noch drei weitere »Autobiographien«, mit jeweils anderem Inhalt, folgen.)
Die Machtübergabe an die NSDAP durch Reichspräsidenten Hindenburg veränderte jedoch die Situation in Berlin schlagartig. Bilbo musste aufgrund seiner jüdischen Herkunft ins Ausland, geriet nach Mallorca, kämpfte für die Spanische Republik, floh nach London, betrieb eine Galerie, wurde zum Gastgeber der deutschen Künstler-Emigranten, schrieb Autobiographien, malte surrealistische Bilder, wurde in die englische Armee eingezogen und schloss unentwegt neue Bekanntschaften mit Künstlern aller Genres. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg gewährte man ihm in England keine Staatsbürgerschaft und über einige Umwege kam Jack Bilbo wieder als Galerist nach Berlin, in seine Geburtsstadt.

Nach der Lesung wurden viele Fragen nach speziellen Details gestellt. Der Autor konnte selbst die individuellsten Fragen beantworten. Schließlich signierte Ludwig Lugmeier sein Buch.

Traditionell schloss der Abend mit dem »Mützenfoto«, Ludwig Lugmeier gemeinsam mit Prellbock-Kapitän Matthias Lehmann.

Kommentar
Ohne Zweifel ist es wichtig an das Schicksal Jack Bilbos – alias Hugo Cyrill Kulp Baruch – zu erinnern. Aber dem Autor gelingt über die Biographie hinaus ein interessanter Zugang zur europäischen und deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Großvater Hugo Baruch kam als jüdischer Theatermann nach Köln und vermochte sich eine Existenz in der Theater- und Filmbranche aufzubauen. Dass Schicksal erinnert an viele andere jüdische Unternehmer im Medienbereich, etwa Samuel Fischer, den Gründer des Fischer-Verlages, der auch über zeitgemäße Theatertexte zum Erfolg kam. Alle trafen sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin, der Welthauptstadt des Filmes. Doch die Machtübergabe an die NSDAP brach diese hoffnungsvolle Entwicklung Berlins brutal ab und bewirkte einen Massenexodus der Medienbranche in die USA.
Was macht das Werk Jack Bilbos aus? Nicht allein die Vertrautheit mit Techniken und Zitaten des Films. Er stellt in besonderem Maße die »Absurdität« der Geschichte von 1914–1945 dar. In gewissem Sinne verkörpert sein Leben vielleicht sogar diese Absurdität der Zwischenkriegs- und Kriegszeit. Obwohl er ein hohes Bewusstsein von den Mitteln des Schauspiels, der Verkleidung und des Wechsels der Identität hat, erleidet er mitunter Schicksalsschläge, von denen sich eine weniger robuste und willensstarke Natur nicht erholt hätte. Das Überleben hing vom Zufall ab, war kein eigenes Verdienst. Und umgekehrt, der Tod von Menschen war ohne Sinn.
Jack Bilbo wurde zu einem wichtigen Zeitzeugen und Akteur im Bereich des »Absurden«, der Grunderfahrung der surrealistischen Generation. Autor und Verlag gilt deshalb unser Dank für diese Entdeckung.
Johannes Eichenthal

Information
Ludwig Lugmeier: Die Leben des Käpt’n Bilbo. Verbrecher Verlag Berlin.
256 Seiten, s/w-Abbildungen und Fotos. ISBN 978-395732-279-1

www.verbrecherei.de

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