Reportagen

CLAUS DIETEL ÜBER FORM, FUNKTION, LANGLEBIGKEIT UND NACHHALTIGKEIT

Das Sächsische Fahrzeugmuseum Chemnitz hatte einen Vortrag des international bekannten Formgestalters Prof. Karl Claus Dietel mit dem Titel »Unterm Rad. Anschluss, Vorgriff und Stagnation. Gestaltung an Kraftfahrzeugen in Ostdeutschland und der DDR« für den 9. Mai angekündigt.

Museumsleiter Dirk Schmerschneider begrüßte voller Freude Prof. Karl Claus Dietel und die zahlreichen Besucher im vollbesetzten Museums-Auditorium am Abend des 9. Mai.

Der Formgestalter Claus Dietel, dessen umfangreiches, universales Lebenswerk von LKW-Gestaltung bis hin zu den von Radios reicht, umriss zunächst mit wenigen Sätzen die wirtschaftliche Bedeutung Ostdeutschlands. Bereits im 15. Jahrhundert sei das Erzgebirge eine der dynamischsten Regionen Europas gewesen. Ende des 18. Jahrhunderts habe deshalb hier auch die Industrialisierung in Deutschland, wie auch am Ende des 19. Jahrhunderts die Fahrzeugherstellung, begonnen. 1938 seien in Ostdeutschland fast 91 Prozent der deutschen Fahrzeuge hergestellt worden. Er selbst habe bei seinem Fachschulstudium als Kraftfahrzeugingenieur in Zwickau die Tradition der ostdeutschen Fahrzeugentwicklung, besonders der der Auto-Union, aufgenommen und sich angeeignet. Viele berühmte Entwickler und Gestalter habe er selbst noch kennen gelernt. In den Anfangsjahren der Fahrzeugentwicklung seien die Formen mit den Funktionen in einer Einheit gewesen. Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929/32 machte Dietel die zunehmende Dominanz des »unfunktionalen Modischen« in der Fahrzeugentwicklung fest. Diese Tendenz führte schließlich, zusammen mit eingebauten Mängeln, zur Dominanz der »Wegwerf-Produkte« in unserer Zeit.

In einer beeindruckenden, kaum fassbaren Bilderfolge führte Claus Dietel schließlich durch die Fahrzeuggeschichte. Eine wichtige Anregung für die aerodynamische Gestaltung habe er bei einem Entwurf von Prof. Wunibald Kamm (Stuttgart) aus den Jahren 1938/39 gefunden. Die ideale Tropfenform für den PKW sei nicht machbar, weil ein PKW dann acht Meter lang würde. Deshalb sei das Steilheck die Lösung für die aerodynamische PKW-Gestaltung. Bereits in seiner Diplomarbeit an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee erarbeitete Claus Dietel ein Auto-Modell nach diesem Prinzip. In der Folge zeigte er in dichter Folge Mokicks, Motorroller, Motorräder, PKW, LKW und Busse, an deren Gestaltung er, auch in Zusammenarbeit mit Lutz Rudolph u.a., mitwirkte.

In dieser Folge nahm die PKW-Studie Trabant P 603, die zwischen 1964 und 1968 erarbeitet wurde, einen besonderen Platz ein. Die funktionale Gestaltung erinnert an die Tradition der Auto-Union, ist mit der Kunststoffkarosserie sehr leicht, dennoch reparaturfreundlich und langlebig, mit Luftwiderstandswerten bis zu 0,25.
Obwohl Claus Dietel hier nicht einmal das Prinzip der offenen Gestaltung anwendete, das eine schrittweise Erneuerung der Bauteile bei Beibehaltung des Gesamtrahmens ermöglichte, war die Gestaltung des Fahrzeuges für den Befehlshaber der DDR-Wirtschaft, Dr. Günter Mittag, der von einem Gefolgsmann des Neuen Ökonomischen Systems Walter Ulbrichts zur fixen Konsum-Ideologie-Idee Erich Honeckers konvertiert war, so neuartig, dass er es brutal ablehnte, wie Claus Dietel anfügte.

Über die Ursachen der Ablehnung des überwiegenden Teiles der PKW-Gestaltungsentwürfe durch Mittag wurde auch an diesem Abend keine Klarheit erzielt, obwohl einzelne Besucher Fragen dazu stellten und viele Antworten versucht wurden. Das wäre einmal ein wirkliches Forschungsthema. Auch die Frage nach dem Schicksal des Entwurfes selbst wurde gestellt. Claus Dietel antwortete, dass er nicht spekulieren wolle, doch der VW-Golf I sei ohne diesen Entwurf wohl nicht denkbar gewesen.

Aber auch 1990 setzte sich die innovationsfeindliche Situation fort. Das von Claus Dietel 1991 für die Diamant-Werke hergesellte City-Bike Blitz sowie das entwickelte Elektro-Fahrrad-Konzept ging ebensowenig in Serie, wie sein 1991 gefertigter Entwurf eines Elektro-Autos für die Bremshydraulik in Limbach-Oberfrohna. Claus Dietel zeigte sich aber erfreut darüber, dass solche Vorgriff-Ideen heute langsam Gestalt annehmen und einzelne PKW-Entwürfe wieder funktionale Aspekte berücksichtigen. Dies sei, so Claus Dietel, auch dringend notwendig, denn der Fahrzeugbau könne nicht so weitermachen, wie in den letzten Jahrzehnten.
Zusammenfassend sagte Claus Dietel, dass seine Generation unter Bedingungen, in die sie hineingeboren wurde, versucht habe, solide Resultate zu erzielen. Es sei nicht alles gelungen, doch sie hätten es versucht. Mit dem Brecht-Satz, dass man ihrer mit Nachsicht gedenken sollte, verabschiedete er sich von den Zuhörern. Mit herzlichem Applaus dankten die Gäste Prof. Karl Claus Dietel für seinen engagierten Vortrag.

Foto: Das Sächsische Fahrzeugmuseum in Chemnitz verbirgt sich hinter dieser Werbung für einen Möbelladen, im Erdgeschoss der historischen Kraftfahrzeug-Werkstatt, einschließlich PKW-Fahrstuhl, mit dem Kosenamen »Garage«. Eigentlich müsste das Museum über eine solche Werbung verfügen können …

Kommentar
In der Tat erinnerte uns Claus Dietel wieder einmal daran, dass Ostdeutschland eine reiche industrielle Erbschaft besitzt und dass immer wieder aus der Asche des Erbes die Glut der Tradition neu entfacht werden muss. Zudem hat gerade die Not, die durch die deutsche Spaltung, die Abtrennung von Zulieferern, Wirtschaftsembargos usw. erzeugt wurde, dass gerade diese Not auch erfinderisch machte.
Soviel ist gewiss: ohne funktionale Formgestaltung kann keine wirklich reparaturfreundliche, keine langlebige und damit keine wirklich nachhaltige Produktion stattfinden.
Die Frage ist, wie das westliche Konzept eines »Wirtschaftswachstums«, dass mit der Vergeudung von menschlicher Arbeit und Ressourcen durch »Wegwerfprodukte« die gesamte Weltbevölkerung als Geisel nimmt, überwunden werden kann. Der Club of Rome hat mit seinem Bericht von den »Grenzen des Wachstums« im Jahre 1973 schon viel gesagt. Doch der Bericht verbleibt in einer rein quantitativen, äußerlichen Vorstellung von Wachstum. Mit dem Verweis auf äußere Grenzen des Wachstums konnte keine Umkehr erreicht werden.
Zumindest ist in Konzernvorständen der Gedanke einer Umkehr nicht mehr fremd. Auffällig ist, wie heute das Beibehalten des alten Wachstums-Kurses mit Pseudo-Reform-Aktivismus verbrähmt wird. Noch nie wurden die Worte »Nachhaltigkeit«, »Achtsamkeit«, »Gelassenheit« usw. so oft gebraucht, wie heute von den Verursachern der globalen Disproportionen und Dysfunktionalien.
Was sind die größten Reform-Hindernisse? Zunächst die digitalen Informations- und Steuerungssysteme! Deren Architektur läuft auf Bestätigung hinaus. Lewis Mumford schrieb bereits 1964 in seinem Buch »Der Mythos der Maschine«, dass diese Systeme die Wahrscheinlichkeit einer Beibehaltung des einmal eingeschlagenen Kurses erhöhen und die Wahrscheinlichkeit von Alternativen oder einer Umkehr vermindern.
Es bedarf also einer geistigen Umkehr. Die Fixierung auf die Droge »Geld« ist in einer Welt von bald 10 Milliarden Menschen nicht mehr verantwortbar. Wirtschaft ist eine Grundlage menschlicher Existenz, nicht weniger und nicht mehr. Aber Wirtschaftseffizienz allein stiftet keine Gemeinschaft und keinen Sinn. Vom kulturellen Ideal allein können wir nicht existieren. Doch Humanität stiftet Gemeinschaft mit anderen Menschen, mit der Natur und mit dem göttlichen Wesen des Universums. Es geht darum, dass in den anstehenden Reformen des 21. Jahrhunderts endlich die sozialen Formen gefunden werden, in denen sich die Gegensätze von Wirtschaftseffizienz und Kulturideal weiter bewegen können.
Prof. Karl Claus Dietel gebührt der Dank, dass er uns als »Formgestaltungs-Pionier«, auf die Humanität, den Sinn des menschlichen Lebens, auf Form, Funktion, Langlebigkeit und Nachhaltigkeit immer wieder hinweist. Die Veranstaltung im Sächsischen Fahrzeugmuseum war daher ein Ereignis.
Johannes Eichenthal

Information
Im Sächsischen Fahrzeugmuseum sind die Bücher von Frieder Bach zur Geschichte des Fahrzeugbaues in der Region Chemnitz-Zwickau erhältlich

Frieder Bach: Fahrzeugspuren in Chemnitz. Zur Historie des Chemnitzer Fahrzeugbaus. Teil 1
23 × 23 cm, 216 Seiten, fester Einband, Fadenbindung, Lesebändchen
etwa 600 zum Teil farbige Fotos und Abbildungen;
Zweite Auflage. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Dr. Carl H. Hahn
VP 24,90 € ISBN 978-3-937654-77-5

Frieder Bach: Fahrzeugspuren in Chemnitz. Teil 2. Fahrzeugschicksale.
23 × 23 cm, 216 Seiten, fester Einband, Fadenbindung, Lesebändchen,
etwa 600 zum Teil farbige Fotos und Abbildungen;
VP 24,90 € ISBN 978-3-937654-96-6

Frieder Bach: Fahrzeugspuren in Chemnitz. Tel 3. Motorsport 1900–1990.
23 × 23 cm, 528 Seiten, fester Einband, Fadenbindung, Lesebändchen,
etwa 1500 zum Teil farbige Fotos und Abbildungen,
VP 38,90 € ISBN 978-3-96063-013-5

Frieder Bach: Kenner fahren DKW. Prototypen, Weltrekordler, Seltenheiten.
23 × 23 cm, 132 Seiten, fester Einband, Fadenbindung, Lesebändchen,
167 zum Teil farbige Fotos und Abbildungen;
VP 18,50 € ISBN 978-3-937654-82-9

Frieder Bach / Dirk Schmerschneider: F 9 – der sächsische Konkurrent des »Volkswagens«, 23 × 23 cm, 84 Seiten, Broschur, 100 zum Teil farbige Fotos und Abbildungen;
VP 12,50 € ISBN 978-3-937654-88-1

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