Sehr geehrte Damen und Herren,
wir veröffentlichen nachfolgend einen Gastbeitrag des Designers, Kulturmanagers und Publizisten Detlef Manfred Müller.
Johannes Eichenthal
Meine frühen Lese- und Seherfahrungen formten sich durch Robert Königs »Deutsche Literaturgeschichte« (Velhagen & Klasing, Bielefeld und Leipzig 1878). Mein Vater hatte den Band – zusammen mit Konrad Sturmhoefels »Illustrierter Geschichte der sächsischen Lande und ihrer Herrscher« – 1945 aus dem Schutt eines im Bombenkrieg zerstörten Nachbargrundstücks gezogen. Auf den gründerzeitlich-repräsentativen Einbänden kann man noch immer die Einschläge der englisch/amerikanischen Bombardements wahrnehmen. Damit mutierten die historistischen Ausgaben Deutscher Literatur- und sächsischer Landesgeschichte gleichsam zu Exponaten für eine künftige Darstellung der dramatischen weltgeschichtlichen Abläufe des XX. Jahrhunderts. In der ausgeräumten mitteldeutschen Buchlandschaft der nachstalinistischen sechziger Jahre aber waren solche Bestände gehütetes privates Erbe. In meinem Fall blätterten jedoch Kinderhände in breit ausklappbare Faksimiles, Kinderaugen betrachten die wunderbar-genauen Reprints alter Kupferstiche, staunten über den geheimnisvollen literarischen Kosmos und fast beiläufig gelang es dem jungen Aspiranten die altertümlichen Frakturen, die verschollenen Handschriften zu lesen. Das Ergebnis jener frühen bibliophilen Dachbodenentdeckungen war eine Präferenz für reich bebilderte Literatur-Geschichten, eine, wie sie etwa der Philosoph Andreas Eichler im Mironde Verlag jüngst veröffentlicht hat.
Detlef Manfred Müller bei einer Laudatio anlässlich der Ausstellungseröffnung »Horst Eczko – ein Leben mit der Kunst« in der Vogtlandsparkasse Falkenstein
Mironde/Eichler legen uns ein Orbis Pictus der mitteldeutschen Literaturgeschichte, ein aufwendiges Panorama vor, das, versehen mit den umfangreichen visuellen Handreichungen der Buchgestalterin Birgit Eichler, auf 320 Seiten hervorragend ausgestattet ist. Versammelt werden zwanzig maßgebende Protagonisten. Der Zeitraum vom Hochmittelalter bis zu Aufklärung und Klassik wird umfassend dargestellt. Autoren und Texte stehen im Licht ihrer geografisch-sprachlichen Abkunft. Landschaft wird anverwandelt, zu geistigem Raum und gleichsam literarischer Natur überformt. Bild und Text gehen bei »Sprache und Eigensinn 1« eine exzellente Symbiose ein. Schon darin zu blättern ist Genuss.
Der Verleger-Philosoph begründet damit literaturgeschichtlich schlüssig, dass humanes Sein im Wesentlichen sprachlich definiert wird, unsere Existenz der stetigen mythischen-literarisch Versicherung und Interpretation bedarf, die mentale Textur der heroisch-historischen Landschaften kausal für die Geschichtswerdung und den Transfer von Sein in sprachlich konnotiertes Bewusstsein ist.
Das berühmte Diktum »Sein das verstanden werden kann ist Sprache« (Hans-Georg Gadamer) steht gleichsam als ungenanntes Motto über dem Vorhaben.
Stichwort Panorama: Großformatig bebilderte Architekturen waren mediale Sensationen des XIX. Jh. Doch auch das XX. Jh. und unsere Gegenwart greifen auf die Form zurück. Bedeutend ist jenes in Bad Frankenhausen (Werner Tübke u. a). Im Zentrum von dessen Geschehen steht der Prediger Thomas Münzer, ein Mann des Wortes, 1525 geistiger Führer der revolutionären Bauern. Nicht zufällig finden wir Münzer auch im goldenen Schnitt von Eichlers Literaturgeschichte. Von hier aus spannt Andreas Eichler den Zirkel bis zu Aufklärung und Rationalismus und setzt mit seinem Herder-Kapitel einen vorläufigen Schlussstein.
Zur unserer aktuellen zeitperspektivischen Prioritätensetzungen hat sich der Kunsthistoriker Max Hollein im Katalogbuch der Frankfurter Schirn-Kunsthalle: »Religion Macht und Kunst. Die Nazarener« eingelassen:
»In der neueren Forschung, in zahlreichen Ausstellungen und Konzepten trifft man heute auf den Gedanken, dass das, was wir bislang als ‹modern› oder für unser heutiges Kunstverständnis als wegweisend bezeichnen, weit aus näher an der Jahreszahl 1800 liegt als der bislang üblichen 1900.
Ein Fazit, dem sich wahrscheinlich auch Eichler anschließen würde. Auch er setzt den Akzent im ausgehenden 18. Jahrhundert. Dem Segment der kulturellen Zeitachse, in dem Literatur als die eigentliche Erbin des eschatologischen Potentials konstituiert wird.
Insgesamt legt uns der Philosoph und Autor Andreas Eichler mit »Sprache und Eigensinn« eine literarische Expedition vor, eine aufwendige archäologische Durchquerung komplexer mitteldeutscher Landschaft, ihrer historischen Zeitschichten und mythischen Eigenart.
Detlef Manfred Müller
Information
Andreas Eichler: Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn. 23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche Abbildungen ; VP 29,90 €
ISBN 978-3-96063-025-8
Der zweite Teil soll die Zeit von Herder bis zum Ende des 20. Jahrhunderts umfassen.
Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.