Reportagen

EIN BRIEF AN FRANZ COHN IN STOCKHOLM

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir veröffentlichen einen Gastbeitrag, einen Brief Prof. Eberhard Görners an Franz Cohn in Stockholm.

Johannes Eichenthal

Lieber Franz,
gestern Abend gegen 20 Uhr bin ich, zurück von Norwegen kommend, mit der Norwegian Air International, nach drei Tagen Aufenthalt in Oslo, wieder in Berlin-Schönefeld gelandet. Ich war in Oslo wegen Deines Buches WIR LEBEN WEITER – DIE GESCHICHTE EINER FAMILIE, dass am 18. März 2018 auf der Leipziger Buchmesse, anlässlich Deines 91. Geburtstages, vom MIRONDE VERLAG NIEDERFROHNA präsentiert wurde.

Prof. Eberhard Görner (li.) stellte am 18. März 2018, am 91. Geburtstag Franz Cohns, dessen Lebenserinnerungen auf der Buchmesse Leipzig vor. Litterata Reportage: https://www.mironde.com/litterata/6880/feature/6880

Am 26. November 1942 wurden Deine Eltern, Margot und Fritz Cohn, die sich vor der Nazigewalt 1940 aus Chemnitz nach Oslo zum Bruder Deines Vaters, Martin Cohn, ins Exil flüchteten, zusammen mit 532 anderen jüdischen Personen auf das Schiff »Donau« gebracht, dass um 14.55 Uhr Richtung Stettin ablegte. Von dort wurden alle per Eisenbahn nach Auschwitz deportiert, wo Deinen Eltern und allen anderen Deportierten das Leben genommen wurde. Jedes Jahr gedenkt Oslo am 26. November im Hafen, an dem Kai, wo das Schiff »Donau« mit den verhafteten Jüdischen Menschen ablegte. Jeder einzelne Name wird verlesen. Und so wurde auch am 26.November 2019 Deiner Eltern gedacht. Danach versammelten sich am Abend im Jüdischen Museum von Oslo 60 Besucher, die Deine Geschichte hören wollten, denn das Museum hat eine große Ausstellung über jüdische Schicksale in Norwegen, die denen Deiner Eltern ähnlich sind. Die Veranstaltung war eine Cooperation mit der Universität Oslo, organisiert von Christian Janss, dem Leiter des Departements of Literature, Area Studies and European Languages. Er hatte am Vormittag des 26. November seine Studenten zum Seminar eingeladen zur Vorstellung Deines Buches WIR LEBEN WEITER und zur Aufführung unseres Filmporträts GOTTFRIED BERMANN FISCHER – WANDERER DURCH EIN JAHRHUNDERT – gedreht 1994 im Auftrag von ORF & MDR mit Deinem Onkel, dem damals 97 Jahre alten Gottfried Bermann Fischer, einziger Verleger von Thomas Mann und Dein Lebensretter. Denn zu ihm, zum Bruder Deiner Mutter Margot, haben Dich Deine Eltern 1939 mit einem Kindertransport von Berlin nach Stockholm ins sichere Exil geschickt.

Nach der Buchmesse Leipzig reiste Prof. Görner Ende März 2018 nach Stockholm, um Franz Cohn und seiner Frau Eva das Buch persönlich zu überreichen.

Die Studenten waren vom Drama Deines Schicksals und das Deiner Eltern, wie das von Gottfried Bermann Fischer, tief beeindruckt, genauso wie die Besucher im Jüdischen Museum. Von seiner architektonischen Schönheit ist nicht mehr viel zu sehen, aber faszinierend über den Eingang ist die Malerei, welche 1928 vom Assistenten von Edward Munch gestaltet wurde. Der Abend im Jüdischen Museum zu Deinen Ehren begann mit Klezmer-Musik. Zwei hochberühmte Osloer Musiker, der Klarinettist Georg Reiss und der blinde Pianist Ulf Nilsen, stimmten das Publikum auf die Begegnung mit Dir ein. Christian Janss interviewte mich darüber, wie Dein Buch WIR LEBEN WEITER zustande kam, warum der MIRONDE VERLAG in kürzester Zeit mit Engagement und verlegerischen Risiko Deine Familien-Geschichte auf den Buchmarkt brachte. Ich habe auch erzählt, dass Dein Sohn Thomas im vergangenen Jahr, am 9. November, an der ehemaligen Synagoge in Chemnitz, in Deinem Auftrag Dein Buch dem Ministerpräsidenten von Sachsen, Michael Kretschmer und der Oberbürgermeisterin von Chemnitz, Barbara Ludwig, überreicht hat, was vom Israelischen Fernsehen dokumentiert wurde.

Stellvertretend für Franz Cohn und Prof. Eberhard Görner stellte Dr. Andreas Eichler vom Mironde Verlag (li.) am 9. November 2018 Franz Cohn’s Buch im Gespräch mit dem ORF-Journalisten Martin Haidinger auf der Buchmesse Wien vor. Litterata Reportage: https://www.mironde.com/litterata/7394/feature/buchwien18

Der Höhepunkt im Jüdischen Museum von Oslo war ohne Zweifel Dein Interview, dass Du in Stockholm dem Film-Team des Jüdischen Museums Oslo gegeben hast. Dich auf großer Leinwand zu erleben, wo Du über Deine Geschichte und die Deiner Eltern Auskunft gibst, hat das Forum stark berührt. Anschließend kamen aus dem Publikum viele Fragen, unter anderem natürlich auch zur politischen Entwicklung in Deutschland. In Norwegen wird mit Sorge gesehen, dass der neonazistische Geist schon wieder provokativ in der Bundesrepublik seine Stimme erhebt. Dem Buch-Shop des Jüdischen Museums habe ich sechs Exemplare Deines Buches überreicht. Leider zu wenig, aber Dein Buch wurde mir am Abend vorher, am 25. November, auf dem ARSFEST der Norwegischen Akademie für Sprachen und Literatur, im exklusiven Hotel Continental, förmlich aus der Hand gerissen. An unserem Tisch saß der bekannte norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen, dessen neues Buch »OSLO mit anderen Worten / Literarische Reise in eine magische Stadt« soeben im Verlagshaus Römerweg in Wiesbaden erschienen ist.
Du kannst mir glauben, lieber Franz, dass hinter mir drei aufregende norwegische Tage liegen – auch weil mit den Verantwortlichen des Jüdischen Museums darüber nachgedacht wurde, ob es uns gelingt aus der Geschichte Deiner Familie doch noch einen Dokumentarfilm herzustellen? Es ist eine wunderbare Freundschaft zu Christian Janss entstanden, und Oslo hat mich überzeugt, dass Du über ein Heer von Schutzengeln verfügst. Warum? Am Morgen des 26. November hatte ich mich mit Christian Janss verabredet, dass wir uns um 9.30 Uhr an seiner Universität treffen. Vom Hotel am St. Olav Plass gehen mehrere Straßen ab in die City. Ich bin zwei mal in die falschen Straßen gegangen, weil ich nicht mehr wusste, wo die Straße war, die mich zur Nationalgalerie führt und von da zum S-Bahnhof Königstheater. Es regnete in Strömen, und ich marschierte immer wieder zum Hotel zurück, um mich von dort mich neu zu orientieren. In meiner Not, die Zeit verging, habe ich ein Mädchen angesprochen, die mir mit Regenschirm entgegen kam. »Können Sie mir bitte sagen, wie ich zur Nationalgalerie komme?«, fragte ich sie, worauf sie im schönsten Deutsch antwortete: »Die Galerie hat aber geschlossen.« Ich nickte und meinte: »Das weiß ich. Aber da muss ich vorbei, wenn ich zur Universität will!« Da lächelte sie mich an und sagte: »Ich muss auch zur Universität. Gehen wir doch zusammen.« Das nennt man Glück im Unglück, lieber Franz, denn sie erzählte mir, dass sie deutsche Eltern hat, Jura studiert und Ihr Vater ein großer Verehrer von Thomas Mann ist. Da habe ich sie natürlich wissen lassen, dass ich in der Universität Dein Buch und meinen Film vorstelle. Dein Schutzengel meinte: »Das würde meinen Vater interessieren.« Da ich genügend Bücher von Dir für die Studenten in der Tasche hatte, habe ich meinem Osloer Schutzengel gerne eines vor dem Portal der Alten Universität überreicht mit der Bitte, ihren Vater von Dir und mir zu grüßen! Was nun Dein Buch betrifft, so geht es immer mehr in die Welt, denn inzwischen gibt es Interesse daran auch im polnischen Wroclaw, wo die norwegische Sängerin Bente Kahan aus der alten Synagoge ein jüdisch-polnisches Kulturzentrum aufgebaut hat. Und da bin ich mir sicher, wird im nächsten Jahr Dein Buch genauso großes Interesse auslösen, wie ich es in Oslo erleben durfte. Deshalb lieber Franz, bleib mit Deiner Eva noch lange gesund und munter. Ihr werdet gebraucht! Beste Grüße sendet Euch Euer Eberhard und Deine Verleger Birgit und Andreas Eichler vom Mironde Verlag!
Eberhard Görner

Information

Franz Cohn: Wir leben weiter. Die Geschichte einer Familie.
14,0 × 20,5 cm, 120 Seiten, fester Einband, Klebebindung, Vorsatz, Nachsatz, runder Rücken, zahlreiche s/w-Abbildungen und Fotografien
VP 12,50 €
ISBN 978-3-96063-005-0

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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