Rezension

TIANXIA – ALLES UNTER DEM HIMMEL

In der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft erschien 2020 ein Buch des chinesischen Philosophen Zhao Tingyang über die Erfindung eines neuen Weltordnungsprinzips »Tianxia« (gesprochen: Tiänchia) in der Bedeutung von »Alles unter dem Himmel«. 

Ebenso trägt das Buch den vollständigen Titel »Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung.«. Der Übersetzer merkt an, dass er den Ausdruck »Tianxia« wegen seiner Mehrdeutigkeit im Kontext nicht übersetzen könne. Deshalb gebe er den Ausdruck stets original wieder. Seinen Text beginnt Zhao mit einer radikalen Kritik des heutigen politischen Weltsystems. (S. 13 ff.) Die Globalisierung verändere die Welt grundlegend. Die heutige Politik, basierend auf Nationalstaatsinteressen, Imperialismus und Hegemonie, gerate zunehmend in Widerspruch zu den Tatsachen der Globalisierung. (D.h. der durch die nationale Befreiung der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas im 20. Jahrhundert begonnen Emanzipation aller Menschen auf der Erde – Anmerkung J. Eichenthal) An mehreren Stellen bemerkt Zhao, dass das alte Hegemonialstreben immer nur zur Nachahmung und zur Revanche, und immer wieder zum umgekehrten Hegemonialstreben führe: »Die heutige internationale Politik ist nicht nur unfähig, internationale Konflikte zu lösen, sie ist im Gegenteil unaufhörlich damit beschäftigt, nach Strategien zu suchen, die dem Gegner Niederlagen zufügen.« (S. 24) Es sei an der Zeit, mit dieser völlig überholten Art von Politik Schluss zu machen. 

Zhao empfiehlt als Alternative ein Politik-Prinzip aus der chinesischen Geschichte: Das Tianxia-Konzept ermögliche eine der Globalisierung adäquate politische Ordnung. Im Kern sei es eine Ordnung der Koexistenz: »Bei der Vorausschau auf die zukünftige Welt benötigen wir eine ihr entsprechende Daseinsordnung, eine Ordnung, welche die Inklusion der Welt realisiert. Das ist es, was ich als das System des ‹Alles unter einem Himmel› (Tianxia) bezeichne.« S. 13) Zwei Seiten später offeriert Zhao seine Einladung: »Alle Staaten und Gebiete, die sich noch nicht der Ordnung der Koexistenz des Tianxia angeschlossen haben, sind eingeladen, der Ordnung der Koexistenz des Tianxia beizutreten.« (S. 15) In der Einleitung deduziert Zhao seine Position weiter. Im 1. und 2. Kapitel geht er ausführlich auf die Geschichte des Tianxia-Konzeptes im chinesischen staats-politischen Denken ein. Im 3. Kapitel versucht er seinen Gesamtansatz darzustellen: »Gegenwart und Zukunft des Tianxia«. S. 181–227. Ein lexikalischer Artikel der wichtigsten Begriffe schließt das Buch ab.

chinesisches Schriftzeichen für Tianxia

Die Gründe für die Unzufriedenheit mit der heutigen Weltlage leuchten jedem ein, der Augen hat zu sehen, der Ohren hat zu hören. Der Anlass zur Erfindung des Tianxia-Prinzips der Koexistenz und der Inklusion für die Weltpolitik ist also grundsätzlich nachvollziehbar. Doch Zhao verletzt in einigen Punkten seine verkündeten Grundsätze der Inklusion selbst. Er beginnt seine Einführung mit einer Berufung auf die sogenannte »Spieltheorie« (S. 11) und einer Ankündigung, die Überlieferung des Tianxia »rein rational« behandeln zu wollen (S. 10), die in der Verkündung des Anspruchs einer »vollständigen Rationalität« (S. 39) gipfelt. Neben der analytischen »Spieltheorie« zitiert er ausführlich westliche Vertreter einer bloß normativen Ethik (Kant, Rawls, Habermas u.a.), die den Sinn für den Weltzusammenhang bewusst ausblenden. 

Hier sei angemerkt, dass der Einwurf des Übersetzers zur Nichtübersetzbarkeit des Ausdrucks »Tianxia« und Zhaos Verkündung der »vollständigen Rationalität« das Grunddilemma des Buches andeuten. Zhao zielt vordergründig auf die Bedeutung der Buchstaben. Der Sinn des Textes geht ihm damit verloren. Es fehlt ihm mithin an der philosophischen Methode der Hermeneutik, um seinen eigenen Inklusions-Kriterien gerecht werden zu können.

Die Schwächen dieser eng gefassten Variante von »Aufklärung« werden zunächst in Zhaos Polemik deutlich. In einer Art Anklage verurteilt Zhao das Christentum und dessen »universalen Monotheismus« als vermeintliche Ursache westlichen Imperialismus, in Sonderheit der USA. Zhao kennt aber dem Anschein nach nicht die Neue-Weltordnungs-Konzeption der Bush-Administration, die Brzezinski später veröffentlichte (Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategien der Vorherrschaft. Frankfurt 1997). In der imperialen Anmaßung beruft sich Brzezinski auf das römische Imperium, nicht auf das Christentum.

Wir erwarten nicht, dass Zhao die Geschichte des Christentums im Detail kennt. Doch bei seiner mehrfach hervorgehobenen Habermas-Lektüre sollte er doch auf die Diskussion von Jürgen Habermas mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., aus dem Jahre 2004 gestoßen sein. Ratzinger stellt gegen Habermas klar, dass weder die »okzidentale Rationalität« noch das Christentum universellen Charakter besitzen. Insofern rennt Zhao offene Türen ein.

Gegen Habermas, der das Naturrecht seiner kosmologischen Grundlagen beraubte, stellte Ratzinger klar, dass es sich beim Naturrecht um ein Vernunftrecht handele und dass es auch eine Vernunft der Natur gäbe.

Man kann hier ergänzen, dass der Protestant Christian Thomasius in seinen »Grundlehren des Natur- und Völkerrechts« von 1709 die Naturrechte des Menschen von den Besitz- und Herrschaftsrechten der weltlichen Gesetzgebung trennte. Das Naturrecht ist nicht justiziabel, es fällt in der Bereich der Religion. Zudem hat die Natur selbst Rechte und der Mensch hat Pflichten, auch der Natur gegenüber.

Auch in der christlichen Tradition finden sich Überlieferungen der Weisheit. Statt der Erfindung abstrakter Prinzipien sollte im Gespräch zwischen den Religionen und Kulturen das vorhandene Verbindende gesucht werden: »Ein solches Gespräch müsste heute interkulturell ausgelegt und angelegt werden. Für Christen hätte es mit der Schöpfung und dem Schöpfer zu tun. In der indischen Welt entspräche dem der Begriff des Dharma, der inneren Gesetzlichkeit des Seins, in der chinesischen Überlieferung der Idee der Ordnung des Himmels.« (Ratzinger, Joseph Kardinal: Werte in Zeiten des Umbruchs. Herder Verlag, Freiburg 2005)

Mehr als 200 Jahre vor Ratzinger vertrat der protestantische Theologe und Philosoph Johann Gottfried Herder in Weimar ähnliche Positionen. Herder folgte, wie Ratzinger, der jahrtausendalten Tradition von Weisheit. Als SprachVernunft (Logos) ist Vernunft keine menschliche Eigenschaft neben anderen, sondern die Disposition des Menschen. Vernunft ist die Fähigkeit aus Fehlern zu lernen. Menschliche Vernunft kann jedoch immer nur berechnender Verstand sein. Philosophie, die sich allein auf Vernunft stützt, ist keine. Die Liebe zur Weisheit − Philosophie − gründet sich auf die Gegensätze von Vernunft und Glauben. Glauben ist die Hoffnung, an der Vernunft-Wahrheit außer uns, an der Vernunft der Natur, an der kosmischen, der göttlichen Vernunft teilhaben zu können. Wir brauchen heute mehr denn je diese Weisheit, um uns bewusst wieder in den Naturkreislauf einordnen zu können.

chinesisches Schriftzeichen für Dao (gesprochen Dau) für die bewegende und regulierende Kraft alles Daseins

Für die Zukunft der Menschheit ist also nicht die Erfindung eines neuen abstrakten Prinzips notwendig, dem sich dann alle unterordnen müssen. In den Kulturen und Religionen der Völker lebt die Tradition der Weisheit weiter. Es bleibt nur die allgemeine Verständigung aller Religionen und Kulturen über ihre besonderen Weisheits-Traditionen um des gemeinsamen Handelns willen. 

Zhao ist also auf dem richtigen Weg. Er müsste ihn aber konsequent weiter zur eigenen Weisheits-Tradition gehen. Damit könnte er in seiner Heimat selbst wichtige Impulse setzen. Die bisherige Politik Chinas war der Versuch, die einstige Bedeutung mit den Mitteln der großen Industrie wiederzuerlangen. Doch die Industriegesellschaft ist weltweit in eine Sackgasse geraten. Die Ausbeutung der Natur ist schon heute nur noch möglich, indem die Existenz der Menschen aufs Spiel gesetzt wird. Die Hinwendung zur eigen Weisheits-Tradition hat also in China selbst eine neue Bedeutung erlangt.

Johannes Eichenthal

Information

Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. stb 2282. Berlin 2020. VP 22,00 Euro

ISBN 978-3-518-29882-4 

Das Haus Suhrkamp machte in den letzten Jahren, in der Tradition des Leipziger Insel Verlags, im Verlag der Weltreligionen auch chinesische Weisheits-Texte mit wissenschaftlicher Kommentierung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert