Sehr geehrte Damen und Herrn, wir freuen uns, Ihnen einen Gastbeitrag von Prof. Dr. Reiner Neubert vorstellen zu können. Johannes Eichenthal
Nicht die Leute eines kleinen Ortes in Mittelböhmen sind die Schweine, sondern ihre Ängste. So lautet das Fazit der Schriftstellerin Irena Dousková (1964 geb.) im neuen Buch »Die weißen Elefanten« (2020). Es ist der Roman über das Leben einer Gemeinde Mitte der 1970er Jahre in der ČSSR. Eine Woche in der Gluthitze des Sommers wird in den Ablauf des Erzählreimes »Glück, Unglück, Liebe, Ehe, Puppe, Wiege, Gräfin, Tod« verbracht, und so entsteht ein facettenreiches Bild einer überschaubaren Landschaft und der dort siedelnden Menschen in der sozialistischen Ära. Die sog. »Normalisierung«, die nach dem zerschlagenen »Prager Frühling« über das Land kam, erscheint hier eher als unnormal.
Im Zentrum der locker miteinander verwobenen Episoden präsentiert sich der Vorsitzende des Gemeindeausschusses, Ladislav Podzimek. Er ist 44 Jahre alt, und obzwar er nach dem Studium voller Elan in seine Heimat zurückgekehrt und Chef der Genossenschaft geworden war, hält ihn das bürokratische Monster gefangen, und seine sozialistischen Aktivitäten verpuffen meist, weswegen die Beschimpfung »kommunistische Gipsfresse« (S. 83) sein Wesen treffend bezeichnen dürfte. Seine Frau Eva war ihm zuerst aus Liebe gefolgt, hatte sich jedoch mehr und mehr von ihm entfremdet. Der gemeinsame neunjährige Sohn Jirka ist ein umtriebiger »Giftzwerg«, der seinen Vater oft in Rage bringt, was stets in körperliche Züchtigungen ausartet.
Der Schornsteinfeger Franta Kynštekr und seine Frau Máňa beleben mit ihrem vielfältigen Tun das Gemeindeleben, und Franta hat nicht nur ein Verhältnis mit Eva Podzimková, sondern er verspricht zu Beginn Jirka, ihn mit seinem Motorrad am Wochenende mit zum Feuerwehrball nach Zdice mitzunehmen. Doch das Kapitel »Tod« schließt den Rahmen, denn Franta hat bei diesem Ausflug einen Unfall und kommt dabei ums Leben.
Das Mädchen Kamila besucht während der Ferien meist Frau Lopatková, die vormalige Lehrerin des Ortes. Ihre Enkelin Kamila wird hier von einer gleichaltrigen Mädchengang ständig verspottet und gemobbt, aber ihre Oma erzählt ihr abends fantastische Geschichten, wozu auch jene von den »Weißen Elefanten« gehört, die das Aussehen und die Gestalt einer nahe gelegenen Felsengruppe mysteriös erklären.
Zwei Kirchen existieren im Ort, die eine ist alt und muffig, beherbergt aber viele Malereien und Skulpturen, die andere ist modern, und der junge Pfarrer überlegt gar, ob er ein Bild des »geliebten« Staatsführers Husák im Innenraum zur Ansicht bringt.
Der Abiturient Jarda Fabian soll sich über die Zeit der Ferien auf sein Jurastudium vorbereiten, aber im Gemeindeausschuss, dem Praktikumsort, passiert nichts und es gibt nichts zu tun. Ein lehrreicher Satz aus dem Arbeitsgesetzbuch, das ihm zur Lektüre empfohlen wird, lautet: »Arbeit im Sozialismus ist Arbeit zum Nutzen aller und des einzelnen.« Aber dagegen steht die allgemeingültige Devise, nach der alle leben: »Immer mit der Ruhe fährt der Opa in die Schuhe.« (63) So vegetieren alle dahin, und nirgendwo gibt es WAS. Derart begreift Jarda diese »Vorhölle des Nichtstuns« (95) als kaum erstrebenswert.
Bleibend für die meisten Bewohner ist das Geschehen um den alten Herrn Schwarz, der in einer abgelegenen Hütte im Wald haust. Er hatte Ende des zweiten Weltkriegs ein jüdisches Mädchen versteckt, war denunziert und verhaftet worden, kam gebrochen und verwirrt zurück, wurde 1948 nochmals eingesperrt und lebte fortan wie ein Aussätziger. Jetzt kommt er in Folge eines Streites zu Tode: »Die Leute sind echt Schweine.« (103)
Der Text ist locker erzählt. Kontrastreiche und naive Dialoge, besonders zwischen den Kindern, würzen den Ablauf. Die Figurendarstellung ist differenziert und ausgewogen, hinter jedem Detail und jeder Szene verstecken sich vorsichtige Wertungen der Autorin: Der Pfarrer in der alten Kirche raucht, aber er würde Husáks Konterfei sicherlich niemals im Gotteshaus ausstellen. Untermalt wird die Handlung von filigranartigen und zarten Illustrationen von Lucie Lomová. Mit dem bräunlich-grauen Ton bedecken sie die bizarren Konflikte, die in der Dorfgemeinschaft schwelen, aber sie vermitteln gleichsam stille Erhabenheit.
Reiner Neubert
Information
Irena Dousková: Die weißen Elefanten. Landsberg am Lech: Balaena Verlag 2020. 160 Seiten. Preis 20 Euro. ISBN 978-3-9819984-3-6. Übersetzt von Mirko Kraetsch.