Rezension

AMERICA FIRST

Der Wirtschaftswissenschaftler Michael Hudson veröffentlichte 2003 in London eine Geschichte des politisch-ökonomischen Handelns der US-Regierung seit dem Ersten Weltkrieg, der Geburtsstunde des Slogans »America first«. Die zweite Auflage, in der Hudson die Finanzkrise von 2008 reflektierte, erschien in London 2016. Der renommierten Stuttgarter Klett-Cotta Verlag brachte 2017 eine deutsche Übersetzung dieses grundlegenden Werkes heraus.

Der Autor Michael Hudson (Jahrgang 1939) lehrt Wirtschaftswissenschaften an der University of Missouri in Kansas City. Daneben arbeitet er als Finanzanalyst und Berater an der Wallstreet. Er gehört zu den Finanz- und Ökonomie-Experten der Occupy-Bewegung.

Die Premiere des Buches erfolgte am 10. November 2017 im Rahmen der BuchWien auf der großen Bühne des ORF im Gespräch mit dem Übersetzer und ORF-Moderator (re.). Leider war das neue Buch Hudsons zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggestellt, so dass sein Buch über die Rolle des Finanzsektors auf dem Tisch stand

Im Vorwort hebt Hudson hervor, dass die Ursachen der Finanzkrise von 2008 bis zum Ersten Weltkrieg zurückreichen. Deshalb wende er sich der Geschichte zu. Hudson schreibt sachlich, präzise und verständlich. Die 14 Kapitel lesen sich gerade wegen ihrer Nüchternheit sehr packend.

Anders als in den Lehrbüchern der »Wirtschafts-Wissenschaft« oder in den Sonntagsreden von Politikern handelten US-Regierungen seit dem Ersten Weltkrieg beim Einsatz von staatlichen Finanzmitteln rücksichtslos. Alle großen internationalen Währungskrisen führt Hudson auf Entscheidungen von US-Regierungen zurück. Er beschreibt die Entwicklung bis hin zur Abschaffung des Goldstandards von 1971 und der Etablierung des ungedeckten Dollar als Welt-Leitwährung. 

Das erste Kapitel trägt die Überschrift »Ursprünge zwischenstaatlicher Schulden (1917–1921)«.

Hudson verweist darauf, dass der Erste Weltkrieg die beteiligten Staaten 209 Mrd. Dollar kostete und dass sie nach dem Krieg die verlorenen Ressourcen nicht aus eigener Kraft ersetzen konnten. Dazu kamen 60 Mrd. Dollar Reparationsforderungen an Deutschland und 28 Mrd. Dollar Schulden für Waffenlieferungen aus den USA. (S. 20) Diese Schulden wuchsen durch die Zinsforderungen der USA ständig weiter an. Die USA forderten von den »Partnern«, ein Bündnis mit Großbritannien und Frankreich gingen sie bei ihrem späten Kriegseintritt vom 7. April 1917 nicht ein, nach Kriegsende die Kosten der gelieferten Waffen. Ein solches Verfahren war nicht üblich gewesen und es gab bis dahin Zusicherungen aus den USA an die Partner, dass man ihnen die Waffenlieferungen nicht berechnen werde. Trotz aller Bemühungen der überschuldeten Partner beharrten die US-Regierungen auf der vollständigen Begleichung der Schulden in Dollar.

Michael Hudson erläuterte sachlich, präzise und verständlich seine Forschungsergebnisse

Die verschuldeten Siegermächte des Ersten Weltkrieges erhöhten darauf ihre Reparationsforderungen an Deutschland drastisch. Gleichzeitig erhöhten die USA die Zölle, um ihre eigene Wirtschaft zu schützen. Die Schuldner der USA konnten deshalb nur sehr schwer mit Exporten in den Besitz von Dollar kommen, um die Schulden bezahlen zu können. (S. 31) Mit ihrem Beharren auf die vollständige Rückzahlung der Schulden, so Hudson, ruinierten die US-Regierungen die Wirtschaft ihrer »Partner« Großbritannien und Frankreich, und diese ruinierten mit ihren überzogenen Reparationsforderungen die Wirtschaft Deutschlands und beförderten die Wiederentstehung von Nationalismus und Feindschaft in Europa. (S. 37) 

Hudson resümiert: Die US-Regierungen setzten staatliches Kapital ein, gaben Regeln für das Finanzkapital vor, um zum Gläubiger der ganzen Welt zu werden. (S. 40) 

Im zweiten Kapitel mit der Überschrift »Der Zusammenbruch des globalen Gleichgewichts. (1921–1933)« zeigt Hudson die mittelfristigen Folgen des Handelns der US-Regierung. Die an der Wallstreet 1929 ausgelöste Weltwirtschaftskrise führt er auf die Rolle des US-Staates als »globaler Wucherer« (51) zurück. Gleichzeitig schädigte die Uneinsichtigkeit der US-Regierungen auch die eigene Wirtschaft: »Das amerikanische Volkseinkommen, das 1929 noch bei 90 Mrd. Dollar gelegen hatte, sank im Jahr 1931 um 20 Mrd. Dollar, womit in einem einzigen Jahr das Dreifache des gesamten Wertes der Kriegsschulden der Verbündeten und fast 80-mal mehr als die Zinsen eines Jahres verloren gingen.« (S. 57)

Hudson erwähnt einen hilflosen Appell der deutschen Regierung vom 5. September 1931 »an die Welt« auf weitere Reparationszahlungen zu verzichten. (S. 58) Am 4. Juli 1932 schlug die deutsche Regierung eine abschließende Reparationszahlung vor und die italienische Regierung schlug die Streichung sämtlicher interalliierten Kriegsschulden und Reparationen vor. (S. 65)

Doch die US-Regierung erhöhte ihren Druck auf die Partner und zwang Großbritannien im September 1931 zur Aufhebung der Goldpreisbindung seiner Währung. (S. 67) Am 20. April 1933 musste US-Präsident Roosevelt diesen Schritt dann selbst gehen. Der damit verbundene Zusammenbruch des Weltmarktes und die Machtübergabe an faschistische Regierungen stehen in einem direkten Zusammenhang. (Karl Polanyi).

Obwohl es Michael Hudson um die Erforschung des heutigen Finanzsektors geht, bringt er mit seinen historischen Forschungen Ergebnisse hervor, die ein Ende der bisherigen Nachkriegsgeschichtsschreibung darstellen

In einem vorläufigen Fazit schreibt Hudson: »Die Haltung der Vereinigten Staaten war weder teuflisch noch falsch. Aber die amerikanische Regierung handelte kurzsichtig. Europa bemühte sich nach Kräften, trotz der drückenden Last der interalliierten Kriegsschulden und des Problems der Reparationen einen Zahlungsausfall zu vermeiden. Indem die Vereinigten Staaten einen Zahlungsaufschub verweigerten, ließen sie den europäischen Schuldnerländern eigentlich keine andere Wahl als zunächst eine deflationäre Politik im Interesse des Gläubigers und nach der Abwertung des Dollars in den Jahren 1933/34 eine protektionistische und nationalistische Politik zu betreiben.« (S. 68)

Wir brechen hier die Inhaltswiedergabe ab und empfehlen die Lektüre des ganzen Buches.

Zum Schluss eine Frage: Was meint Hudson, wenn er schreibt »die amerikanische Regierung handelte kurzsichtig«? Er betont an mehreren Stellen, dass nicht das private Finanzkapital, nicht die privaten Anleger diese Finanzpolitik der US-Regierungen erzwangen, sondern der »US-Staat«. Dessen rücksichtslose Finanzpolitik erklärt Hudson mit dem direkten, unmittelbaren Streben die »Weltherrschaft« des britischen Empire zu übernehmen. Jedoch nicht mit militärischen Mitteln, sondern mit Mitteln des Finanzimperialismus. (S. 38–41, 61 f.) »Kurzsichtigkeit« bedeutet also: Wir übernehmen das Empire, koste es, was es wolle! Gleichgültig, ob wir damit die Feindschaft zwischen den Staaten Europas neu entfachen, Nationalismus, Protektionismus, Faschismus befördern und einen neuen Weltkrieg vorbereiten; gleichgültig, ob wir unsere eigene Binnenwirtschaft und die private Finanzwirtschaft zu Grunde richten. 

»America first« ist bisher der Slogan einer monetär-imperialen Politik, die gegen die Interessen der Mehrheit hart arbeitender Menschen in den USA durchgesetzt wird. Ein demokratischer Staat kann jedoch kein Imperium sein. (Samuel Huntington) Vielleicht wird »America first« einmal der Slogan einer demokratischen Bewegung in den USA?

Das Buch liefert, obwohl für den US-Leser geschrieben, auf sensationell sachliche Weise gleichzeitig Anregungen für die Neuuntersuchung der europäischen und deutschen Geschichte. Es ist das Ende der bisherigen »Nachkriegsgeschichtsschreibung«. Autor und Verlag ist zu danken. 

Clara Schwarzenwald

Copyright Fotos: Dr. Andreas Eichler

Link zur Litterata Reportage BuchWien 2017: https://www.mironde.com/litterata/6639/feature/das-war-die-buchwien17

Information

Michael Hudson: Finanzimperialismus. Die USA und Ihre Strategie des globalen Kapitalismus. 

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt.

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Super Imperialism. The Economic Strategie of American Empire« im Verlag Pluto Press London

Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2017

ISBN 978-3-608-94753-3 

Im gleichen Verlag erschienen.

Michael Hudson: Der Sektor. Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört. Verlag Klett Cotta, Stuttgart 2016

ISBN 978-3-608-94748-9 

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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