Reportagen

VOM GEIST DER GOETHE-ZEIT

Am 15. Oktober 2020 lud die Goethe-Gesellschaft Chemnitz zur Buchvorstellung eines literarischen Wanderführers mit dem Titel „Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn“ in die Neue Sächsische Galerie in das ehemalige Kaufhaus Tietz ein.

Siegfried Arlt, der langjährige Vorsitzende der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft, begrüßte voller Freude die Gäste, die es trotz der Corona-Bedrohung und Nahverkehrs-Bestreikung auf sich genommen hatten, ins abendliche Chemnitzer Stadtzentrum zu kommen. Er bedauerte, dass einige Mitglieder aus Risiko-Gebieten nicht anreisen konnten. Andreas Eichler, ein Mitglied der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft, stellte den literarischen Wanderführer vor. 

Auf einer großformatigen Leinwand konnten ihm die Zuschauer auf seiner Wanderung zu Heinrich von Veldeke (geb. 1140/50) auf die Neuenburg, zu Wolfram von Eschenbach (geb. 1175/80) und Walther von der Vogelweide (geb. 1170) auf die Wartburg, zu Mechthild (geb. 1212) nach Magdeburg und Kloster Helfta, zu Eckhardt von Hochheim (geb. um 1260) nach Tambach-Dietharz und Erfurt, zum anonymen Verfasser des „Frankfurters“, zu Martin Luther (geb. 1483) nach Erfurt und Wittenberg, zu Thomas Müntzer (geb. um 1489) nach Stolberg und Mühlhausen, zu Valentin Weigel (geb. 1533) nach Wittenberg und Zschopau, zu Wolfgang Ratke (geb. 1571) nach Köthen und Gotha, zu Jakob Böhme (geb. 1575) nach Görlitz, zu Paul Fleming (geb. 1609) nach Hartenstein und Wechselburg, zu Gottfried Wilhelm Leibniz (geb. 1646) nach Leipzig nach Hannover, zu Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (geb. 1651) nach Dresden, zu Christian Thomasius (geb. 1655) nach Halle, zu Johan Sebastian Bach (geb. 1685) nach Arnstadt und Leipzig, zu Friederike Caroline Neuber (geb. 1697) nach Reichenbach und Laubegast, zu Johann Gottfried Schnabel (geb. 1692) nach Sandersdorf und Stolberg, zu Johann Joachim Winckelmann (geb. 1717) nach Stendal und Nöthnitz, zu Christian Gottlob Heyne (geb. 1729) nach Chemnitz und Göttingen, zu Gotthold Ephraim Lessing (geb. 1729) nach Kamenz und Wolfenbüttel, und schließlich zu Johann Gottfried Herder (geb. 1744) nach Weimar folgen. Gleichzeitig versuchte Eichler zu verdeutlichen, dass alle Literaten aufeinander aufbauten, im Zusammenhang stehen.

Kirchen, Klöster und Schlösser zogen am Auge der Zuschauer vorbei. Ebenso Literaten-Porträts, Denkmäler, Grabstätten und Parkanlagen. Am Ende blieb ein vielschichtiges, nuancenreiches inneres Bild von mitteldeutscher Kultur über einen Zeitraum von etwa 600 Jahren.

Eichler hatte versucht, der Genesis der mitteldeutschen Mentalität zu folgen. Um 1200 erfolgte in der Region zwischen Braunschweig und Görlitz ein Dialektausgleich. Aus Niederdeutsch und Oberdeutsch entstand die mittelhochdeutsche Sprache, die erste gesprochene Nationalsprache. Mit der neuen Sprache entstand eine Erneuerungsdenkweise. Im Unterschied zu den Gebieten, in denen das Latein noch lange dominierte, bildete sich in Mitteldeutschland die Mystik und die Reformation heraus. Hier entstand das Neuhochdeutsche, die Klassik und die Romantik. Die mitteldeutsche Mentalität vermochte über Jahrhunderte Einflüsse aus ganz Europa aufzunehmen und wirkte auch auf ganz Europa zurück. Das waren die Voraussetzungen für ihre Erneuerungsfähigkeit. Verwirklicht werden kann diese Erneuerungsfähigkeit aber in Zukunft nur, so Eichler, wenn das Erbe angeeignet wird.

Eichler, der seine Redezeit gern überzieht, blieb dieses Mal fast im zeitlichen Rahmen. So war noch etwas Zeit für ein Gespräch. Prof. Dr. Friedrich Naumann bemerkte, dass das Buch nicht auf Vollständigkeit ziele, und gerade dadurch anrege, sich mit den dargestellten Personen näher zu befassen. So habe er nach dem Leibniz-Kapitel mit Freude wieder Leibniz-Texte zur Hand genommen. Prof. Dr. Volkmar Kreißig ergänzte, dass die konkreten Orte, an denen sich Kulturgeschichte vollzog, für das Verständnis der Texte bedeutsam sind. Das Buch rege tatsächlich zum Besuch der genannten Orte an.

Gegen 21 Uhr dankte der Vorsitzende dem Referenten und den Gästen für ihr Engagement und wünschte einen angenehmen Nachhauseweg.

Kommentar

Auf der Heimfahrt durch das menschenleere Chemnitz ging uns die Veranstaltung noch einmal durch den Kopf. Auffällig war, dass Eichler dieses Mal seinen Favoriten Johann Gottfried Herder nicht übermäßig heraushob. Dadurch schuf er Raum für die anderen Persönlichkeiten. Man erhielt einen Eindruck vom Geist der Zeit. Am Anfang des zweiten Bandes, der 2021 erscheint, so Eichler, soll auch der Namensgeber der Goethe-Gesellschaft zu Wort kommen. Das Programm der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft macht klar, dass es hier nicht nur um den Namensgeber, sondern auch um seine Zeitgenossen geht. Bettine von Arnim war es, die den Goethe-Mythos nach Berlin brachte. In ihrem und Rachel Varnhagen van Ensens Salon wurde der Geist der Goethezeit mit der preußischen Reformpolitik zur Kulturstaatsidee verbunden. Mit noch so viel „Blut und Eisen“ wäre es Bismarck nicht möglich gewesen, die deutschen Königreiche und Fürstentümer zu einem Nationalstaat zu verbinden, wenn es nicht diese Kulturstaatsidee der Goethezeit gegeben hätte. Immerhin schlug sich diese Idee bei Bismarck im außenpolitischen Konzept nieder, dass Deutschland nur als ein Mittler zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West existieren kann. Außenminister Walther Rathenau, dessen Großeltern Bettine und Rachel kannten, war es, der Bismarcks außenpolitisches Vermächtnis und die Kulturstaatsidee der Goethezeit nach dem Fiasko des Hohenzollernschen Rückfalls in infantile Rüstungs-, Droh- und Machtpolitik im Jahre 1918, wieder zu Leben erweckte. In Versailles hatten die „Sieger“ des Weltkrieges das besiegte Deutschland zum „Alleinschuldigen“ verurteilt. Mit seiner abschließenden Rede auf der Konferenz von Genua, am 19. Mai 1922, proklamierte Rathenau eine Politik für das 20. Jahrhundert. Nach einem Dank an das Gastgeberland Italien fasste Rathenau vier auf der Konferenz unausgesprochene Wahrheiten, die für die Weiterführung des eingeleiteten Verständigungsprozesses wichtig sind, prägnant zusammen. Der deutsche Außenminister dankte abschließend noch einmal dem Gastgeberland Italien und zitierte in italienischer Sprache den Dichter Petrarca. (Rathenau, Walther: Rede auf der Vollversammlung der Genueser Konferenz; In: Rathenau, Walther: Reden. S. Fischer Verlag. Berlin 1924, S. 398-403) Sein Biograph Harry Graf Kessler, der bei der Rede zugegen war, bemerkte, dass Rathenau am Ende von den Vertretern der Staaten Europas gefeiert wurde, wie ein Fürst.

Thomas Mann war es, der während des Zweiten Weltkriegs den Geist der Goethezeit gegen den Rückfall der faschistischen Regierung in die verhängnisvolle Hohenzollersche Rüstungs-, Droh- und Machtpolitik mobilisierte. Thomas Mann war es auch, der nach dem Ende der wiederholten Katastrophe den Geist der Goethezeit, das außenpolitische Vermächtnis Bismarcks und Walther Rathenaus Entwurf einer neuen Politik für das 20. Jahrhundert, als Gebot der Stunde charakterisierte.

Eine Voraussetzung für die heutige Anwendung unseres großen Erbes ist jedoch, dass wir es kennen, dass wir es aktiv aneignen. Insofern ist der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft für ihre jahrelanges Arbeit, wie für die Veranstaltung zu danken. Die Metapher der literarischen Wanderung ist geeignet, uns der Problematik auf amüsante Weise zu nähern. Die im Buch zitierten Bücher sind heute alle antiquarisch erwerbbar. Zudem, so betonte Frau Eichler, sind die im Buch dokumentierten Orte alle mit einer Tagesreise erreichbar. In der Tat weist Mitteldeutschland eine hohe Dichte kulturell bedeutsamer Orte auf. Also Dank den Mitgliedern der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft für diese Anregungen zur Eigenaktivität.

Johannes Eichenthal

Information

Andreas Eichler: Von den Minnesängern bis Herder. 

Sprache und Eigensinn. Teil 1. 

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, 203 farbige Abbildungen, 22 Karten Bis 31.12.2020 nur 29,34 €

ISBN 978-3-96063-025-8 

In allen Buchhandlungen oder direkt beim Verlag erhältlich: http://buchversand.mironde.com/epages/es919510.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/es919510/Products/9783960630258

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

One thought on “VOM GEIST DER GOETHE-ZEIT

  1. welch eine Fülle von Informationen! man brauchte noch ein paar Leben um all die Orte in Mitteldeutschland zu erkunden und sie im Zusammenhang mit dem Geist jener, die diese Orte für die Nachwelt mit ihren Ideen belebt und damit unvergesslich gemacht haben, zu erfassen.
    sehr anregend. Danke, Andreas Eichler

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