Rezension

EIN PRIESTER DER EISENBAHN

Sehr geehrte Damen und Herren,

heute möchten wir Ihnen einen Gastbeitrag Prof. Dr. Reiner Neuberts vorstellen.

Johannes Eichenthal

Ein Priester der Eisenbahn – das ist Jaroslav Rudiš (1972 geb.) nicht erst seit heute. Soeben hat er eine »Gebrauchsanweisung fürs Zugfahren« (2021) veröffentlicht, die sein bisheriges literarisches Schaffen genial vervollständigt. Bereits in den zwei Bänden »Alois Nebel« (2012/2013) hatte er sich über die Figur seines Großvaters zur engen Bindung an die Eisenbahn geäußert, dem die Kursbücher »heilige Schriften« waren, die er sorgsam aufbewahrte und studierte. Und im Roman »Winterbergs letzte Reise« (2019) wurden Erlebnisse über die Schienenstränge in ganz Europa anspruchsvoll inszeniert. Im neuen Buch nun geht Rudiš von seinem Wunsch aus, Eisenbahner werden zu wollen, der ihn schon in seiner Kindheit befiel und bis heute nicht losließ. Wenn er damals kein Brillenträger gewesen wäre, hätte sein Leben in jenem Umfeld stattgefunden. Aber das geschieht auch jetzt noch, denn Zugfahren ist – neben dem Schreiben und oft Bier (oder selten Espresso) zu trinken – seine Leidenschaft geblieben. Europaweit war und ist er gern mit Zügen unterwegs, um seine Eindrücke von Landschaften, Brücken und Tunneln, Gaststätten und Denkmalen, Typen von Loks und Waggons, von Speisewagen und spezifischen Angeboten darin wahrzunehmen, und das in unterschiedlichsten Situationen und Ländern. Besonders sind es jedoch die Begegnungen mit Menschen, die ihn zufällig trafen oder die er immer wieder aufsucht, um gemeinsam den Geruch der Dampfrösser einzuatmen und sich vom »Eisenbahnparfüm« (S. 18) betören und betäuben zu lassen.

Als Jugendlichen verschlug es ihn nach Prag-Žižkov, wo er eine winzige Wohnung nahe eines Bahnhofs bezog, die nicht nur der Lautstärke wegen den Eindruck vermittelte, die Züge ratterten durch seine Behausung. Aber Rudiš begriff diese »Blockstelle« (S. 25) als Lieblingsort, ebenso wie die klassischen Schriftsteller B. Hrabal, J. Hašek oder F. Kafka, zu denen er sich traditionell immer wieder bekennt, weil jene auch stets von derartigen markanten Punkten angezogen worden waren. Besondere Freunde von Rudiš sind der Lokführer Židlík und der Oberkellner Peterka, die er oft unterwegs trifft, meist auf seiner Lieblingsstrecke von Hamburg über Berlin, Dresden nach Prag bzw. retour. Viele Episoden über Schicksale von Reisenden, Gestrandeten in Bahnhofskneipen, Aufenthalten in Hotels zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten, aber auch von wichtigen Ereignissen werden erzählt, die von der Eisenbahn aus geschahen (Auslösung des ersten Weltkriegs; Lenins Anreise 1917 nach St. Petersburg; Schwejks Zugabenteuer; die »Überschienung« der Alpen u. v. a.).

Der gesamte Text ist ein wohltuendes Konglomerat aus ästhetisch anspruchsvoll geschilderten persönlichen Eindrücken von unzähligen Reisen des Autors, gestützt nicht nur auf den Baedeker aus dem Jahre 1913, der bereits in »Winterbergs letzte Reise« die Routen der zentralen Figur bestimmten, sondern auch von Kartenmaterial, auf dem Eisenbahnstrecken markiert gewesen waren und sind. Andererseits werden oft Zahlen und Fakten eingestreut, die den Leser erstaunen oder erschauern lassen: Die Gotthardbahn in der Schweiz bspw. weist 80 Tunnel und 324 Brücken auf (S. 164), ein Tunnel davon sei 14 km lang (!), und von den jeweiligen Erbauern jener technischen Meisterleistungen existierten mehrere Denkmale, aber über die unzähligen Menschenopfer, die während aller Bauphasen geschahen, seien die Angaben vage.

Rudiš Bahnerlebnisse erstrecken sich kreuz und quer durch Europa und Asien, sowohl auf international bedeutsame Routen als auch auf welche in Randgebiete und –orte, wo sich gar Lieblingsbahnhöfe befinden. Von Popelkou bzw. Lomnice in Nordböhmen aus lässt uns der Autor teilhaben an seinen Ausflügen in den Norden (Finnland, Schweden, Norwegen), in den Süden (Italien, Sizilien), den Osten (Wladiwostok) und den Westen (Belgien, Frankreich), mehrfach auch in die Mitte Europas. Einmal skizziert er seine Reise mit zwei Freunden, die ihn ringsum und quer durch Deutschland beförderte, wie man sie auf der Basis eines 40-Stunden-Tickets zu unternehmen vermag. Das sind 2600 km in 14 Zügen und einigen Flussüberquerungen sowie mit Hunderten von Geschichten über Geschehnisse, die man unterwegs erlebte. Von Leipzig aus über Nürnberg, München, Ulm, Karlsruhe, Mainz, Limburg, Göttingen, Hannover, Hamburg, Lübeck, Kiel nach Wittenberge, und Berlin ist das Ziel, neben nicht aufgezählten kleineren Ortschaften, wo man ebenfalls umsteigen musste.

Immer wieder werden klassische Vorbilder in den Erzählfluss eingebracht; die »Abenteuer des guten Soldaten Schwejk« als Eisenbahnroman von J. Hašek und F. Kafkas Reise mit M. Brod in die Schweiz; A. Dvořáks musikalische Reise entlang der Moldau und der Sound des unnachahmlichen Blues von J. Leskinen, L. Armstrong, H. Qualtinger und G. Gundermann, der den Geräuschen der Züge nicht nur näher komme, sondern berauschend wirke auf Reisende und den Leser. Dass zu einigen seiner Lieblingsbrücken auch die Göltzschthal-Brücke im Vogtland zählt, dürfte nicht verwunderlich sein.

Nicht nur, weil ich früher ebenfalls oft per Bahn unterwegs gewesen war und bspw. einige Jahre die längste Strecke in der Tschechoslowakei von Cheb nach Kočice (nur bis Pilsen) befuhr, aber auch die Transsibirische Eisenbahn von Moskau nach Irkutsk und auf einigen anderen Strecken Züge benutzen konnte, kann ich die bildhaft gestalteten Episoden begeistert wahrnehmen: vom Fenster aus mit Bahnblick. Dass Rudiš die Loks der Züge mit Namen von Lebewesen versieht, ist dabei folgerichtig: Brillenschlange, Adler, Gazelle, Spitzmaus, Elefant, Krokodil u. a., und der Ausdruck »Taigatrommel« klingt mir noch rhythmisch im Ohr.

Der Text motiviert sensibel und faktenreich, Gebrauch von diesem literarischen Angebot zu machen!

Reiner Neubert

Information

Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung fürs Zugfahren. München: Piper Verlag GmbH 2021. 253 Seiten. Preis 15 Euro. ISBN 978-3-492-27749-5.

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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