Rezension

DAS VIRTUELLE UNIVERSUM. FIKTION ODER REALITÄT?

Klaus Kayser, Professor für Pathologie und Epidemologie, promovierter Mediziner und Physiker will mit diesem Buch die „Realität“ eines „virtuellen Universums“ begründen. Er vermag dabei die Sicht mehrere Wissenschaftsdisziplinen zu vereinigen. Allein ein solches Vorgehen ist im heutigen Wissenschaftsbetrieb, der in Hyperspezialisierung erodiert, ein singuläres Unterfangen.

Kayser konstatiert eine neue Lage für die tradierte Aufgabenstellung: „Wir bewerten die Arbeit des Gehirns als Intelligenz und bei Übertragung auf maschinelle Systeme als ‚künstliche Intelligenz‘, die uns die Tür zu einer anderen Welt, dem virtuellen Universum öffnet.“ (S. 7) Und er fügt an: „Die Sprache der Wissenschaft ist die Mathematik.“ (S. 11)

Am Ende des Abschnitte – 2.1 Grundlagen und Definitionen – fasst er seine Position in sieben Punkten zusammen. Punkt 1 lautet: „Jedes Ereignis im Universum und auch das Universum selbst haben einen Anfang und – nach den hierfür gültigen Berechnungen – wahrscheinlich auch ein Ende.“ (S. 20) Diese These spielt in Kaysers Darstellung eine zentrale Rolle: „Nach der heute gängigen Vorstellung über den Ursprung des Universums ereignete sich vor 13,8 Milliarden Jahren ein Urknall, aus dem sich die uns heute zugängige Welt entwickelte.“ (S. 20) In der Weiterführung seiner These schreibt er: „Die allgemeingültige Theorie des Urknalls beschreibt spezifisch die Entwicklung des uns heute zugängigen Universums aus einer Singularität.“ (S. 28)

Im Bemühen um die Konkretisierung seiner Vorstellung von einer „Grenze der Singularität“ kontrastiert Kayser immer wieder die Entwicklung des Universums mit der Entwicklung von Zellen. Er berührt dabei die Theorie der Hyperzyklen (Eigen/Winkler), die Gaia-Hypothese (Margulis/Lovelock) und den Entropie-Begriff. Gleichzeitig verwendet er zahlreiche Beispiele aus digitalen Bildgebungsverfahren.

Auf Seite 63 kommt der Autor auf seinen Buchtitel zu sprechen – 4. Die virtuelle Welt. Der erste Satz lautet: „Elektromagnetische Felder und ihr Nachweis sind ohne Zweifel ein Bestandteil der realen Welt. Zusammen mit der Gravitation der schwachen und starken Wechselwirkung gehören sie zur grundlegenden naturwissenschaftlichen Beschreibung unserer Umwelt und der in ihr nachweisbaren Ereignisse, Strukturen und Funktionen.“ (S. 64)

In der Folge bestimmt Kayser ein „virtuelles Universum“ mit einer Nominaldefinition: „Ein virtuelles Universum ist definiert als eine Menge von Ereignissen, Strukturen und einwirkenden Kräften, die sich unabhängig von den realen physikalischen Grundgesetzen ausschließlich in einer virtuellen (zum Beispiel elektromagnetischen) Realität ausgebildet haben und dort nachzuweisen sind. Darin eingeschlossen sind Transformationen aus der realen Welt.“ (S. 67)

Nach der Behandlung zahlreicher Beispiele aus der digitalen Bilderfassung und Bildauswertung folgt Kapitel 5 Universum und Ereignis. Der erste Satz lautet: „Ein reales und ein mögliches virtuelles Universum muss nach menschlicher Vorstellung vom Grundsatz her ein Raum-Zeit-Gebilde sein.“ (S. 85)

In der Folge führt Kayser einzelne Aspekt der Analyse digitaler Bildverfahren an.

Punkt 5.1 – Textur, Ereignis und Struktur im realen Universum. Der erste Satz lautet: „Das beobachtbare Universum ist definiert als die Gesamtheit der beschreibbaren Koordinatenachsen (Raum und Zeit) und der in ihm enthaltenen und somit beobachtbaren Elemente.“ (S. 87) Punkt 5.2 – Intelligenz und Universum (S. 94) „Intelligenz“ wird hier im semiotischen Sinne mit „Signal“ gleichgesetzt. Punkt 5.3 – Hierarchisch und parallel geordnete Systeme“ (S. 105) Punkt 5.4 – Oberflächen und Grenzen (S. 108) Punkt 5.5 –Statistische Methoden und reales Universum“ (S. 111) 5.6 Kommunikationsebnen (S. 113)

Im Punkt 6 – Schnittstellen des realen zum virtuellen Universum – formuliert Kayser Voraussetzungen: „Sind diese Voraussetzungen erfüllt, dann können dynamische Zustände beziehungsweise Vektoren in ideale Skalare mit den Eigenschaften einer Abel Halbgruppe eindeutig in die virtuelle Welt transformiert werden. Im so konstruierten Universum gilt dann …“ (S. 116)

Im Buchtitel hatte Kayser die rhetorische Frage gestellt, ob ein KI-Universum Fiktion oder Realität sei. Aber ist das Korrelat zu Fiktion/Konstrukt nicht „Wirklichkeit“? Geht es nicht darum zu wissen, wie die Kräfte wirken? Sind Anfang/Ende, Raum/Zeit wirklich Eigenschaften des Universums oder menschliche Konstrukte? Kann man mit mathematischen, logischen, widerspruchsfreien Konstrukten, mit rein quantifizierenden Verfahren, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge überhaupt erfassen oder nur quantitative Relationen? Ist die „Intelligenz“ der KI nicht in ihrem Wesen bloßes „Rechnen“?

Unabhängig von diesen Fragen ist der Versuch der Erfassung des Zusammenhangs von Mikro- und Makrokosmos, mit dem sich Kayser in einer großen Tradition – von Aristoteles über Paracelsus, Spinoza und Leibniz bis Erasmus Darwin stellt – nicht hoch genug zu schätzen.

Johannes Eichenthal

Information

Klaus Kayser: Das virtuelle Universum. Fiktion oder Realität? 

Lehmanns Media Berlin 2021

ISBN 978-3-96543-209-3

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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