Reportagen

DIE ERBSCHAFT UNSERER ZEIT

Der 27. Januar 2022 war auch in Hohenstein-Ernstthal ein nasskalter, stürmischer Wintertag. Doch 20 Besucher machten sich auf den Weg in das Textil- und Rennsportmuseum. (Mehr Anmeldungen waren nach den geltenden Regeln nicht möglich.) Dort stellte der Mironde Verlag den zweiten Band der Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland mit dem Titel VON GOETHE BIS RATHENAU, der von Johannes Eichenthal verfasst wurde, vor.

Frau Palm, die Museumsleiterin begrüßten die Gäste.

Herr Kreul vom Geschichtsverein Hohenstein-Ernstthal begrüßte ebenfalls die Gäste.

Dr. Andreas Eichler, der Programmleiter des Mironde Verlages, musste den Autor des Buches in der Vorstellung vertreten. Eichler führte mit Bezug auf den ersten Band der Literarischen Wanderungen durch Mitteldeutschland mit dem Titel VON DEN MINNESÄNGERN BIS HERDER in den zweiten Band ein. Er hob besonders die Erbschaft der sprachlichen und kulturellen Überlieferung hervor. Man kann sich das Erbe nicht aussuchen, so Eichler, und man kann sein Erbe nur als Ganzes, in der Gesamtheit seiner widersprüchlichen Beziehungen, annehmen oder als Ganzes ablehnen. Wenn man sein Erbe in Gänze annimmt, erwächst daraus eine große Aufgabe zur Konstituierung der eigenen regionalen Kultur (Mentalität). Aber mit diesem Unterfangen gewinnt man Zukunftsfähigkeit. Wenn man seine kulturelle Erbschaft ablehnt, dann ist man kultur- und zukunftslos. Es gelte daher mit Besonnenheit der eigenen Erbschaft gerecht zu werden. (Besonnenheit ist die Anwendung von Weisheit, der Einheit der Gegensätze Glauben und Vernunft.)

In der Darstellung wurden diese abstrakten Sätze Eichlers dann lebendig. Karl Stülpner, der als mündlicher Erzähler im Erzgebirge große Berühmtheit erlangte, erhielt durch den Autor Schönberg die einmalige Chance seine Lebensgeschichte in Buchform zu veröffentlichen. Ausgerechnet in der Buchstadt Leipzig verhaftetet man Karl Stülpner 1835 und beschlagnahmte seine Bücher. Erst 1973 veröffentlichte das Zentralantiquariat der DDR in Leipzig die Lebensgeschichte Stülpner/Schönbergs als Reprint, noch dazu mit der Einbandgestaltung von Professor Werner Klemke. Die Abenteuer Stülpners wurden im Erzgebirgsraum in mündlicher Form weitergegeben. Die Geschichten lagen gewissermaßen in der Luft. Die Episode, in der Stülpner nach einer überfallartigen Durchsuchung des Hauses seiner Mutter, die der Thumer Richter Günther angeordnet hatte, dieses 79-Mann-Durchsuchungskommando von einer Scharfschützenposition mit seinem berühmten Stutzen einen Tag lang gefangen hielt, und zum Gespött des ganzen Erzgebirges machte, diese Episode dürfte die Großmutter Karl Mays ihrem Enkel erzählt haben. 

Am Beispiel der Dresdner-Vorlesungen über die NACHTSEITEN DER NATURWISSENSCHAFTEN des gebürtigen Hohensteiner Pfarrerssohnes Gotthilf Heinrich Schubert hob Eichler dessen Hauptkritikpunkt hervor: die Disziplingrenzen der akademischen Forschung zerstückeln die Natur und machen ein Bild vom Naturkreislauf unmöglich, die europäische Forschung schätzt die Kultur anderer Völker nicht und die medizinischen Erfahrungen der Naturvölker werden zu unrecht gering geschätzt. Die wissenschaftlichen Schriften und die Abenteuerromane Schuberts werden in der Hohenstein-Ernstthaler St. Christophori-Kirche aufbewahrt.

Beim Vorstellen Karl Mays machte Eichler darauf aufmerksam, dass May in der Vorrede zu Winnetou 1 die Frage stellte, warum die Europäer den amerikanischen Ureinwohnern nicht die Zeit gegeben hätten sich selbst zu entwickeln? Warum mussten die Europäer ihnen die europäische Kultur aufzwingen? 

Eichler verwies auch darauf, dass die Einladung nach Wien, die May kurz vor seinem Tod annahm, von dem jungen Schriftsteller Robert Müller veranlasst wurde. Müller veröffentlichte in der berühmten Literaturzeitschrift BRENNER ARCHIV vor dem May-Besuch einen Artikel, in dem das Werk des Meisters gegen missgünstige Kritik verteidigt wurde. Müller und sein Freundeskreis in Wien (Erhard Buschbeck, Kurt Hiller, Egon Schiele, Otto Flake, Robert Musil u.a.) nahmen May dem Anschein nach mit den Augen der nächsten Generation wahr. Müller hatte ein Reise nach Südamerika hinter sich. Sein Roman TROPEN, der nach der Reise entstand, erinnert an den Werner-Herzog-Film FITZCARRALDO, in dem Klaus Kinski die Hauptrolle spielte.

Foto: Wolfgang Schmidt

Beim Vorstellen des Ethnologen Franz Boas hob Eichler hervor, dass dieser dort ansetze, wo Karl May aufgehört habe. Es sei ihm nicht bekannt, ob Boas Mays Romane kannte. Aber der ungeheuer vielseitig ausgebildete Wissenschaftler, der frühzeitig an Expeditionen teilnahm, widmete sich nach der Übersiedlung in die USA der Erforschung der Kultur der Ureinwohner, vor allem an der Nordwestküste. Zusammen mit Schülern, vor allem mit dem Sprachwissenschaftler Edward Sapir, dokumentierte Boas hunderte indianische Dialekte vor deren Aussterben. In seinem Buch THE MIND OF PRIMITIVE MAN (1911), das 1914 in Deutschland unter dem Titel KULTUR UND RASSE erschien, begründet Boas auf der Grundlage empirischer Forschung und historischer Kenntnisse, dass es die eine Fortschritts-Stufenleiter, die alle Völker absolvieren müssen, und die die Europäer als erste absolviert hätten, nicht gibt. Von verschiedenen Ausgangspunkten und auf verschiedenen Wegen sind ähnliche Ergebnisse möglich. In ihren Besonderheiten sind sich alle Kulturen ähnlich. Es gibt keine Kultur, die das Universale oder das Allgemeine der menschlichen Kultur an sich, sozusagen die REINE KULTUR verkörpert. Allgemeine Momente finden sich in allen besonderen Kulturen.

Eichler verwies hier, wir hatten es bereits erwarten, denn Johann Gottfried Herder ist sein Lieblingsphilosoph, darauf, dass Boas dem Anschein nach in seiner Geschichtsauffassung ebenfalls an Herder anknüpfte. Herder hatte den Auftritt Roms auf der Bühne der Weltgeschichte mit dem Auftauchen eines neuen Kontinents aus dem Ozean der Geschichte verglichen, der nach Ablauf seiner Zeit wieder überflutet wurde. In den IDEEN ZUR PHILOSOPHIE DER GESCHICHTE DER MENSCHHEIT habe Herder bei konkreten historischen Ereignissen angesetzt und daraus Zusammenhänge erklärt. Herder habe betont, dass es keine »Logik der Geschichte« gäbe. Freilich sei die Menschheit Teil der Natur und werde von Naturgesetze bestimmt. Wenn in der Natur Gleichgewichte verletzt werden, dann setzen Gegenbewegung ein. Wenn Menschen oder Staaten anderen Gewalt antun, dann komme diese Gewalt am Ende auf die Urheber zurück. Es gibt ein Gesetz der Vergeltung.

Aus dieser Geschichtsauffassung Herders und Boas’, so fasste Eichler am Ende zusammen, ergeben sich Konsequenzen für die Sicht auf unser sprachlich-literarisches Erbe. Es gibt keine linear aufsteigende »Fortschritts-Logik«. Es gibt kein universales oder allgemeines Kriterium für die Einschätzung der Erbschaft. Es gibt nur die konkret-historischen Entwicklung. Die sprachlich-literarische Erbschaft wird durch Individuen und Generationen über Familienverhältnisse überliefert. Sprache basiert auf dem materiellen Verhältnis des Familienzusammenhangs. Die Überlieferung der Erbschaft setzt sich damit langfristig durch. Alle Vereinnahmungsversuche sind langfristig erfolglos. Das beweise ein Blick in die Antiquariate. Das heißt aber, so betonte Eichler, dass man auf die Kanon-Bildung zur Hervorhebung bestimmter Autoren oder auf die Bildung von Anti-Kanons zum Ausschluss bestimmter Autoren, wie auch auf ideologisch motivierte Traditionsbildung verzichten sollte. Diese Vereinnahmungsversuche verzerren lediglich unseren Blick auf die Erbschaft. Es gelte dagegen mit Besonnenheit der Erbschaft unserer Zeit in ihrer Gänze gerecht zu werden. 

Clara Schwarzenwald

Information

Johannes Eichenthal: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 2. Von Goethe bis Rathenau.

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Fotos, Karten und Abbildungen 

VP 29,90 €  

ISBN 978-3-96063-026-5

Lieferbar

Andreas Eichler: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland.

Sprache und Eigensinn 1. Von den Minnesängern bis Herder.

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche Abbildungen 

VP 29,90 €  

ISBN 978-3-96063-025-8

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

One thought on “DIE ERBSCHAFT UNSERER ZEIT

  1. Was aber tun, wenn keine Zeitzeugenberichte oder historische Aufarbeitungen vorhanden sind für spätere Generationen? Hier besteht in der Gegenwart erheblicher Nachholbedarf. Hinderlich sind auch Ablehnungen oder „Verschwindenlassen“ von Beiträgen in Redaktionsstuben. Oft entscheiden Jüngere über die Arbeiten Älterer, die eine andere Sichtweite der Dinge haben. Siehe Stülpner -Verschwinden in Leipzig Siehe auch heutiger“Mainstream“., der Vieles Erhaltenswerte unterbuttert .

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