Reportagen

Mythos Oßmannstedt

Das Tal der Ilm weitete sich. Die unendlichen Schneeflächen beruhigten nach der langen Autobahnfahrt unsere Blicke. Baumgruppenstrukturen wuchsen am späten Nachmittag hier und da hervor. Am Ortseingang verwies man mit drohender Geste auf Baustellen. Aber der Parkplatz lud uns liebenswürdig mit gähnender Leere zum Verweilen ein.

 

Nur wenige hundert Meter auf verschneiten Parkwegen: schon stehen wir vor einem Grabmal am Ufer der Ilm. Der Gedenkstein erinnert an Christoph Martin Wieland, der heute vor 200 Jahren, am 20. Januar 1813 verstarb. Damals war Wieland ein europaweit bekannter und geachteter Publizist. Der Verleger Göschen gab eine umfängliche Werkausgabe heraus. Wielands Romane und Erzählungen wurden von breiten Kreisen des jungen, aufstrebenden Bürgertums gelesen. Wieland war damals eine Berühmtheit. Noch heute spüren wir etwas Besonderes an diesem Ort. Die hohen, alten Bäume rauschen im Wind. Es ist, als sei Wieland eben erst vorbeigegangen.

 

An Wieland Grabstätte wurden auch seine Frau und die früh verstorbene Sophie Brentano, eine Art angenommene Tochter, im Park des Landgutes Oßmannstedt beigesetzt. Man kann von einer Familiengrabstätte sprechen. Wieland fühlte sich seit 1797 in Oßmannstedt sehr wohl. Bekannt sind seine Vergleiche mit dem Landgut des großen Horaz. Aber der Umstieg auf den Beruf des Landwirtes gelang ihm nicht. 1801 verstarb seine Frau. 1803 musste Wieland das Gut mit dem großen Landwirtschaftsbetrieb wieder verkaufen.

 

Christoph Martin Wieland war am 5. September 1733 in Biberach geboren worden. Seine Lehr- und Wanderjahre zogen sich fast eine Ewigkeit hin. 1769 wurde er endlich als Professor nach Erfurt berufen. Die junge, weitsichtige und souveräne Herzogin-Witwe Anna Amalia beauftragte ihn 1772 mit der Bildung und Erziehung der beiden Prinzen in Weimar.

 

In Weimar erwies sich Wieland als ein leiser Stratege. Neben seiner Tätigkeit als Erzieher und Dichter gab er die Zeitschrift »Der Teutscher Merkur« heraus. Er schrieb nicht nur selbst eine kaum überschaubare Zahl an Artikeln und Rezensionen, sondern bot mit dem Merkur auch eine Plattform für verbindliche Kritik. Wieland betrachtete sich als Kritiker im Sokratischen Sinne als Mäeutiker, Geburtshelfer. Und er erwies sich im tieferen Sinne als »Landwirt«, als »Agrikulturist« von Rang. Er pflanzte und hegte die kulturelle Atmosphäre, die später den jungen Goethe, den weltmännischen Herder, den gehetzten Schiller und viele andere große Geister nach Weimar zogen. Wieland vermochte die naseweisen Spötteleien Goethes souverän hinzunehmen. Beleidigungen und Rechthabereien waren seine Sache nicht. Er öffnete sich den Außenseitern Lenz und Kleist. Wieland stand auch dem großen Herder nach Veröffentlichung seiner beiden Kant-Kritiken bei, die bis heute gerade von denen vehement abgelehnt werden, die sie am wenigsten kennen.

Als Übersetzer und Herausgeber leistete Wieland Gigantisches. Er war so etwas wie das Zentralgestirn des »Sonnensystems Weimar«. Sein Tod ließ eine große Leerstelle entstehen.

 

Die Trauerrede Goethes »Zum brüderlichen Andenkens Wielands« am 18. Februar 1813 in der Freimaurerloge »Amalia« fasste den Verlust in Worte.

 

Walter Benjamin schrieb für die Frankfurter Zeitung 1933 einen Artikel auf den 200. Geburtstag Wielands. Er konstatierte im ersten Satz nüchtern: »Wieland wird nicht mehr gelesen.« Danach bemüht sich Benjamin redlich, um im letzten Satz sagen zu können: »Es gibt Autoren, für deren Fortleben die Möglichkeit, wieder gelesen zu werden, nicht mehr als ein Standbild zu sagen hat. Ihre Fermente sind für immer in dem Mutterboden, in ihre Muttersprache eingegangen. Ein solcher Autor ist Christoph Martin Wieland gewesen.«

Arno Schmidt meinte, dass die Wieland-Kenntnisse einen deutschen Intellektuellen erst zum Intellektuellen machten.

 

Der Hamburger Mäzen Jan Philipp Reemtsma engagiert sich für das Andenken Wielands. Er gab 1984 die Sämtlichen Werke Wielands als Reprint heraus und hilft bei der Finanzierung der Akademie-Ausgabe. In einem Vorwort schrieb er, dass das Urteil von Walter Benjamin nicht mehr zutreffe: Wieland wird wieder gelesen. Vor einigen Jahren finanzierte Reemtsma auch die Renovierung des Landgutes Oßmannstedt.

 

Zum 200. Todestag Wielands erschienen in den Internet-Ausgaben der überregionalen Zeitungen nur wenige Artikel. Die FAZ interviewte Jan-Philipp Reemtsma mit der Überschrift »Warum ich Wieland liebe«. Reinhard Urbach hob in der Wiener Zeitung »Die Presse« hervor, dass Wieland Heiterkeit und Witz besaß. Dennoch sei »er in ein Eck der Literaturgeschichte gestellt (worden), in dem sein Bild verstauben musste«. Die Bemühungen Reemtsmas hätten daran nicht viel geändert. Die »Verbindung von Philosophie und Erotik, Gesellschaftsethik und politischer Satire« habe das deutsche Publikum eher abgestoßen.

Klaus Bellin stellt im »Neuen Deutschland« mit anderen Worten eine ähnliche Diagnose wie Doktor Urbach in Wien. Doch »immerhin« gebe man beim Akademie-Verlag seit 2008 die Oßmannstedter Ausgabe der Werke Wielands heraus. Der Band 15.1 mit dem Versepos »Oberon« erschien gerade. (Verlag de Gruyter, 2012, 581 S., Hrsg. Hans-Peter Nowitzki und Heinz-Günter Nesselrath, Preis 199,95 Euro.) Eine Leser-Entdeckungswelle kann und soll diese Ausgabe wahrscheinlich nicht auslösen.

Aber Bellin verweist uns auf die neue Biographie des Wieland-Kenners Egon Freitag (Christoph-Martin Wieland. Biographie für Liebhaber. Verlag Schnell Buch & Druck, 120 S. br. 12,80 Euro) Diese einführende Biographie ebnet den Weg, um unsere vierbändige Wieland-Ausgabe aus der Bibliothek deutscher Klassiker endlich wieder einmal aus dem Regal zu holen und neu zu lesen.

 

Kommentar

Im Oktober 1812 hielt Wieland vor der Freimaurerloge »Amalia« eine Rede mit dem Titel »Über das Fortleben im Andenken der Nachwelt«. Er machte deutlich, dass seine Vorstellung von »Unsterblichkeit« eher ein Fortleben im Andenken der Nachwelt sei. Aber er sah sich nicht als »Denkmal«, sondern als Anreger, als Impulsgeber von Ideen, die in Umlauf gebracht wurden und nicht mehr den Stempel ihres Urhebers trügen.

Eine ähnliche Sicht der Dinge hatte Johann Gottfried Herder.

Walter Benjamin war es, der diesen Punkt zielsicher zum Fazit seines Wieland-Artikels gemacht hat.

Es geht also nicht darum, alle Werke Wielands gelesen zu haben. Viel wichtiger erscheint uns seine Lebenshaltung, seine Methode: die Mäeutik. Das ist eine annehmbare, sanfte Form der Kritik. Wir werden dazu bewegt, unsere eigenen Vorurteile selbst abzulegen. Manch einer verträgt das jedoch nicht. So zwangen die »lieben Mitbürger« Sokrates zum Trinken des Giftbechers. Wieland kann also noch von Glück sprechen. Die Vertreter des »sanften Weges der Kritik« werden dem Anschein nach gern zuerst abgestraft. Das ist nur auf den ersten Blick paradox. Am besten gefällt es, wenn wir uns bestätigt finden. Dagegen mögen wir es nicht, wenn wir verstört werden. Verstörende Texte meiden wir besser. Keine Experimente!

Sokrates und Wieland hatten einen weiten Begriff von Erotik. Sie vermochten zu lieben, was sie nicht hatten. Heute gibt es nur noch wenige Leser, die sich auf solche Art von geistigen Abenteuern einlassen, auf das Denken des Un-Denkbaren, des Offenen, des Un-Sagbaren, wie sie der Weimarer Sokrates zu erzählen vermochte. Wir hoffen, dass alles bleibt, so wie wir heute glauben, dass es ist, und wissen zugleich, dass sich die ganze Welt im Wandel befindet. Genau das ist unser heutiges Problem.

Johannes Eichenthal

 

Information

 

http://diepresse.com/home/spectrum/literatur/1334515/Kinder-und-Buecher-machen?_vl_backlink=/home/spectrum/index.do

 

http://www.neues-deutschland.de/artikel/810329.von-den-musen-betaeubt.html

 

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten/im-gespraech-jan-philipp-reemtsma-warum-ich-wieland-liebe-12029897.html

One thought on “Mythos Oßmannstedt

  1. Lieber, sehr verehrter Prof. Eichenthal,

    dass sich die ganze Welt im Wandel befindet ist nicht zu bestreiten und es ist wohl ein immerwährender, ein dem Weltenlauf, dem Gang der Dinge immanenter Grundzug. Er äußert sich heute nur anders als vor zwei-tausend Jahren. Heute kommuniziert die Menschheit in Lichtgeschwindigkeit, was allerdings nicht gleichbe-deutend ist mit der Gründlichkeit des Denkens im Allgemeinen. Deshalb beklagen wir ja so viele Flüchtig-keitsmerkmale in unserer Zeit, Lösungen, die sich als „Flickschusterei“ entpuppen – die, heute hochgelobt, morgen verworfen werden. Warum? Ein Grund kann wohl darin bestehen, weil sie ungenügend durchdacht sind, weil die Zusammenhänge komplexer geworden sind und möglicherweise schon daher mehr Konzen-tration, mehr Gründlichkeit verlangen. Weniger Zeit, gemessen an der Lebenszeit des Einzelnen, haben wir gegenüber den Vorfahren nicht. Offenbar berauben wir uns nur im tagtäglichen Leben der Zeit und reden uns ein „keine Zeit, keine Zeit … „. Der Reizüberflutung versuchen wir zwar theoretisch mit „selektiven Denken zu begegnen, aber Gewinnmaximierung und Wachstumssucht stehen allen Überlegungen zur Ent-schleunigung der Prozesse entgegen.
    Sie, lieber sehr verehrter Herr Eichenthal haben sich die Zeit genommen und sind am Todestag des großen Dichters und Denkers nach Oßmannstedt gefahren – seiner zu gedenken. Sie haben uns in Ihrer Betrach-tung vieles in Erinnerung gerufen, manches Bekannte und Unbekannte.
    Denken wir an jene Tage zurück, an die Sie erinnern, dann blieb Goethe, dem Verfasser der „Rede zum Andenken an Wieland“, wenig Zeit. Am Sonntag, den 24. Januar vermerkt Goethe in seinem Tagebuch:
    „Aufsatz wegen Wieland schematisiert“. Bis 05. Februar arbeitet Goethe an der Rede. Der zu Rate gezoge-ne Landkammerrat Karl Bertuch bemerkt in einem Brief an Böttiger am 04. Februar u.a.: „Goethe ehrt mit großer Wärme Wielands Andenken, was seinem Herzen große Ehre macht … „, der später (12.Mai 13) urteilt: „… Die Rede als Kunstwerk, als Charakterbild an sich betrachtet, muß ich sie als das Schönste rechnen, was G. (Goethe) in späterer Zeit geliefert hat, unter das Schönste, was Deutschland in dieser Gattung besitzt.“
    Zuerst wurde die Goethesche Rede als Manuskript gedruckt, später erschien diese in den „Freymaurer-Analekten, II. Heft, 2. Gotthold Deile veröffentlichte sie im „Sonderheft zu den Stunden mit Goethe“, Berlin
    1908, S.197 bis 227 im Wortlaut.
    Insofern ist Ihnen verehrter Herr Prof. Eichenthal nicht nur zu danken, sondern Ihren „LitteratA“ höchstes
    Lob zu zollen.

    Ihr ars.

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