Am Abend des 30. Januar zog es die Chemnitzer, die einen Sinn für Kultur haben, in die Villa Esche. Der geniale Henry van de Velde war es, der dieses Bauwerk vor mehr als 100 Jahren für die Chemnitzer Handschuhfabrikantenfamilie Esche, bis in die kleinsten Details der Einrichtung, entwarf. In der Dunkelheit nahm die Villa für uns die Dimension eines Tempels an.
In der großen Halle der Villa versammelten sich die Besucher. Der Andrang war groß. Zusätzliche Stühle mussten herangebracht werden. Immer neue Besucher trafen ein. Am Ende waren nahezu alle erschienen, die ein Herz für die Chemnitzer Kultur haben. Es mögen zwischen 150 und 200 gewesen sein.
Hausherrin Dr. Andrea Pötzsch begrüßte die Gäste zur Ausstellungseröffnung unter dem Titel »Die Bauhauskünstlerin Marianne Brandt« und dankte der Chemnitzer Marianne-Brandt-Gesellschaft und dem Industrie Museum Chemnitz. Erstmals würden Exponate gezeigt, die Marianne Brandt zwischen 1929 und 1932 in den Gothaer Ruppel-Werken formte, und die anschließend im Industriemuseum als Dauerleihgabe verblieben.
Der Kunstsammler Bernd Freese aus Frankfurt/Main näherte sich in seinem Vortrag der »Bauhauskünstlerin« aus der Sicht eines Sammlers. Er zitierte ausgiebig aus bisher unveröffentlichten Briefen von und an Marianne Brandt. Besonders interessant war für uns der Briefwechsel mit Imre Moholy-Nagy. Er schrieb »Liebe M.«, sie antwortete »Lieber M. N.« (Und das vor Erfindung von der SMS!)
Interessant auch die Erinnerung an die erste Bauhausausstellung der Leipziger Galerie am Sachsenplatz von 1976. Die zweite, mit Exponaten von Marianne Brandt, folgte bereits 1977. Am Ende versuchte Bernd Freese den Wert der Produkte von Marianne Brandt mit heutigen Preisen am Kunstmarkt zu verdeutlichen.
Der Formgestalter Prof. Karl Clauss Dietel aus Chemnitz sprach als zweiter Referent. Er erinnerte daran, dass Chemnitz das Industriezentrum Sachsens war, und dass Marianne Brandt mit dem Rhythmus der Industrie aufgewachsen sei. Marianne Brandt habe sich für den Beruf des Industrieformgestalters entschieden, einem der schönsten aber auch »härtesten« Berufe. Im Anschluss gab Dietel den Gästen eine Beschreibung des Brandtschen Lebens. Mit Klängen eines Klavier- und Violin-Duos schloss der Vortragsteil. Der Weg zur Ausstellung im Ersten Stock wurde freigegeben. Die Besucher strömten zu den Vitrinen …
Es war ohne Zweifel ein Ereignis. Wir bedauern alle, die nicht da waren.
Kommentar
Im Jahre 2001 erschien im Chemnitzer Verlag eine Marianne-Brandt-Biographie mit dem Titel »Hab ich je an Kunst gedacht«. Der Titel ist ein Zitat der Künstlerin. Er ist keine Absage an die Kunst, sondern ein Zeugnis ihres Understatements. Der wirkliche Künstler versteht sich als Handwerker. Ob etwas Kunst ist, wird von anderen und in der Regel viel später entschieden. Wer heute behauptet »Kunst« zu schaffen, der sei an das Jesus-Zitat erinnert: »Diejenigen, die ihr Leben lieben, werden es verlieren.« Kunst entsteht also nicht durch Selbstermächtigung.
Das Handwerk erlernte Marianne Brandt an der Weimarer Kunstakademie als Malerin und Bildhauerin. Sie besuchte ab 1911 die Zeichenschule in Weimar, nahm Vorkurse für die Herzogliche Kunsthochschule bei Prof. Mackensen und später Bildhauerkurse bei Prof. Engelmann, war eine ausgebildete Künstlerin als sie sich 1924 entschloss am Weimarer Bauhaus noch einmal von vorn anzufangen. Bereits 1929 verließ sie das Bauhaus, um in den Gothaer Ruppel-Werken als Industrieformgestalterin wieder von vorn anzufangen.
Ähnlich wie ihre Kollegin Gunda Stölzl, wagte Marianne Brandt mehrfach einen Neuanfang. »Es gibt kein zurück, denn wo sollte das auch liegen«, meinte Gunda Stölzl. Ähnlich mag auch Marianne Brandt gedacht haben. Sie begann auch nach ihrer Entlassung von den Ruppel-Werken als freie Künstlerin in Chemnitz von vorn (u.a. mit Beteiligung an Wettbewerben zur Erzgebirgischen Volkskunst des Schwarzenberger Unternehmers Friedrich Emil Krauß), als Hochschullehrerin von 1949-51 in Dresden (u.a. entstand hier eine »Trümmerfrauengruppe«, die von Hans Brockhage und Andreas Schmidt später als Replik für Pyramidenfiguren aufgenommen wurde) und nocheinmal ab 1951 als Mitarbeiterin des Amtes für Industrielle Formgestalterin in Berlin.
Alberto Alessi zitiert im Vorwort zur oben erwähnten Biographie aus Marianne Brandts »Brief an die junge Generation«. Sie berichtet, dass sie 1924 auf Anraten Moholy-Nagys vom Einführungskurs in die Metallwerkstatt wechselte. »Damals war ich der Ansicht, ein Objekt müsse so funktionell wie möglich sein und schön gemäß den Erfordernissen des Materials. Erst viel später gelangte ich zu der Überzeugung, dass die Persönlichkeit des Künstlers eine ausschlaggebende Rolle spielt. Mein Irrtum entstand wahrscheinlich daraus, dass wir in einer Gemeinschaft ganz besonderer Persönlichkeiten lebten, deren Arbeiten und Produkte uns daher offensichtlich als hochwertig erschienen.«
Direkt im Anschluss an dieses Zitat schreibt Alessi: »Dieser Abschnitt aus Marianne Brandts ‹Brief an die junge Generation› beschreibt genau die Gründe, welche uns dazu führten, die Sammlung von Objekten in unseren Katalog aufzunehmen.«
Es ist daher fraglich, ob man Marianne Brandt gerecht wird, wenn man sie auf die fünf Jahre am Weimarer Bauhaus reduziert.
»Es gibt kein zurück …« Die Fähigkeit, sich selbst, die eigene Spezialisierung in Frage zu stellen, zurück in die Grundlagen zu gehen, um sich neu zu spezialisieren, die bringen nur sehr stark Persönlichkeiten auf. Interessant ist, dass es gerade Frauen waren, die die erfolgreiche, aber dadurch letztlich auch begrenzte Weltsicht des Weimarer Bauhauses hinter sich ließen. Das Ende war bei ihnen immer zugleich ein neuer Anfang.
Frauen wie Marianne Brand und Gunda Stölzl sind wahrscheinlich für Kunsthistoriker, die ihr Wissen ausschließlich aus Lexika und Katalogen beziehen, nicht in »Stil-Schubladen« einzuordnen. Eine andere Frage ist, ob dieser Hang zum »Einordnen«, zum »Vergleich«, der immer nur auf »Durchschnittswerte« hinausläuft, Künstler mit ihrer hochgradigen Individualität überhaupt nur annähernd gerecht werden kann. Man sollte also Etikettierungen wie »Bauhauskünstlerin« vielleicht besser vermeiden.
Hans Brockhage (1925–2009), der Ende der 1940er Jahre in Dresden bei Marianne Brandt studierte, plädierte für eine Erweiterung der Sicht auf Marianne Brandt. Das ist aber nur möglich, wenn man die Ausbildung zur Malerin und Bildhauerin zur Kenntnis nimmt.
Am Weimarer Bauhaus wurde über das Verhältnis von Architektur, Malerei und Plastik diskutiert. Vor dem Weimarer Bauhaus wurde von der Wiener Secession bereits dieser Weg beschritten. In einem Manifest stellte Josef Hoffman innere Zusammenhänge zwischen den Genres fest.
Auch Hans Brockhage wurde klar, und zahlreiche Interviews mit ihm zeugen in der Litterata davon, dass es sich nicht um ein »Nebeneinander«, sondern um einen inneren Zusammenhang handelt. Die Darstellung des Körpers in der Plastik ist das Zentrum bildender Kunst. Architektur stellt den Körper im Raum dar. Malerei ist die zweidimensionale Darstellung des dreidimensionalen Körpers.
Hans Brockhage konnte auf Studienmaterial aus seiner Dresdner Zeit verweisen. Marianne Brandt hatte gemeinsam mit Heinz Begenau, aus seiner Feder stammt auch eine Formgestaltungslehre, den »Plastik-Aufsatz« von Johann Gottfried Herder herausgegeben. Brockhage meinte, dass er noch nie einen anregenderen Text über Bildhauerei gelesen habe als den von Herder.
Es ist also an der Zeit unseren Blick auf Marianne Brandt zu erweitern. Die Villa Esche und das Industriemuseum Chemnitz sind die kompetenten Partner für dieses Unterfangen. Es sind die wichtigsten Erinnerungsorte für die wesentlichen Linien der Kulturtradition in der Region Chemnitz-Erzgebirge, die in ihrer Bedeutung weit über Deutschland und Europa hinausreichen. Dafür gebührt ihnen Dank und deutlich mehr Unterstützung durch die öffentliche Hand.
Johannes Eichenthal
Information
Zur Marianne-Brandt-Ausstellung in der Villa Esche unter: www.villaesche.de
Hans Brockhage und Reinhold Lindner: »Hab ich je an Kunst gedacht.« Marianne Brandt.
Chemnitzer Verlag 2001. ISBN 3-928678-63-9
Leider nur noch Antiquarisch erhältlich, ebenso:
Johann Gottfried Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt.
(Studienmaterial für die Künstlerischen Lehranstalten. Reihe Bildende Kunst. Heft 2. Herausgegeben vom Ministerium für Kultur.)