Reportagen

100 Jahre Villa Koerner in Chemnitz

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Im Jahre 1914 ließen der Chemnitzer Fabrikant Dr. Theodor Koerner und seine Frau nach Entwurf und Planung des zu dieser Zeit als Direktor der Hochschule für Bildende Kunst amtierenden Architekten und Künstlers Henry van de Velde, an der Chemnitzer Beyerstraße, ein zeitgemäßes Wohnhaus bauen. Zu Ehren von Bauherren und Architekten hatten die heutigen Besitzer des Gebäudes Olaf Pfeifer (Gigaron Projektentwicklung und Generalübernehmer GmbH) und Jens Held (Göken, Pollak und Partner Treuhandgesellschaft mbH) zu einer Festveranstaltung eingeladen.
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Jens Held begrüßte um 10.15 Uhr die zahlreichen Gäste, darunter die Bürgermeisterin der Stadt Chemnitz, Petra Wesseler, und den Architekten Peter Apfel, der 1999 hinter dem verbauten und stark beschädigten Gebäude den »echten van de Velde« erkannte, das Gebäude 2001 erwarb und die Sanierung in die Wege leitete.

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Die Chemnitzer Bürgermeisterin Petra Wesseler hob hervor, dass Henry van de Velde ein Impulsgeber ganzer Künstler- und Architektengenerationen gewesen sei, ein Vordenker des Bauhauses. In einem Zitat ließ sie van de Velde selbst zu Wort kommen, der den Einfluss der Romantik auf sein Werk betonte. Gerade die Verbindung, so die Bürgermeisterin, von Jugendstil und Neuer Sachlichkeit, verleihe dem Werk van de Veldes dauerhafte Eleganz und Klarheit.
Im vergangenen Jahr habe man auch in Chemnitz dem 150. Geburtstag Henry van de Veldes gedacht. Die Veranstaltungen hätten in der ebenfalls von Henry van de Velde entworfenen und geplanten Villa Esche stattgefunden. Zusammen mit dem heute nicht mehr existierenden Tennisklub könne man in Chemnitz auf drei Bauwerke des großen belgischen Architekten und Künstlers verweisen. Die Villa Koerner sei ein Bauwerk von nationalem und europäischem Rang.
Die gelungene Sanierung und Nutzung des Gebäudes sei eine bemerkenswerte Leistung der Eigentümer des Gebäudes. Es gäbe keine besseren Denkmalschützer als Eigentümer, die sich des Wertes eines Denkmals bewusst seien.

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Dr. Dieter Göken, der Partner von Jens Held, überbrachte Grüße aus Bremen und überreichte zum Jubiläum eine Bremer Stadtansicht. In seiner kurzweiligen Ansprache verwies er auf erstaunliche Parallelen im Bau der Firmensitze hin. Die Villa Schütte in Bremen sei 1914/15 nach Entwurf und Plänen von Rudolf Alexander Schröder errichtet worden. (Schröder war ein vielseitig begabter Künstler und Literat. Er war der Begründer der Zeitschrift »Die Insel«, aus der später der Insel-Verlag hervorging, in dem van de Velde mehrere Bücher veröffentlichte. 1909 hielt Schröder sich längere Zeit beim Ehepaar Meier-Graefe in Paris auf. Der Kunstkritiker Julius Meier-Graefe war ein Förderer von Henry van de Velde. 1913 gründete Schröder mit Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt die Bremer Presse. Hofmannsthal war über Harry Graf Kessler ebenfalls ein guter Bekannter von van de Velde geworden. Hier sind dem Anschein nach noch mehr Querverbindungen zu entdecken.)

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Die beiden Musikerinnen ließen zwischen den Beiträgen Harfen- und Flötenmusik erklingen.

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Ingo Esche (li.) erinnerte an die Familiengeschichte Koerner-Esche.

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Michael Sachße, ein Enkel des Bauherren, fügte ebenfalls Erinnerungen an.

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Professor Christian von Borczykowski, der Vorsitzende der Van-de-Velde-Gesellschaft, gab einen kurzen Bildvortrag zu den Wohnhäusern von Henry van de Velde. Am Ende zeigte er Regale aus der Inneneinrichtung des Hauses La Nouvelle Maison in Tervuren und zog die Verbindung zu Regalen eines bekannten schwedischen Möbelproduzenten. Beide verwendeten einheitliche Gestaltungsprinzipien. Man müsse über diese Regale und über Henry van de Velde hinausgehen, meinte der Professor, und zeigte im Anschluss einige Eigenbauversuche der Van-de-Velde-Gesellschaft.
Im Anschluss an Grußworte und Vorträge folgten geführte Rundgänge durch die Villa Koerner. Wir möchten in einer Fotoreihe einen Eindruck von diesem Bauwerk vermitteln.

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Kommentar
Den denkmalbewussten Eigentümern muss für Ihr Engagement gedankt werden. Es gelang ihnen, was in Deutschland noch allzu selten ist, das Gebäude zu bewahren und zugleich auf zeitgemäße Weise zu nutzen.
Die Chemnitzer Bürgermeisterin Petra Wesseler hob nicht ohne Grund die europäische Bedeutung der Villa Koerner hervor. Wenn es in Chemnitz ein Bauwerk gibt, dass den modernen Geist der 1920er Jahre vorwegnimmt, dann ist es die Villa Koerner.
Im Schicksal ihres Architekten Henry van de Velde spiegelt und bricht sich europäische Geschichte. Um 1900 wurde er zu einem Wegbegleiter seines Förderers und Mäzens Harry Graf Kessler, der Weimar wieder zu einem Ort europäischen Kunst-, Musik und Literatur machen wollte. Doch die Großherzogliche Familie war, wie ihre Verwandten in Dresden und Berlin, den Anforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen. Nach der Vertreibung Kesslers aus Weimar wurde auch die Position van de Veldes unsicher. 1914 reichte er seinen Rücktritt als Direktor der Hochschule für Bildende Kunst ein. Nach Kriegsausbruch wurde er zum »feindlichen Ausländer« erklärt und musste sich täglich mehrfach bei der Polizei melden.
Van de Velde, der Gründervater von Deutschem Werkbund und Bauhaus, empfahl Walter Gropius als seinen Nachfolger in Weimar, und kam auch in den 1920er Jahren noch einmal nach Weimar, um den Bauhäuslern beizustehen.
Das Werk van de Veldes ist kaum zu überblicken. Am 11. September wurde in der Villa Esche der Band II des auf sechs Bände angelegten Werkverzeichnisses van de Veldes vorgestellt. Nach Veröffentlichung von Band VI wird man die Dimension langsam erahnen können. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, kommt es immer wieder zu Missverständnissen. Da gibt es den Vorwurf, dass das Ansinnen eines Gesamtkunstwerkes »totalitär« gewesen sei. Hier werden verschiedene Aspekte durcheinander gebracht. Walter Benjamin hatte schon vor 100 Jahren beschrieben, wie im modernen Kapitalismus Politik ästhetisiert und die Ästhetik politisiert wird. Henry van de Velde ist nicht mit einer PR-Agentur zu verwechseln, die in Sachen politischer Ikonographie tätig ist.
Einer der Redner glaubte bemerken zu müssen, dass Henry van de Velde »keine Ahnung von Statik« gehabt habe. Die Lacher aus der Ecke der Architekten deuteten an, dass man die Bemerkung als Trost aufnahm, angesichts des allmächtigen Übervaters.
Im Jahre 2001 erschien im Chemnitzer Verlag eine Marianne-Brandt-Biographie (Hans Brockhage/ Reinhold Lindner: »Marianne Brandt. Hab ich je an Kunst gedacht.« In einem Vorwort beschreibt der italienische Designer Alberto Alessi, dass er Produkte von Marianne Brandt aufgrund eines einzigen Satzes in sein Programm aufnahm. Marianne Brandt habe in ihrem »Brief an die junge Generation« (1972) über ihre Zeit am Bauhaus geschrieben »Damals war ich der Ansicht, ein Objekt müsse so funktionell wie möglich sein und schön gemäß den Erfordernissen seines Materials. Erst viel später gelangte ich zu der Überzeugung, dass die Persönlichkeit des Künstlers eine ausschlaggebende Rolle spielt.«
Marianne Brandt hat, wie auch Gunda Stölzel, das Bauhaus verlassen und einen Neuanfang gewagt. Die »erfolgreichen« Bauhaus-Männer wanderten dagegen zum großen Teil in die USA aus und führten den Funktionalismus bis ins Extrem, Alessi nennt ihn den »Hyperfunktionalismus unserer Konsumkultur«, weiter. Die philosophische Grundlage für Walter Gropius und seine Kollegen waren die empiristische Logik des Wiener Kreises und die Phänomenologie Edmund Husserls. Vernunft wurde letztlich auf Mathematik reduziert. Auf dieser Grundlage wollte man die Erscheinungen »phänomenologisch« auf ihr Wesen reduzieren.
Henry van de Velde aber ist mit seinen Nachfolgern nicht zu verwechseln. Sein Interesse für Friedrich Nietzsche teilt er mit Harry Graf Kessler und vielen Generationsgenossen. Nietzsche war für sie der Stichwortgeber für den Willen zu einem kulturellen Neuanfang. Zugleich begriff van de Velde im Geiste des Romantikers Nietzsche, die Natur als ein Lebewesen, als ein organisches System, als organische Vernunft. Hier finden wir auch den Grund dessen, was wir »Gesamtkunstwerk« nennen. Wir nehmen unsere Umwelt nicht nur mit dem Kopf war, sondern mit allen Sinnen, mit unserem ganzen Körper. Johann Gottfried Herder verteidigte um 1800 diese philosophische Tradion gegen den Kantischen Reduktionismus. Weil wir die Wirklichkeit mit dem ganzen Körper wahrnehmen, sind unsere inneren Bilder, so Herder, in der Regel auch Ganze. Und, wir konstruieren gern ein Ganzes, in der Geschichte, in der Literatur u.a. Auch in der Architektur ist der Grund für die Sehnsucht nach ganzheitlichen Konstrukten in unserer Wahrnehmunsgweise zu suchen. Der innere Zusammenhang unserer Sinneswahrnehmungen ist übrigens in Verstand und Sprache zu finden. Für die Einheit von Sinnen und Verstand gibt es keinen besseren Begriff als den der Seele. Die Sprache ist wiederum das Wesen der Seele. Die größte Leistung Henry van de Veldes war vielleicht, dass er auf Grundlage der Tradition die Sprache der Architektur erneuerte.
Johannes Eichenthal

Information
Anlässlich des 100. Jahrestage der Errichtung der Chemnitzer Villa Koerner gaben Jens Held und Olaf Pfeiffer eine exklusive Festschrift heraus.

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