Reportagen

Glückliche Melancholie

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Nikolaus Lenau (1802–1850), eigentlich Nikolaus Franz Niembsch Edler von Strehlenau, führte seine Suche nach Weisheit in ein rastloses Wanderleben. Mehrfach machte er im schwäbische Esslingen Station und wohnte im Schlösschen Serach. Hier traf er sich mit Freunden des schwäbischen Dichterkreises. Hier fühlte er sich über Jahre wohl.

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Vorn, rechts neben Prof. Dr. Wolfgang Schulz, Kulturamtsleiterin Dr. Christine Mast

 

Der 5. Oktober ist ein spätsommerlicher Tag. Viele Menschen flanieren an diesem Sonntag im Zentrum von Esslingen. Die Parkplatzsuche ist aussichtslos. Restaurants und Cafés sind überfüllt. Viele haben Handys am Ohr. Laptops und iPads allüberall. Im Bürgersaal des Alten Rathaus ist eine kleine Schar unentwegter Literaturfreunde zusammengekommen. Prof. Dr. Wolfgang Schulz, der Bundesvorsitzende der Künstlergilde Esslingen e.V. begrüßt die Gäste. Johanna Anderka spricht im Namen der Jury. Dr. Christine Mast, die Kulturamtsleiterin der Stadt, redet zum Erbe Lenaus und verkündet die beiden Lenau-Preisträger des Jahres 2014: Bodo Heimann und Utz Rachowski. (Der Preis wird für einen 2013 veröffentlichten Lyrik-Band vergeben.) Beide Preisträger danken und lesen aus ihren Lyrikbänden. Dazwischen Barockmusik einer Cellistin. Applaus der Zuschauer – Balsam für die Seelen der Autoren.

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Utz Rachowski spricht als Letzter. Da seine Vorredner schon vieles vorwegnahmen, verzichtet er auf das Verlesen seiner vorbereiteten Rede und kommentierte lediglich einzelne Punkte. Wir veröffentlichen hier seinen ursprünglich geplanten Redetext.

DIE GLÜCKLICHE MELANCHOLIE
Sehr geehrte Damen und Herren,

heute ist für mich ein glücklicher Tag. Denn über Jahrzehnte hinweg war bisher der 5. Oktober für mich ein tief schwarz konnotierter Tag in meinem persönlichen Leben.
Heute vor 35 Jahren, 6.00 Uhr früh, holten mich zwei Männer aus dem Bett, und ich verschwand für 14 Monate hinter Gefängnis-Gittern und verlor für weitere 10 Jahre meine Heimat. Der Mauerfall, dessen 25. Jahrestag wir in Bälde begehen, wendete 1989 auch individuell dieses, mein ganz persönliches Schicksal.

Max von Löwenthal, Gatte der platonischen Geliebten Lenaus, Sophie von Löwenthal, notierte von 1838 bis 1843 Gesprächsfetzen, Meinungen und Einsichten des Dichters Nikolaus Lenau, von denen es allerdings in seinen Gedichten kaum Spuren gibt.
Einiges davon möchte ich gern zitieren:
»Die Polizeibehörde wird nicht müde, Niembsch, obwohl er ihr mit aller Gradheit seines edlen Charakters entgegengetreten und sie damit, so hätte man meinen sollen, entwaffnet hat, durch Verhöre zu plagen. Sie hat es vielleicht darauf abgesehen, ihn aus dem Land zu treiben, ihn, den Deutschland mit fast ungeteilter Verehrung nennt … Jeder deutsche Staat, der obskuranteste und obskurste vielleicht, würde stolz darauf sein, Lenau zu besitzen, und sein Vaterland will ihn dafür strafen, dass er Lenau geworden.«
(Wien, 14. November 1838)

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Nach der Lesung signiert Utz Rachowski seinen ausgezeichneten Lyrik-Band MISS SUKI

 

Niembsch. Nikolaus Niembsch Edler von Strehlenau, der für sich den Künstler-Namen Nikolaus Lenau wählte, unter Verwendung des StrehLENAU seines Namens. Dies aber war keineswegs nur der Wirksamkeit als Wiedererkennungseffekt des Dichters für sein Publikum geschuldet, das war mitnichten nur künstlerisches Spiel, dieser Schritt bewahrte ihn über Jahre hinweg vor der Verfolgung der K.u.K. Polizei und der Zensurbehörde Metternichs, in deren Fänge er dann schließlich doch geriet, spätestens 1837 mit der Veröffentlichung seines Versepos »Savonarola«.

Lenau schrieb: »Wie schrecklich ist es, in einem Lande und unter einer Regierung zu leben, wo ich keinen Augenblick sicher bin, dass man mich nicht überfalle und mir meine Manuskripte wegnähme.« Und an anderer Stelle: »Und doch gebührt mein Haß noch immer viel weniger dem Gesetz selbst, als denjenigen legalisierten Bestien, die das Gesetz auf eine so niederträchtige Art handhaben … überall nur boshaft gierige alles geistige Leben benagende Fußwerkzeuge, und unsere Censoren stellen im Gegensatze der Pflanzen- und Fleisch fressenden Thiere die Klasse der geistfressenden Thiere dar, eine abscheuliche, monstruose Klasse!«

Am 5. Oktober 1979 suchte damals an diesem Vormittag, nachdem sie mir den Wohnungsschlüssel abgenommen hatten, gleich fünf Männer der politischen Polizei »Stasi« in meinem neun Quadratmeter großen Zimmer nach Aufzeichnungen literarischer Art, Gedichte vor allem, Tagebuchaufzeichnungen, dramatische Versuche – und nahmen sie mit sich. Sieben Monate verhört und dann angeklagt, verurteilt schließlich wurde ich zu 27 Monaten Gefängnis wegen fünf meiner Gedichte, wegen – so wörtlich: »staatsfeindlicher Hetze in Versform«. Die Gedichte jedoch waren keineswegs Aufrufe zum gewaltsamen Widerstand gegen die Obrigkeit, sie schilderten aber offenbar treffend die Tristesse und den Zustand eines stagnierten Lebens in einem Staat, der sich für die endgültige, höchste und letzte Entwicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit erklärt hatte.
Das, denke ich, hatten wir schon mal, und es hieß im Jahrhundert Lenaus: Restauration.
Diesmal nannte sich das politische System »real existierend«, was unfreiwillig und ungewollt der Wahrheit entsprach, und in meiner Zeit, bezogen also auf den Marxismus, die Hegelsche Philosophie ließ grüßen und blinkte durch, die ebenso in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die verknöcherten Verhältnisse (unter denen Nikolaus Lenau lebte, unter denen Heinrich Heine nach Paris fliehen musste und hunderttausende Deutsche nach Übersee auswanderten) als Endpunkt der Geschichte festschrieb. Uns heute in den westlichen Demokratien wurde wieder einmal »Das Ende der Geschichte« versprochen – mal abwarten, denke ich, seit langem befallen von Lenauscher Melancholie.

Aus: DAS BLOCKHAUS (1838) von Nikolaus Lenau:
Traurig war mir da und finster zumut,
Scheiter und Scheiter warf ich in die Glut;
Mir erschien die bewegte Menschengeschichte

In des Kummers zweifelflackerndem Lichte.
Diese Stämme verbrennen hier am Herde,
Auf ein kurzes Stündlein mich warm zu halten,

Der ich bald doch werde müssen erkalten,
Der ich selber zu Asche sinken werde.
Gibt es vielleicht gar keine Einsamkeit?
Bin ich selber nur ein verbrennend Scheit …?

Max von Löwenthal notierte am 11. Oktober 1839 in Wien: »Niembsch lebt in jener Armut, welche zu Deutschlands Schmach das unveräußerliche Erbteil seiner größten Dichter ist, wenn sie eben Dichter sind, er lebt überdies in einem Lande, dessen Bewohner gegen Literatur und ihre Helden im wesentlichen doch gleichgültig sind …«

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Aktive Leser sind der schönste Dank für einen Autor

Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen noch sagen, warum ich besonders froh bin, gerade diesen Literaturpreis, der diesen Namen trägt, entgegennehmen zu dürfen:
Nikolaus Lenau ist vorrangig kein politischer Dichter. Darf ich Sie in diesem Bezug mit einer nicht erbetenen Äußerung belästigen: Ich auch nicht.
Tief ist meine Enttäuschung jeweils, wenn man unsere Gruppe von 77 ausgebürgerten Schriftstellern aus der ehemaligen DDR unter »Dissidenten« heute noch rubriziert, mich gar noch hinzu rechnet als »ehemaligen Bürgerrechtler«. Dichter wollte ich sein von meinem 16. Lebensjahr an, was dann über mich kam als Schicksal, war den Verhältnissen geschuldet, auch meine literarischen und darunter die nahe an die Zeit gelehnten Äußerungen.
Auch war ich immer ein leicht zögerlicher Mensch und ein Melancholiker dazu, von früh an, die sogenannten »Großen Zeiten«, in denen es uns verheißen war zu leben, taten das ihre hinzu und verstärkten diese Anlage.
Auch im Falle Lenaus ist bis zum heutigen Tag nicht wahrhaft medizinisch geklärt, was seine Krankheit zum Tode auslöste; wie hoch ist darin Anteil der versteinerten Verhältnisse seiner Zeit? Diese meine Frage bleibt offen.
Restauration ist immer eine besonders gute Zeit: zum Verrücktwerden. Das Beispiel Hölderlin.
In Lenau sehe ich einen, der vorausging, einen Melancholiker, der wie auch ich mehrere Studienrichtungen anging, am längsten bei der Medizin blieb, der Jus und landwirtschaftliche Ökonomie studierte und Ungarisches Recht, ich selbst Medizin, Kunstgeschichte und Philosophie, und dann auch diese verließ.

Hervorhebenswert seine Freundschaften und Solidarität mit Polen! Seine Lied-Gedichte, die er nach den gescheiterten Aufständen dort schrieb! Im Mai nächsten Jahres erhalte ich in Wroclaw zusammen mit Wolf Biermann, Reiner Kunze und Jürgen Fuchs (dieser posthum) die »Dankbarkeitsmedaille der Solidarność«, die nur an 160 Deutsche vergeben ist, aber an über 500 Franzosen, wofür sie steht, will ich hier nicht breit erklären, nur dass ich der einzige deutsche Schriftsteller war, der unter dem Kriegszustand 1981 bis 1983 nach Polen hinein fuhr, um literarische Manuskripte von internierten Kollegen, die in Lagern saßen, aus dem Land herauszuholen und aus dem Schweigen und die ich schließlich übersetzt in den Sendern Westdeutschlands vorlas. Um den Gedichten die größtmögliche Öffentlichkeit zu geben und ihre Autoren damit vor dem schlimmsten zu schützen.
Amerika! Wie verschieden waren seine und meine Erlebnisse dort. Er auf dem Pferdeschlitten 600 Meilen in eisiger Schneekälte durch Crawford County Ohio, davon krank niederliegend über Monate in Pittsburgh und Economy, erhielt ich den ungleich besseren warmen und glücklich privilegierten Einstieg von Oben, als Lehrender am Gettysburg College in Pennsylvania.
Aber: Die Gedichte, die aus den zwei so verschiedenen Erleben entsprangen – dann überraschend gleich in Ton und Sujet: Bekenntnishaft die Solidarität mit den dort Entrechteten ganz verschiedener Couleur, er sah die vertriebenen Indianer, ich die Schwarzen, rechtlos und unterlegen.

Eines meiner Gedichte möchte ich vorlesen, es ist nicht enthalten in dem heute unter dem Namen Lenau ausgezeichneten Gedichtband »Miss Suki oder Amerika ist nicht weit!«, zu dem mir eben dieses kleine, junge und kluge Hündchen mit dem Namen SUKI übermütig beisprang und sich verwegen in die andere Waagschale warf – entgegen meiner deutsch gelebten Melancholie aus »Schwermuth«, wie Lenau sagt.
Hier also eines jener Gedichte über mein anderes Amerika, das ich auch sah:

Philadelphia PH-Wert

Das Rot und das Blau
der Lackmus-Test
im Hotelfenster:
wieviel Base Freiheit
wieviel Säure der Armut

der schwarze Hüne
am Morgen
auf dem Weg
zur Liberty-Hall
lag regungslos
hingestreckt
über dem Heizungsschacht

und schlief nicht

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Lenau-Preisträger Utz Rachowski und Prof. Dr. Wolfgang Schulz, der Bundesvorsitzende der Künstlergilde Esslingen e.V. (re.)

 

Zusammen mit dem Italiener Giacomo Leopardi, dessen Canti ich als Dichter geradezu verehre, und dem Engländer Lord Byron, dessen Gedichte ich hoch schätze und dessen berühmten Reiserouten ich teils persönlich nachgehen konnte – er hatte sich leidenschaftlich auch für den Freiheitskrieg der Griechen eingebracht, bildet Nikolaus Lenau für die Literaturgeschichte der Welt zusammen mit beiden genannten Dichtern DAS DREIGESTIRN der Melancholie.
Diesen Preis, über dem der Name Nikolaus Lenau aufscheint, nunmehr von keinerlei schwer abgespartem schwäbischen Mammon belastet, nehme ich sehr dankbar an und mit Freude, denn auch der 5. Oktober erscheint für mich von nun an, künftig als ein glücklicher Tag!
Ich danke Ihnen, den Preisgebern, der Stadt Esslingen.
Utz Rachowski, Esslingen, den 5. Oktober 2014

Kommentar
Auf unserer Heimfahrt am frühen Abend hatten wir reichlich Zeit zum Nachdenken. In der Gegenrichtung stauten sich kilometerlang die Pendler aus dem Osten, die wieder zu ihren Arbeitsorten eilen wollten. Verspätungen waren direkt absehbar. Die Dämmerung brach herein. Die Eule der Minerva erhob sich zu ihrem Fluge. Wer kennt heute noch Nikolaus Lenau? Seine Gedichte trafen einst den Nerv der intellektuellen Welt. In der bleiernen Restaurationszeit, die nach dem Gesetz der Vergeltung auf den maßlosen Radikalismus der Jakobiner folgte, suchte der Zweifler Lenau nach Hoffnung. In seinen Frühlingsgedichten kommt der Frühling wie ein Knabe herbeigesprungen: »Da kommt der Lenz, der schöne Junge / Den alles lieben muss, / Herein mit einem Freudensprunge / Und lächelt seinen Gruß.« Aber lange tut sich nichts. Das öffentliche geistige Leben ist erstarrt. Der Zyniker Metternich beherrscht die Medienregie. Spät soll Lenau in den Schriften des Schwaben Georg Friedrich Wilhelm Hegel Trost gefunden haben. Der Philosophieprofessor in Berlin, den schon die Jugendfreunde aufgrund seiner Skepsis »den Alten« riefen, musste seine Meinung seinerzeit hinter Doppeldeutigkeiten und Andeutungen verbergen. Wenn Lenau bei Hegel aber etwas lernen konnte, dann die Einsicht, dass der Frühling, nach vielen Ankündigungen, Hoffnungen und Rückschlägen, in der Regel erst dann kommt, wenn ihn keiner mehr erwartet.
Johannes Eichenthal

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Information
Nikolaus Lenau, Werke in einem Band. 11,7 × 18,5 cm, Fadenheftung, Leinen, 392 Seiten. Ausgewählt von Walter Dietze. Eingeleitet von Rainer Schlichting. Textrevision und Anmerkungen von Heinz Arnold. Bibliothek Deutsche Klassik. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar. 1981 (3. Auflage).
Das Buch ist antiquarisch beziehbar.

2 thoughts on “Glückliche Melancholie

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