In Wien fand vom 12. bis zum 15. November wieder eine Buchmesse statt. Wien ist eine europäische Musikstadt ersten Ranges und eine Stadt der Kunstmuseen. Die Österreichische Nationalbibliothek erinnert mit ihren historischen Beständen jedoch daran, dass Wien einst auch in Sachen Bücher und Verlage glänzte. Dem Anschein nach versuchen die Organisatoren der Wiener Buchmesse daran anzuknüpfen. Die Messe befindet sich in Wien mitten in der Stadt. Sie ist bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. 300 Aussteller präsentierten sich in Halle D. Mit 4,50 Euro war der Eintrittspreis sehr familienfreundlich.
Bereits am Abend des 11. November erfolgte die Eröffnung der Messe vor geladenen Gästen. Der Bundesminister für für Kunst und Kultur, Verfassung und Medien, Dr. Josef Ostermayer, ging in seiner sehr konzentrierten, knappen Rede auch auf die Stiftung eines Österreichischen Literaturpreises ein. Der Preis soll ab 2016 im Rahmen der Buchmesse vergeben werden.
Den Eröffnungsvortrag hielt der Schweizer Literat Adolf Muschg. In seinem Vortrag blitzten immer wieder interessante Gedanken auf. Heute werde mehr geschrieben als jemals in der menschlichen Geschichte. Die Reduktion von Texten auf Zahlen habe jedoch weder eine Effektivierung des Lesens noch eine schnellere Erfassung von Komplexität ermöglicht. Eher sei ein professioneller Analphabetismus entstanden. Wer nur Zahlen lesen kann, liest auch die nicht recht (Lichtenberg). Es sei eine Fiktion vom Schreiben ohne zu Lesen entstanden. Ausführlich ging Adolf Muschg in seiner Argumentation auf Wolfram von Eschenbachs »Parzival« ein. Die Verstandeshandlungen Parzivals schlugen immer in ihr Gegenteil um. Er musste den Kelch seiner Verstandeswelt bis zur Neige leeren. Sein Onkel belehrt ihn schließlich: Vom Gral lesen ist allemal besser als den Gral suchen. Aber wer nur die Buchstaben liest, der bleibt ein Dummkopf. Wer kein Dummkopf bleiben will, der kann sich den Zweifel nicht ersparen. Der Zweifel ist gottgefälliger als die Gewissheit … Solche Gedanken werden Herrn Muschg wohl einst den Nobelpreis … kosten, hätte Helge Schneider vielleicht kommentiert. Das Publikum verzieh Muschg das maßlose Überziehen seiner bemessenen Redezeit. Vor den Toren der Messe war schon Unruhe entstanden. Dann strömte das Publikum herein. Eine Lesenacht begann, die erst gegen 24.00 Uhr endete.
Ab dem 12. November traten auf mehreren verschiedenen Bühnen in 326 Veranstaltungen Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler auf. Der Historiker Hannes Leidiger stellte in der Donau-Lounge sein, im Haymann Verlag erschienenes, neues Buch über den Wiener Kongress vor. Mit knappen Sätzen entwarf er ein beeindruckendes Zeitbild. Während sich einst die europäischen Machteliten in Wien trafen wurde das Elend aus der Stadt verbannt. In der Folge der Napoleonischen- und Antinapoleonischen Kriege war die Armut sprunghaft gewachsen. Invaliden, Veteranen und Deserteure entwickelten zur Selbsthilfe eine Bandenkriminalität ohne gleichen. Das Jahr 1815 leitete eine Übergangszeit ein, die sich 1848 gewaltsam entlud.
Auf dem Kongress sei auch getanzt worden, doch nicht nur. Die Filme »Der Kongress tanzt« und »Die schöne Lügnerin« (mit Romy Schneider) hätten zwar nicht den historischen Tatsachen entsprochen, doch der Mythos hätte in den 1950er Jahren die »Brückenfunktion« Österreichs und Wiens als Verhandlungsstadt begründet.
Auf der FM4-Bühne stellte der Moderator den Kultur-Journalisten und Lyriker Matthias Zwarg (re.) vor. Links vom Moderator der Chemnitzer Künstler und Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, Osmar Osten, dessen Grafiken Matthias Zwarg für sein neues Buch mit dem Titel »Flugblätter« auswählte.
Matthias Zwarg las einige seiner Gedichte mit einer bluesähnlichen Melodie. Auch ihm geht es um Hoffnung, doch entwickelte er diese im Wissen um Elend, Abschied, Verlust und Verstörung in unserer Welt. Zwargs Stimme zog viele junge Leute zur FM4-Bühne.
Auf der ORF-Bühne erzählte der Historiker Gerhard Tötschinger (li.) unter dem Titel »Von St. Stephan zu St. Marx« (Amalthea-Verlag) interessante Geschichten aus der Geschichte Wiens.
Die Wiener Modedesignerin Sandra Schmidt (li.), die Inhaberin des Labels »Mangelware«, besuchte den Stand des Mironde-Verlages.
In der Donaulounge stellte Drago Jančar (Mitte) sein, im Folio-Verlag erschienenes, neues Buch »Die Nacht als ich sie sah« vor. Die Geschichte spielt in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, um die Jahreswende 1944/45 in Slowenien. Die Worte des Autors wurden von einem Dolmetscher übersetzt. Der Moderator lenkte seine Fragen in Richtung »fehlender gemeinsamer kollektiver Erinnerungen«. Jamčar antwortet, dass die Schicksale der Menschen sehr differenziert seien. Literatur könne keine kollektive Erinnerung leisten. Er versuche seine Figuren als menschliche Wesen zu verstehen, auch die von gegensätzlichen Seiten. Er wolle eher der Anwalt der Individuen sein.
Auf der ORF Bühne stellte Moderator Günter Kaindlstorfer eine Gesprächsrunde (von li.: der slowakische Schriftsteller Michael Hvorecký, der rumänische Philosoph Ioan Bogdan Lefter, Moderator Kaindlstorfer, der deutsche Vertreter der EU in Österreich Jörg Wojahn und der ungarische Historiker Krisztián Ungvár) zum Thema »Europa der Extreme – hat der Donauraum Antworten?« vor. Der Moderator richtete seine erste Frage nach den Herausforderungen der Flüchtlingsströme an den ungarischen Historiker. Dieser antwortete grundsätzlich, dass es zur Zeit mehrere Hundert Millionen Menschen auf dieser Erde gäbe, deren Lebenssituation so schlecht sei, dass sie in Europa die Kriterien für Flüchtlinge erfüllten. Einige Hunderttausend hätten sich auf den Weg nach Europa gemacht. Auf diesen Andrang gäbe es in Europa zur Zeit von der Politik keine Antworten, die unsere moralischen Ansprüche mit dem politisch Machbaren in Einklang bringen könnten. Vor allem der slowakische Schriftsteller erhob darauf moralische Vorwürfe gegen den ungarischen Historiker, ohne dessen Argumentation etwas entgegen stellen zu können. Die Diskussion drohte zeitweise ins Unverbindliche zu kippen. Der erfahrene Moderator vermochte den Diskurs jedoch zu versachlichen. Am Ende stellte er fest, dass es wahrscheinlich nicht möglich sein wird, die Flüchtlinge in Europa nach einem einheitlichen Schlüssel auf die EU-Länder mit zum Teil gravierend unterschiedlichen Lebensniveaus zu verteilen.
Auf der ORF-Bühne stellte Manfred Mittermayer (re.) seine, im Salzburger Residenz-Verlag erschienene, Thomas Bernhard-Biographie vor. Mittermayer ist auch Herausgeber der Bernhard-Werkausgabe und orientiert seine Biographie wohltuend am Werk Bernhards, nicht an irgendwelchen Frauengeschichten o.ä. Hier wird noch Schillers Diktum: Allein das Werk! beachtet. Die Arbeit an der Werkausgabe habe es ihm auch ermöglicht, so Mittermayer, bekannte Fakten in neuem Licht zu sehen. Daraus erwuchsen neue Einsichten. Auf die Frage nach dem Humor in Bernhards Stil antwortet Mittermayer, dass dieser Punkt Bernhard selbst nicht bewusst gewesen sei. Nach einer Bernhardschen Lesung aus »Frost« habe ihn eine Dame gefragt, »ob er immer solch komische Bücher schreibe?«. Thomas Bernhard sei aufgrund dieser Frage sehr verstört worden. Das »Komische«, so Mittermayer, habe etwas damit zu tun, wie Bernhard Sprache behandelte.
Im Literaturcafe stellte Peter Maria Schuster (Mitte) seine Biographie Ludwig Boltzmanns vor. Der Titel der Biographie lautet: »Meine letzte Antwort auf alles«. Der gebürtige Wiener Schuster studierte Literaturwissenschaft und Physik. Nach der Promotion arbeitete er bei der Firma Zeiss. Nach seiner Pensionierung gründete er ein Archiv für Physikgeschichte. Der Moderator (li.) bezeichnete Boltzmann als einen der größten österreichischen Wissenschaftler überhaupt. Um so verdienstvoller sei es, dass Schuster dessen Biographie geschrieben habe, die weit über die Physik hinausreiche. Das Buch sei als Briefdialog zwischen Boltzmann und dem Leipziger Hirnanatomen Paul Flechsig angelegt. Aufgrund einer Stimmschwäche konnte der Autor nicht selbst lesen. Ein junger Kollege (re.) sprang dankenswerter Weise ein.
Am Ende dankte Peter Maria Schuster dem Publikum und fügte an, dass die Bilder (oder die Begriffe?) des entleerten (oder mit Zahlen vollgestopften) Kosmos der modernen Physik nur durch die Poesie wieder zum Leben erweckt werden können.
Der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer (re.) besuchte ohne protokollarische Zwänge die BuchWien. Hier ist er gerade mit der österreichischen Verlegerlegend Lojze Wieser im Gespräch.
Beim Rundgang auf der Messe entdeckten wir auch den Chemnitzer Wannen-Verlag. Dessen Bücher sind wasserdicht und so kurz, dass man sie in einem 15minütigem Vollbad auslesen kann. Diese Bücher sind eigentlich auch etwas für Taucher und U-Boot-Fahrer wie Jacques Costeau. Oder?
Am Stand des Mironde-Verlages trafen sich junge Wiener Architekten und Baufachleute. Seit Jahren kooperiert der Verlag mit der österreichischen Graphisoft-Niederlassung, der A-Null-Bausoftware GmbH in Wien. Resultate dieser Zusammenarbeit sind Handbücher für das Archicad-Programm, einer innovativen Software für die Bauwirtschaft. 2014 erschien im Mironde-Verlag der BIM-Leitfaden von Christoph Eichler. Der kompetente Autor vermochte aus seiner Berufserfahrung als Architekt und als Softwareentwickler eine Insider-Einführung in das sogenannte »Building Information Modeling« (BIM) zu geben, die nah am aktuellen Forschungsprozess angelegt ist. In Vorträgen und Zeitschriftenartikeln diesen Jahres bestimmte er BIM als »die Sprache der Bauwirtschaft des 21. Jahrhunderts«. In der Präzisierung fügte er an, dass BIM, analog zur menschlichen Sprache, die zentrale Analyseinstanz, die Kommunikation und die Prozesssteuerung darstelle. Im März 2016 soll die zweite Auflage dieser Einführung erscheinen. Daran soll sich eine ganze Reihe von Büchern mit dem Schwerpunkt BIM anschließen.
Am Verlagsstand in Wien wurde von den künftigen Autorinnen und Autoren darüber diskutiert, was man mit BIM machen kann und was nicht. BIM hieß es, sei eine Chance aber auch eine große Gefahr. Man müsse wissen, was man will. Es gehe schief, wenn man glaube, das Programm werde schon alles regeln. Mit dem richtigen Einsatz von BIM könne man Erfahrungen in nie gekanntem Ausmaß generieren und Lernprozesse dokumentierten. Aber, so die jungen Architekten, lernen im menschlichen Sinne könne nur der Mensch, nicht der Computer.
Da sind wir wieder beim Eröffnungsvortrag von Adolf Muschg. Es ist nicht nur eine Illusion, wenn man glaubt Computer könnten für uns Menschen die besseren Entscheidungen treffen, oder wie US-Technologie-Guru Raymond Kurzweil glaubt, wir müssten unser Gehirn gar auf Leiterplatten umstellen, nein, die Reduktion der menschlichen Tätigkeit auf den Umgang mit Computern führt sogar zum Abbruch der Weitergabe des Menschheitswissens. Ohne die Fähigkeit beim Lesen von Texten auch den kulturellen Kontext zu verstehen, funktioniert die Kette der Generationen nicht. Die Ergebnisse der Wissenschaft werden erst kommunizierbar, wenn sie in eine literarische Form gebracht werden. Das menschliche Denken hat andere Quellen als Zahlen und Computer. Vernunft und Sprache stellen den inneren Zusammenhang unserer Sinneserfahrungen dar (Johann Gottfried Herder). Denktraining ist nur über Sinneserfahrungen möglich. Das traditionelle Buch ist so konstruiert, dass es, wie nebenbei, unsere Sinne beim Lesen wieder »aufschließt«. Auf der BuchWien fanden auch 136 Veranstaltungen für Kinder statt. Hier wurde Lesen, Zuhören, Erzählen, Tanzen und Malen verbunden.
Unbemerkt von den Messebesuchern liefen am 14./15. November die zweiten Friedensverhandlungen binnen 14 Tagen für Syrien in Wien. Die Stadt bot Delegationen aus 20, zum Teil verfeindeten Ländern, die Möglichkeit zu Verhandlungen. Das kleine Österreich leistet auf der Grundlage seiner Neutralitäts-Idee, als kulturelle Brücke zwischen Nord und Süd, West und Ost, einen großen Beitrag zur notwendigen Humanisierung der Welt. Auch das ist Wien im November 2015.
Johannes Eichenthal