Am 31. Januar des Jahres 1866, vor 150 Jahren, verstarb in Neuses bei Coburg der Orientalist, Philologe, Übersetzer und Dichter Friedrich Rückert. Er wurde am 16. Mai 1788 als Sohn eines Rentamtmannes in Schweinfurt geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er, dem Wunsch des Vaters entsprechend, ab 1805 Jura, aber zugleich auch Philologie in Würzburg, ab 1808 in Heidelberg. 1811 war er als Privatdozent an der Jenaer Universität tätig und hielt Vorlesungen über orientalische und griechische Mythologie. 1812 war er Gymnasiallehrer in Hanau, 1815 Redakteur des Stuttgarter »Cottaischen Morgenblatt für gebildete Stände«. Nach einem Italienaufenthalt sprach er 1818 bei dem Wiener Orientalisten, Diplomaten und Gründer der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Joseph von Hammer-Purgstall vor. Ein langes »Semester« studiert Rückert bei Hammer-Purgstall persische, arabische und türkische Literatur und Sprache. Seit dieser Zeit standen beide im beständigen Briefwechsel. 1819 übersiedelte Rückert nach Coburg. Von 1822 bis 1825 war er als Redakteur des Frauen-Taschenbuches tätig.
Das historische Bibliotheksgebäude der Universität Erlangen
Mehrere Jahre bewarb sich Rückert um eine Professur in Erlangen. 1825 war er schon ernannt, scheiterte aber am Einspruch der Theologischen Fakultät. Erst 1826 erfolgte die Berufung auf den Lehrstuhl des früh verstorbenen Johann Arnold Kanne für orientalische Sprachen und Literatur an der Universität Erlangen. Hier traf er kurzzeitig mit den Professoren Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Johann Wilhelm Pfaff, Johann Salomon Schweigger, Karl von Raumer, Johann Georg Veit von Engelhardt und Gotthilf Heinrich Schubert zusammen. In der Retrospektive erscheint die Professur in Erlangen vielleicht die produktivste Zeit Rückerts.
Seit 1827 stand Rückert im Briefwechsel mit Franz Bopp, einem Schüler Wilhelm August Schlegels und Begründer der deutschen Indologie an der Universität Berlin. 1841 wechselte Rückert an die Berliner Universität. Er reduzierte hier aber rasch und drastisch seine Lehrveranstaltungen, nahm Auszeiten auf seinem Landsitz. 1849 zog er sich endgültig auf sein Landgut in Neuses bei Coburg zurück.
Aus Rückerts Feder stammen etwa 10.000 Gedichte. Von bleibenderer Bedeutung sind jedoch vor allem seine Übersetzungen und Nachdichtungen aus dem Griechischen, Lateinischen, Türkischen, Persischen, Arabischen, Sanskrit und anderen Sprachen. Sein Einfühlungsvermögen in eine große Zahl fremder Sprachen ist bis heute legendär. Rückert orientierte sich in der Übersetzung immer an der Dichtung. Johannes Mehlig kolportiert die Auffassung, dass Rückert, wenn die Sprache noch nicht erfunden gewesen wäre, Wesentliches beigetragen hätte. Oder dass Rückert nicht an die selbständige Existenz der Dinge glaubte, sondern die Wirklichkeit allein in der Sprache gestiftet sah.
Ein idealisiertes Bild von Goethe war für Rückert Zeit seines Lebens vorherrschend. Herder war für ihn dagegen ohne Bedeutung, weil er kein Dichter gewesen ist. Immerhin bescheinigt er ihm jedoch den universellsten Sinn für die Weltpoesie.
Anlässlich Rückerts 150. Todestages erschienen drei Artikel in öffentlich zugänglichen Online-Ausgaben deutschsprachiger Tageszeitung.
Die Wiener Zeitung brachte am 27.1.2016 einen Artikel von Edwin Baumgartner unter dem Titel »Der Brückenbauer«. Baumgartner informiert konzentriert über das Leben des Sprachgenies Rückert. Schließlich kommt er auf seinen Schwerpunkt: Die Hauptleistung Rückerts sei in seinen Übersetzungen zu finden. Rückert sei nicht der erste Vermittler zwischen dem Orient und Europa gewesen, aber er war einer der Pioniere. Er baute Brücken zwischen den Kulturen. Herder habe es vorexerziert und Literatur aus allen Teilen der Welt übersetzt.
Hammer-Purgstall habe in seiner Übersetzung dem Koran die Würde zurückgegeben. Dessen Schüler Rückert habe dem Koran in eigener Übersetzung die Poesie zurückgegeben, »der er allerdings hin und wieder Teile der originalen Aussage opferte«.
In der Thüringer Allgemeinen erschien am 31.1.2016 ein Artikel zum 150. Todestag Rückerts unter dem Titel »Weltpoesie allein ist Weltversöhnung.« Es wird darauf verwiesen, dass Rückert bei dem Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß studierte, dass er 1810 in die Freimaurerloge »Karl zum Rautenkranz« in Hildburghausen aufgenommen wurde, dass seine Jenaer Dissertationsverteidigung im gleichen Jahr Aufsehen erregte und dass er seiner späteren Frau 300 Lieder widmete.
Abschließend wird ein Link zur Rückert-Gesellschaft in Schweinfurt gesetzt.
Am 31.1.2016 veröffentliche die Süddeutsche Zeitung einen Artikel von Christoph Meyer unter dem Titel »Vergesst Goethe, lest Rückert«.
Der Autor beginnt mit Superlativen: »Seine (Rückerts) Koran-Übersetzung ins Deutsche ist die einzige, die man tatsächlich lesen kann. Rückert war ein sprachliches Genie und ein Dichter, der es nach Ansicht seiner Fans mit Goethe aufnehmen konnte … Dem Wesen der orientalischen Poesie kam Rückert ungleich näher als Goethe und hielt doch mehr kritische Distanz zum Islam.«
Es ist möglich, dass in den Bezahl-Teilen der großen Tageszeitungen noch wichtige Artikel versteckt sind. Die Chemnitzer Freie Presse veröffentlichte dort am 28.1.2016 ein Gedicht Rückerts und am 29.1. eine Rezension von Rückerts Jugend-Erinnerungen, die eben im Göttinger Wallstein-Verlag erschienen.
Kommentar
1. Es ist grundsätzlich wichtig, dass an die Lebensleistungen deutscher Literaten erinnert wird, weil die Geschichte der deutschsprachigen Literatur auch ein Zugang zur Geschichte unserer Sprache ist. Die Wahrung des literarisch-sprachlichen Erbes ist die Voraussetzung für die Erneuerungsfähigkeit der deutschen Sprache. Wir konstituieren unser Selbstverständnis nicht in »Bewusstsein« sondern in Sprache. Dieses ist die Voraussetzung für unsere Fähigkeit mit anderen Kulturen zu kommunizieren.
2. Orientalische Sprachen und Literatur wurden bereits im 18. Jahrhundert, zum Beispiel an der Universität Göttingen, von deutschen Wissenschaftlern gepflegt. Über Johann Christian Heyne gelangte die Göttinger Forschungsliteratur zu Johann Gottfried Herder nach Weimar. Von Herder gingen die Impulse an Wieland, Goethe und Schiller. Sprachen und Literatur des Orients waren in Weimar ein Thema.
Eine Art »Metapher« für dieses Weimar zwischen Poesie und Wissenschaft ist bis heute »Goethe«. Auch zeitgenössische arabische Publizisten verbinden ihr Bild von Weimar heute noch mit einer Idealisierung von »Goethe«.
3. Auch die Jenaer Romantiker nahmen diese Orient-Anregung auf. August Wilhelm Schlegel wurde nach der Überwindung seiner Jugend-Illusionen ein wichtiger Anreger für die Erforschung der Sanskrit-Literatur und Mythologie. Dessen Schüler Franz Bopp führten im 19. Jahrhundert entsprechende Forschungen auf hohem Niveau mit internationaler Bedeutung weiter.
4. In Wien erfüllte eine Orient-Akademie die Aufgabe, angehende Diplomaten mit persischer, arabischer und türkischer Sprache und Literatur vertraut zu machen. Hier studierte auch Joseph von Hammer-Purgstall.
5. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind auf dem Gebiet der orientalischen Sprachen und Literatur besonders die Arbeiten von Annemarie Schimmel und Johannes Mehlig zu nennen. Aber auch in unserer Zeit legt die Wissenschaft wichtige Übersetzungen von Quellenwerken der Weltreligionen vor. Das umfangreichste Projekt wird dem Anschein nach vom Verlag der Weltreligionen (Suhrkamp) erarbeitet.
6. Können wir uralte Texte anderer Kulturkreise überhaupt vollkommen verstehen? Wir müssen uns bemühen solche Texte zu verstehen, wissen aber, dass das nicht möglich ist. Die zeitliche Distanz und die Verschiedenheit der Lebensumstände, unter denen etwa der Koran-Text entstand, sind zu groß.
Johann Gottfried Herder verwies darauf, dass das für das Alte Testament ebenso zutrifft. Er empfahl zum Versteh des Alten Testamentes die Lektüre von Reiseerzählungen aus dem arabischen Raum.
Wir müssen uns jedoch damit abfinden, dass wir nicht alles in der Geschichte der Menschheit verstehen können.
7. In Europa wird immer noch ein Orientalismus-Klischee gepflegt: Europa besitzt die Vernunft und der Orient die Poesie. Warum? Johann Gottfried Herder veröffentlichte in seiner Zeitschrift »Adrastea« einen Dialog zwischen einem Europäer und einem Inder über das Verhältnis der Religionen, der uns den Ursprung des Klischees zeigt. Das entscheidende »Argument« des Europäers zu Gunsten des Christentums war: wir haben Schiffe und Kanonen. Über Jahrhunderte dominierten die Aspekte der Macht das europäische Verhältnis zum Orient. Erst im 20. Jahrhundert erfolgte die schrittweise Selbstbefreiung der Völker des Orients von der europäischen Fremdherrschaft.
8. Oft wird bemängelt, dass im Orient eine »Aufklärung« fehlte. Eine Ursache für diese Behauptung ist die Gleichsetzung von »Aufklärung« mit einer bestimmten europäischen Stilepoche der Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts. Verbunden damit ist der abstrakte, äußerliche Vergleich aller anderen Kulturen mit dieser bloßen Stilepoche.
Johann Gottfried Herder verwies im Unterschied dazu darauf, dass welthistorische Aufklärung die Emanzipation des Menschen über die Jahrtausende sei. Damit war es Herder möglich, den allgemeinen, inneren Zusammenhang der Menschheitsgeschichte (wir sind alle Menschen) als auch die besonderen Unterschiede (Zeiten, Erdteile, Klimata) in ihrem Zusammenhang zu begreifen. Die Wissenschaft hatte für Herder die Aufgabe das Besondere zu erklären.
9. Die allgemeine Menschheitskultur gründet sich auf den Besonderheiten der menschlichen Kulturen. Konzentriert wird dieses Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in den Religionen deutlich. »Es gibt viele Heilige Schriften aber nur einen Gott« lautete 2014 der Titel einer Wiener Ausstellung. Johann Gottfried Herder meinte, dass es eine »Urerzählung von Schöpfung« gäbe. Diese sei über die Jahrtausende von einem Volk zum anderen weitergegeben und auf eigene Weise weitererzählt worden. Eben weil dieser Mythos über die Jahrtausende weitererzählt wurde, wurde er auch verändert. »Die« Urerzählung ist für uns nicht mehr fassbar. Fassbar ist für uns jedoch der historisch-genetische Zusammenhang aller Religionen. Friedrich Rückert sah bereits in jungen Jahren diese allgemeinen Momente in den besonderen Sprachen. Bis ins hohe Alter suchte er nach Verbindungen in der Überlieferung von Götternamen u.ä.
10. Das spezifisch menschliche Verhältnis zur Welt war für Herder wie für Rückert das poetische Verhältnis. Rückert reflektierte kaum theoretisch. Herder verstand Poesie im Sinne des griechischen Wortes Poisis, also Hervorbringen, Sagen des Unsagbaren, Sichtbarmachen des Nichtsichtbaren.
Strukturell war Poesie für Herder das praktische Zusammentreffen von Vernunft und Glauben. Dort, wo es Poesie gibt, sind auch Vernunft und Glauben.
Vernunft ist für Herder kein verborgener Sinn der Geschichte, sondern die menschliche Fähigkeit aus Fehlern zu lernen. Im Kern also Skepsis. Glauben dagegen ist für Herder die menschliche Fähigkeit, in einer Welt ohne Sinn, einen Sinn zu stiften. Im Kern also Hoffnung. In der Poesie kommen beide Gegensätze praktisch-geistig zusammen. Alle Völker werden der Poesie teilhaft.
11. Wenn man die Poesie als »Brücke« für die Verständigung der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen begreifen will, dann bedarf es der weiteren Reflexion. Es geht um den Zusammenhang der Gegensätze Glaube und Vernunft in der Humanität, um den »Geist von Poesie«, um die Weisheit. In der Weisheit wird die Einheit der Gegensätze Vernunft und Glaube fassbar. Gleichzeitig wird im Lichte der Weisheit auch Humanität als Kriterium für Glaube und Vernunft erkennbar. An der Humanität müssen sich Glaube und Vernunft messen lassen.
12. Friedrich Rückert überlieferte uns den Zugang zur Weisheit des Orients. Diese Anregung ist es, die die Zeiten überlebt. Rückert war in diesem Punkt nie aktuell. Er wusste von »3000 Jahren« sich Rechenschaft zu geben. Als Brückenbauer war er jedoch seiner Zeit wiederum voraus.
Unsere Ausgangsbedingungen für den Brückenschlag der Kulturen sind heute also nicht schlecht. Wir müssen uns die Mühe eines Zugangs zu den Mythen, Märchen und Weisheiten der orientalischen Völker machen. Andererseits kann auch für Zuwanderer die Erschließung der europäischen und deutschen Sagen, Mythen und Märchen eine Möglichkeit des Brückenschlages sein. Brücken sind dazu da, von zwei Seiten her überschritten zu werden.
Johannes Eichenthal
Information
http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/autoren/797820_Der-Brueckenbauer.html
Rückert, Friedrich: Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohnes, Wallstein-Verlag Göttingen 2016 152 S. 12,90 € ISBN 978-3-8353-1793-2
Rückert, Friedrich: Briefe. 3 Bde. Hrsg. Friedrich Rückert Gesellschaft e.V., Schweinfurt 1977-1982
Rückert, Friedrich: Werke in 2 Bde. Hrsg. Annemarie Schimmel. Frankfurt am Main 1988 1965
Rückert, Friedrich: Stimmen des Orients. Hrsg. Johannes Mehlig. Leipzig 1965
Rückert, Friedrich: Gedichte. Hrsg. Claus Träger. Leipzig 1958.