Reportagen

Vom Schicksal

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Pfarrer Werner begrüßte die Gäste im Neuen Kirchgemeindehaus in Burgstädt, am Abend des 14. April 2016, zu einer Buchvorstellung – »Not macht erfinderisch« – lautet der Buchtitel. Es geht um das Schicksal mittelständischer Firmen von 1945 über 1990 bis in die Gegenwart. Pfarrer Werner war es, der darauf verwies, dass auf den Tag genau vor 71 Jahren, am 14. April 1945, die kampflose Übergabe der Stadt Burgstädt an Einheiten der 76. US-Infanteriedivison erfolgte, die, im Verband mit der 3. US-Armee, mit gewaltiger militärischer Übermacht bis kurz vor Chemnitz vorrückten, um dann mehrere Wochen zu warten. Pfarrer Werner verwies darauf, dass der Burgstädter Bürgermeister Dr. jur. Martin Kaiser, der von der Obrigkeit zum »Kampfkommandanten« eingesetzt, und verpflichtet worden war, die Stadt militärisch zu verteidigen, komme, was wolle, die Entscheidung zur kampflosen Übergabe verantwortete. Damit setzte der Bürgermeister auch sein Leben aufs Spiel. Der Bürgermeister des nahen Stollberg, der ebenfalls seine Stadt retten wollte, wurde von den eigenen Leuten erschossen. Pfarrer Werner erinnerte aber auch daran, dass Bürgermeister Dr. Kaiser trotz seiner Verdienste um den Erhalt der Stadt, er baute die »Brücke« zur Nachkriegszeit, von der neuen Obrigkeit 1946 verhaftet, und in das »NKWD-Speziallager Mühlberg« verbracht wurde. Dort verstarb er an Unterernährung und Entkräftung. Pfarrer Werner mahnte zur Dankbarkeit für die Rettung der Stadt am 14. April 1945. Im anderen Fall wäre wohl von Menschen und Stadt kaum etwas übrig geblieben.

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Der Herausgeber des Dokumentationsbandes, Andreas Eichler, skizzierte für das Publikum noch einmal die Entstehung und Einordnung des Buches. Seit 1994 traf sich in Niederfrohna ein Kreis von Heimat- und Laienhistorikern, um das Ende des Zweiten Weltkrieges in der Region zu dokumentieren. Von den militärischen Ereignissen am 13./14. April 1945 über den Luftkrieg, die Erneuerung der kommunalen Selbstverwaltung, Bodenreform, LPG-Gründung, Ankunft der Evakuierten, Flüchtlinge und Vertriebenen, Reparationsleistungen, zur Militarisierung der mittelständischen Betriebe durch das Rüstungskommandos Chemnitz und zum Schicksal eben dieser Betriebe nach 1945, habe das Spektrum gereicht. Zwei der Autoren seien aus Burgstädt und hätten das Schicksal von Burgstädter Unternehmen beschrieben.

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Werner Görmar erzählte, wie sein Vater Alfred Görmar 1946 die Firma F. G. Häberle & Co. mit etwa 20 Mitarbeitern übernahm. Das Unternehmen entwickelte sich zu einem Spezialhersteller für Antennen-Technik-Zubehör. Aus dem Mangel heraus erfand man eine besondere technische Kreativität. 1972 wurde das Unternehmen durch Zwangsverkauf in Staatseigentum überführt. 1990 wurde die Reprivatisierung eingeleitet. Werner Görmar fand mit der Firma Anton Kathrein einen Partner aus den alten Bundesländern. 2005 zog sich Werner Görmar aus der Geschäftsführung zurück.

Die Firma entstand als ein Teil jener Branche, die in der Folge der Produktionsverlagerung der Kriegszeit entstand. Während des Kriegs waren auch Spezialisten der Funkmesstechnikherstellung aus ganz Deutschland und Westeuropa in die Region »verlagert« worden. Nach dem Krieg blieben viele. In der ehemaligen Firma Friedemann in Limbach-Oberfrohna (später Bremsenwerk) befand sich ein Sichtungs- und Zerlegwerk für Wehrmachtselektronik. Hier wurden die Materialien der entstehenden Rundfunkindustrie gewonnen. Sternradio Rochlitz und Heliradio Limbach-Oberfrohna sind die bekanntesten Namen.

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Die Textilindustrie ist in Mitteldeutschland seit fast 300 Jahren zu Hause. Konrad Vogel berichtete, dass schon der Großvater eine Firma zur Textilherstellung gründete. Der Vater habe 1923 eine eigene Firma gegründet, die sich der Herstellung von Trauerflor widmete. Der Maschinenpark wurde vergrößert. Man stellte fusselfreie Putztücher für die optische Industrie her, Stoffe, Ober- und Unterwäsche. Während des Zweiten Weltkrieges mussten Wickelgamaschen, Fliegeroberhemden, Mullbinden und Tücher für die optische Industrie hergestellt werden. Dazu kamen wetterfeste, beschichtete Kradmäntel. Das Rüstungskommando ordnete zudem eine Tachometerherstellung für die VDO in den Räumen der Firma Vogel an.

Nach dem Krieg produzierte man aus den beschichteten Stoffen »Wettermäntel«. Die örtliche »Entnazifizierungskommission« wollte den Firmeninhaber aus dem Betrieb entfernen, gewährte ihm aber eine Frist, die jeweils verlängert wurde.

Der Firmengründer hatte 1945 von der russischen Besatzungsmacht einen großen Posten reine Seide aus Wehrmachtsbeständen gekauft, um auf die Produktion von Unterwäsche umzustellen. Das Finanzamt setzte die Firma wegen dieses Kaufes unter großen Druck. Der Firmeninhaber verstarb 1949 unerwartet. Seine Frau flüchtete 1953 mit der Familie in die Bundesrepublik. Konrad Vogel kehrte jedoch nach der Proklamation des »Neuen Kurses« in der Wirtschaft durch den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht zurück in die Heimat und übernahm die Verantwortung für den väterlichen Betrieb. Er baute den Betrieb von der Stoffherstellung zur Konfektion von Ober- und Unterwäsche um. Unter einfachsten Bedingungen entwickelte man gestalterische und qualitative Spitzenleistungen. Von bügelfreien, atmungsaktiven Herren-Oberhemden bis Damen-Nachtwäsche für Exquisitgeschäfte und Export reichte das Spektrum. 1972 erfolgte ebenfalls die »Verstaalichung« und Einordnung in Großstrukturen. Doch der Betrieb behielt auf Grund seine Exportleistungen immer eine relative Eigenständigkeit. Die Leitung blieb bei Konrad Vogel. 1990 erfolgte die Reprivatisierung. Zugleich wurde in neue Technik investiert. Bei einem Vergleich von 30 führenden Wäschherstellern aus Deutschland, Österreich und er Schweiz belegte die Firma Konrad Vogel den Platz 8. Man verfügte über ein gesamtdeutsches Vertreternetz. Doch bereits 1996/97 brach der Fachhandel ein. 1998 ging die  Firma in die Insolvenz, obwohl die regionalen Bedingungen ihrer Existenz wohl noch nie so gut gewesen waren.

Was war geschehen? Anfang der 1990er Jahre verlagerten große Hersteller auf Druck des Großhandels die Produktion und Konfektion nach Tschechien, nach der Ukraine und später nach Asien. Die Produktionsverlagerung leitete den Kompetenzverlust in textiler Produktion und Konfektion von Ober- und Unterbekleidung ein. Damit begann das Ende eine 300jährigen Erfahrungs- und Wissensakkumulation in Sachen Textil.

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»Schicksal« ist wohl ein Wort, das wir erst im Alter annehmen können. In der Jugend glaubt man, dass man vieles erreichen kann. »Das Leben« ist aber ein Prozess, in dem eigene Vorstellungen mit Bedingungen zusammenkommen, die wir als Individuen nicht beeinflussen können. Die skizzierten Firmengeschichten bestätigen das.

Der bei Tambach-Dietharz geborene Dominikanermönch Eckhart von Hochheim (um 1260 bis 1328) begründete in seinen, in mittelhochdeutscher Sprache gehaltenen, Predigten, dass wir nach Weisheit streben sollten, um mit unserem Schicksal  klar zu kommen. Weisheit beginne mit Demut. Damit meint Eckhart, der am Ende seines Lebens wegen »Abweichung« vom verordneten Glauben der Papstkirche angeklagt wurde, keine Unterwürfigkeit. Vielmehr geht es darum, uns selbst nicht so wichtig zu nehmen, um die für uns wichtigen Dinge zu erkennen. Erst auf Basis der Weisheit wird für Eckhart »Gelassenheit«, ein Wort, dass heute wieder zunehmend von Interesse ist, sinnvoll denkbar. Das Gebet ist für Eckhart die meditative Möglichkeit, um zu uns selbst, und mit unserem Schicksal klar zu kommen.

Johannes Eichenthal 

Eine weitere Vorstellung des Buches findet am 11. Mai 2016 im Stadtarchiv Chemnitz, Aue 16, statt. Irmgard Eberth wird über das Schicksal des VEB Feinwäsche Bruno Freitag, Klaus Dietz über das der Firma Heli-Radio und Hermann Friedrich über DKK Scharfenstein berichten. Die Veranstaltung beginnt um 18.00 Uhr.

Notmacht erfinderisch. Zur Geschichte der Industrie in der Region Chemnitz-Zwickau. 1945 – 1990 – 2015. 184 Seiten, brosch. ISBN 10,00 Euro

ISBN 9783937654522. In jeder Buchhandlung erhältlich oder direkt beim Verlag www.mironde.com

 

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