Essay Feature

Der eine Gott und die Mannigfaltigkeit der Religionen. Zum Abschluss der Herder-Briefausgabe

 

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Schloss Friedenstein in Gotha. Herder besuchte diesen Ort mehrfach. Hier lebte Prinz August von Sachsen-Gotha (1747–1806), einer der wichtigsten Brief- und Diskussionspartner Herders.

 

 

Mitte dieses Jahres erschien Band XVIII der Herder-Briefausgabe im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar. Band XVIII enthält das Sachregister der Kommentarbände XI bis XVII und kann nun der Ausgangspunkt für die systematische Erschließung des umfangreichen Kommentars dieses Großprojektes sein. Begründet wurde diese Edition von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Dobbek hatte über viele Jahre diese Ausgabe vorbereitet, verstarb aber bereits 1971. Der erste Band erschien 1977, in der Folge zitiert als Dobbek/Arnold – DA.

Die 18 Bände werden ihren Platz vorwiegend in großen wissenschaftlichen Bibliotheken finden. Es wäre zu wünschen, dass der vorgelegte Forschungsstand von den Wissenschaftlern wenigstens zur Kenntnis genommen wird. Bisher ist das dem Anschein nach nicht der Fall. Zum Beispiel setzte ein renommiertes Wissenschaftlergremium unter Leitung von David Crystal in der »Cambridge Enzyklopädie der Sprachen« neben ein Porträt Johann Gottfried Herders das Stichwort »Nationalismus«. Dann folgt die Erklärung: »Im 18. und 19. Jahrhunder waren Urteile über Sprache gerade in Deutschland oft eng mit Fragen der nationalen Identität verknüpft … Eine entsprechende Denkschule lässt sich auf folgenden Ausspruch Johann Gottfried Herders zurückführen: ‹Hat ein Volk etwas Lieberes als die Sprache seiner Väter?›« (Frankfurt, 1993ff, S. 7).

Wie der Autor mit diesem Zitat seinen Nationalismus-Vorwurf begründen will, bleibt sein Geheimnis. Das Zitat Herders kann auf seriöse Weise nur als ein Hinweis auf die Bedeutung der Sprache für die Bildung gelesen werden. Wenn man sich die Mühe macht, wirklich einmal Herder zu lesen, dann kann man nur mit allergrößter Anstrengung übersehen, dass für Herder das Nationale immer zugleich mit dem Inter-Nationalen gedacht wird. »Die Stimmen der Völker in Liedern« war der Titel einer Textsammlung, die Herder herausgab, in der der allgemeine Zusammenhang der besonderen nationalen Lieder herausgearbeitet wurde, und in der zugleich die Besonderheit der Lieder dokumentiert wurde.

Die »Cambrigde Enzyklopädie der Sprachen« verdeutlicht uns im Punkt Herder den Niedergang der Geisteswissenschaften. Aber nicht nur in Großbritannien, auch in Deutschland verlieren die Geisteswissenschaften in unserer Zeit drastisch an Kompetenz, Ansehen und Einfluss auf die öffentliche Diskus­sion. Gerade in unserer Zeit, in der so ziemlich alles fragwürdig geworden ist, wäre ein Besinnen auf unsere literarischen Traditionen angebracht. Ohne Tradition können wir keine neue Hoffnung schöpfen. Mit dem Ende des Kalten Krieges sehnten sich Milliarden von Menschen nach militärischer Abrüstung, Ächtung von Kriegführung und menschenwürdigem Leben für alle Menschen auf dieser Erde, unabhängig von ihrem Wohnort. Das war ein Ausdruck der gestiegenen Vergesellschaftung des menschlichen Lebens. Wir sind immer mehr abhängig von allen Menschen auf dieser Welt.

Die Hoffnungen der Menschen wurden enttäuscht. Kriege und terroristische Gewalt sind in einem Maße eskaliert, wie man es sich 1990 nicht vorstellen konnte. Wer eine humane Zukunft will, der muss die Ursachen des Rückfalls in eine Politik, ähnlich der am Vorabend des Ersten Weltkrieges, diskutieren.

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1. Den Sieg im Kalten Krieg hatten die USA auch errungen, weil sie in Afghanistan ein Bündnis mit islamistischen Terrorgruppen gegen die »gottlosen Kommunisten« eingingen, diese bewaffneten, ausbildeten und instruierten. Aus historischer Unkenntnis verhalfen sie einer terroristischen Strömung zu geopolitischem Einfluss, die bereits seit 1900 allein Gewalt gegen die Kolonialmächte als Ziel ansah. (vgl. Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empire, Frankfurt 2012) Auf dem Höhepunkt ihrer Macht begannen die USA am 16. Januar 1991 mit dem »Golfkrieg« eine ganze Reihe von militärischen Interventionen im Nahen Osten. Die Folgen sind katastrophal. 2015 gab es 60 Millionen Flüchtlinge, mindestens Hunderttausende Tote, gigantische Zerstörung von wirtschaftlicher Infrastruktur, Staatsstrukturen und des politischen Kräftegleichgewichtes. Keines der globalen Probleme wurde mit diesen Kriegen gelöst. Im Gegenteil. Die islamischen Terrorgruppen wendeten sich in der Folge dieser Kriege gegen ihre ehemaligen Auftraggeber. Auf dem einstigen Bündnis, das allen westlichen Werten widerspricht, lastet ein »Fluch der bösen Tat« (Peter Scholl-Latour). In der Folge kam es zur Konfrontation von Islam und Christentum. Dem Anschein nach ist der »Kampf der Kulturen«, vor dem der Konservative Samuel Huntington 1996 das neokonservative US-Establishment warnte, als Kampf der Weltreligionen Wirklichkeit geworden. Die Dynamik dieses Prozesses bringt es mit sich, dass kaum noch jemand weiß, worin die religiösen Differenzen liegen. Es bleibt nur noch die Konfrontation von »wir« und »die anderen«.

Die Weltreligionen selbst sind dem Anschein nach aus sich heraus nicht in der Lage, diesen Kampf zu beenden. Das Projekt »Weltethos«, welches gemeinsame ethische Ziele thematisierte, einst von Hans Küng begründet, ist vergessen. Es fehlen wirkliche Sanktionen gegen den Missbrauch der Religion für militärische und terroristische Gewaltakte. Die polarisierenden Medien erzeugen zudem den Eindruck einer Gleichsetzung von fundamentalistischen Strömungen und »Religion«. Um den herrschenden »Kampf der Religionen« zivilisiert, friedlich beilegen zu können, muss man sie verstehen, muss deren Genealogie untersuchen.

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2. Johann Gottfried Herder (1744–1803) begründete einst den Zusammenhang von Religion und Vernunft. Wer sich einige Mühe macht, kann in Herders Texten Anregungen für die Entdeckung der Genesis der Religionen finden.

Aber Herder untersuchte die menschliche Geschichte nicht objektivistisch, sondern immer unter dem Aspekt menschlicher Verantwortung. In konzentrierter Weise sah er diese Verantwortung in der Haltung der Menschen zur Gewalt ausgedrückt. Die Nemesis war seit dem Altertum die Göttin der Rache und Vergeltung. Herder konstatierte ein »Gesetz der Vergeltung« in der Geschichte. Herrschende und Völker, die sich als »Auserwählte« betrachteten, die sich über das allgemeine Recht erhaben fühlten, die anderen Unrecht antaten, mussten nach geraumer Zeit die gleiche Gewalt als eine Art von »Echo« oder »Vergeltung« erleiden. Selbst die stolzesten Imperien wurden nach Ablauf ihrer Zeit in der Regel von »Barbaren« heimgesucht. Eine Spirale der Gewalt und der Gegengewalt dominiert die Geschichte.

Herders Fazit der Französischen Revolution von 1789 besteht darin, dass die Menschen durch maßvolles, friedliches Verhalten diese Spirale überwinden sollten. Wenn jede Maßlosigkeit über kurz oder lang auf den oder die Urheber zurückfällt, dann sollte man unter der Maßgabe der Vernunft die Maßlosigkeiten besser vermeiden. Die beiden Göttinen der Adrastea, eine Art von höherer Nemesis, lobten maßvolles Verhalten mit dem Lorbeer-Zweig der Ehre und bestraften maßloses Verhalten mit dem Drehen am Rad des Schicksals, d.h., mit dem schnellen Umschlagen einstiger Erfolge in ihr Gegenteil.

Wie kam Herder zu einer solchen Konzeption?

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3. Johann Gottfried Herder hatte, anders als die Mehrheit seiner Zeitgenossen, mit dem Begriff »Aufklärung« nicht nur den engen Rahmen seines Zeitalters im Blick, sondern den gesamten Emanzipationsprozess des Menschen. »Aufklärung« war für Herder keine zeitlich begrenzte, abgeschlossene historische Epoche, sondern ein sich ständig erneuernder Kulturalisierungsprozess. Der Theologie-Student Herder sah im Unterschied zu seinem Philosophie-Lehrer Immanuel Kant (1730–1804), bei dem er 1762–64 in Königsberg studierte, in der Tradition der Weltweisheit die Humanität nicht nur von einer, sondern von zwei »Säulen« getragen; nicht nur von der Vernunft, sondern auch vom Glauben.

Nach den Kantischen Vorlesungen an der Königsberger Universität hörte Herder an den Abenden dem protestantischen Philosophen Johann Georg Hamann (1730–1788) zu. Hamann bestärkte Herder im Bestreben, die Quellen der Bibel von Anfang an literaturgeschichtlich zu verstehen.

Nach dem Weggang aus Königsberg tauschte sich Herder über wichtige konzeptionelle Gedanken mit Hamann aus.

In einem Brief von Mitte Februar 1765 an Hamann (DA I/ Nr. 12) schrieb Herder: »Die Edda wird ihnen gefallen … als Weltweiser wünschte ich einst Muße zu haben, diese Götterlehre mit der Mythologie der Griechen, der Hebräer, der Xsten, u. der vielen Heiden in den Reisebeschreibungen vergleichen zu können; um einst hieraus vor mich eine Geschichte der Religionen samlen zu können, wozu ich im ersten Feuer, worin ich die Edda las, einen Plan entworfen.«

In einem Brief von April 1768 an Hamann (DA I/ Nr. 43) stellte Herder fest:

a) Dass die »Vertreibung« aus dem Paradies keine Strafe, sondern Entlassung in die Selbständigkeit war: Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung!

b) Die Notwendigkeit, die orientalischen Quellen des Christentums lesen zu lernen, um den Bibeltext besser verstehen zu können.

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4. Herder fasste Literaturgeschichte viel weiter als heute üblich. So unterwarf er auch  naturwissenschaftliche, juristische, religiöse und mythologische Quellentexte den Forderungen der Textkritik und wendete hermeneutische Verfahren auf diese an. Seine Diskussionspartner waren mit den Bibliotheken in Jena, Göttingen und Wien eng verbunden. Herder erschloss mit seiner hermeneutischen Methode die Verwurzelung des Alten und des Neuen Testamentes in weit älteren orientalischen religiösen Überlieferungen.

In einem Brief von Ende 1772/Anfang 1773 an Christian Gottlob Heyne (DA II/ Nr. 144) schrieb Herder: »Mit dem verbindlichsten, wahresten Dank etc. bekommen Sie den Zendavesta wieder, u. es geht mir äußerst, äußerst schwer, daß ich ihn schon abfertigen muß. Das Buch wird, so närrisch und blind es die Welt ansieht, wird u. kann als Evenement in der gelehrten Welt betrachtet werden u. macht Epoche. Die ganze Orientalische Philosophie bekomt aus ihm neuen und wahrhaftig ersten Aufschluß, von der insonderheit seit Mosheims Zeit so viel geschwatzt u. geträumt ist. Die Ketzer- folglich die Kirchengeschichte aller ersten Christlichen Jahrhunderte: alle Streitigkeiten über Worte im Stil Johannes (u. darüber sind die Meisten!) bekommen neuen Aufschluß: in Vielen Stücken Geographie u. Gang der Dichtung, und des menschlichen Geistes etc. etc. Ihre vortreffliche Hypothese von dem, was Sie im AltGriechischen von Thrazien obenher führen, u. vom andern unterscheiden, kann hier historische Evidenz bekommen, … Die Orphischen Hymnen sind nichts als Izeschne’s der Georgischen Völker; seine Religion bis auf sonderbare hie u. da unerklärte Wörter Stücke dieser Mythologie, deren mir beim blossen Gebrauch aus dem Kopf ohne nachschlagen schon eine gute Anzahl eingefallen: das AltGriechische schlingt sich durch diesen Weg offenbar an das AltZend hinan – u. was daraus nun sich alles ergebe?

… Nochmals Dank, lieber kleiner Mann; ich hoffe nicht, daß Ihnen das Ausbleiben des Buchs Verdruß gemacht haben oder machen könne. Von den Samskretan-Veda’s weiß noch niemand in Europa Nichts: was da für ein Licht aufgehen wird! Ich umarme Sie, lieber Beförderer meiner Spielwerksphantasien, das heißt, großer Mäcenas der Musen!«

Im Kommentar heißt es, dass 40 Jahre später das Sanskrit-Studium in Deutschland von Friedrich und Wilhelm August Schlegel begründet wurde.

In einem Brief an Johannes von Müller am 3. August 1798 (DA VII/ Nr. 423) geht Herder auf die altpersischen Zend-Avesta-Texte (Zoroaster, Zarathustra) ein: »Von Paris aus bin ich ebenso unerwartet secundiert worden. Millin hat mir Abdrücke  der Persischen Steine geschickt, die in Caylus Cabinett waren, auch mehrere Abdrücke von Ziegeln mit Alt-Persischer Schrift beschrieben. Alle diese Zuvorkommenheiten machen mich furchtsamer, nicht kühner.

Wollen Sie etwas von meinen Resultaten wißen? Sie sind die ältesten, aber ich hoffe, zur Evidenz gebracht, erwiesen.

1. Persepolis ist unter Darius Hystaspes gebaut; ich kann es erweisen; ich gebe eine Geschichte der Persischen Bildnerei u. Baukunst. Was Heeren darüber gesagt hat, ist (wo es mir nicht abgestohlen war) schief gesehen u. nicht Stich haltend.

2. Dshemschid ist – das sage ich nicht. Sie werden sich aber freuen über das was er ist, so auch über mehrere Gestalten der ältesten Zeit, Kaiamorts, Huscheng, Temuras. Mir ist recht wohl, wenn ich an diese in unbegreiflich einfachem Licht erscheinende Urzeit denke.

3. Zend-Avesta werden Sie, in einer Gestalt sehen, die, wie ich hoffe, Sie überraschen wird. Er trägt seine Wurzeln in sich. Meines Wißens ist er noch von keinem kritischen Auge geordnet. Kleuker hat ihm mit seiner mystischen Hyperphysik geschadet, u. was der Göttinger Tychsen darüber sagt, ist erborgt oder steht am Rande.

4. Das Licht, das auf die ersten Denkmale der Ebräer, auf manche Nachrichten der Griechen von den Persern, die Mithra-Geheimniße, die Abraxen u. so fort dorther fällt, ist unglaublich. Es legt sich alles selbst dar.

Werden Sie mich nicht in die Familie Hans Lufts setzen, da ich dies schreibe? Aber nur Ihnen schreibe ichs; u. ich bitte, der Missdeutung wegen, es niemand mitzutheilen. Mit Manchem bin ich bei weitem noch nicht aufs Reine; u. mir fehlt die Zeit.«

Im Kommentar heißt es mit Berufung auf Rudolf Smend: »H.s programmatische Ansätze für umfassende Forschungen zur vergleichenden Religionsgeschichte wurden am Ende des 19. Jahrhunderts in der protestantischen deutschen Theologie von der ‹Religionsgeschichtlichen Schule› aufgegriffen. Der Alttestamentler Hermann Gunkel (1862–1932) erklärte das Christentum für eine ‹synkretistische Religion› und die Genesis für ‹eine Sammlung von Sagen› und machte sich zum Ziel, ‹Herders Testament zu vollziehen›… Der von ihm (Gunkel) als einem der ersten auf breiter Front durchgeführte vorderorientalisch-religionsgeschichtliche Vergleich ergab mannigfache Beziehungen und Abhängigkeiten nach Form und Inhalt, die Israel hier wie sonst zu einem ‹Spätling unter den Völkern› herabsinken ließen« (Rudolf Smend, Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien, Bd. 3, München. Beiträge zur evangelischen Theologie, Bd. 109)«

Man muss vielleicht anfügen, dass Hermann Gunkel zu den Begründern des renommierten Handwörterbuches »Religion in Geschichte und Gegenwart« gehört, welches bei Mohr/Siebeck in Tübingen bis heute mehrfach neu aufgelegt wurde. Hermann Gunkel arbeitete die literarischen Gattungen Sage, Legende und Märchen im Alten Testament heraus. Gemeinsam mit Hugo Greßmann gab Gunkel in Göttingen bahnbrechende Kommentare zum Alten und Neuen Testament heraus.

Greßmann verwies 1929 in seinem »Messias« (der Gesalbte, griech. Christus) auf die altorientalischen Quellen des Glaubens an einen idealen König, der schließlich die Weltherrschaft erringen und zum Weltenordner, Welterlöser und Weltenrichter werden sollte. Gunkel und Greßmann sprachen sich gegen Missionierungen und für den Bau von Brücken zwischen den Religionen aus. Zur großen Schar der Schüler Gunkels gehört auch Rudolf Bultmann, ein Briefpartner Martin Heideggers.

Erst im Lichte der Forschungen Gunkels und Greßmanns wird die Rolle Herders in der religionsgeschichtlichen Forschung deutlich. Herder stellte sich die mündliche und schriftliche Überlieferung der »Urerzählung von der Schöpfung« nicht als Weitergabe geschlossener Text vor. Die Überlieferung erfolgte in der Regel unvollständig. Oft waren Überlieferungsverluste die Folge von Kriegskatastrophen. Aus den zerstreuten »Trümmern früherer Religionen« setzten die Völker die Überlieferung neu zusammen, erzählten die Schöpfungsgeschichte auf ihre Weise neu.

Unter religionshistorischem Aspekt ist die Darstellung der Entstehung des Christentums in Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« bemerkenswert: »Die ächteste Humanität ist in den wenigen Reden enthalten, die wir von ihm (Jesus) haben; Humanität ist’s, was er im Leben bewies, und durch seinen Tod bekräftigte; wie er sich denn selbst mit seinem Lieblingsnamen, den Menschensohn nannte.« (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In Herder-Werke in drei Bänden, Hrsg. Wolfgang Proß, Bd. III/1, S. 652, München 2002). Herder verweist darauf, dass die Erwartung eines »Messias« in Judäa eigentlich auf einen idealen König gerichtet war, der den untergegangenen jüdischen Staat wiedererrichten sollte. (S. 654). »Es erschien ein Mann aus dem Volk, dessen Geist, über Hirngespinste irdischer Hoheit, alle Hoffnungen, Wünsche und Weissagungen der Propheten zur Anlage eines idealistischen Reiches vereinigte, das nichts weniger als ein jüdisches Himmelreich sein sollte. Selbst den nahen Umsturz seiner Nation sahe er in diesem höheren Plan voraus, und weissagte ihrem prächtigen Tempel, ihrem ganzen zum Aberglauben gewordnen Gottesdienst ein schnelles trauriges Ende. Unter alle Völker sollte das Reich Gottes kommen, und das Volk, das solches eigentümlich zu besitzen glaubte, ward von ihm als ein verlebter Leichnam betrachtet. Welch umfassende Stärke der Seele dazu gehört habe, im damaligen Judäa Etwas der Art anzuerkennen und vorzutragen, ist aus der unfreundlichen Aufnahme sichtbar, die diese Lehre bei den Obern und Weisen des Volkes fand; man sahe sie als einen Aufruhr gegen Gott und Moses, als ein Verbrechen der beleidigten Nation an, deren gesamte Hoffnungen sie unpatriotisch zerstörte. Auch den Aposteln war der Exjudaismus des Christentums die schwerste Lehre; und sie den christlichen Juden selbst, selbst außerhalb Judäa, begreiflich zu machen, hatte der gelehrteste Apostel, Paulus, alle Deutungen Jüdischer Dialektik nötig.« (S. 655; Anm. Herder, der in Gegensätzen zu denken vermochte, hatte eine Abneigung gegen die »Dialektik« seiner Zeit. Er setzte sie mit Sophistik gleich.)

Herder schätzt an Jesus besonders, dass dessen Revolution der Religion alle Menschen einschließt. In dem auf Sklaverei basierten Römischen Weltreich hatte diese Idee der Gleichheit aller Menschen enorme Wirkung.

Herder hebt weiter die menschenfreundliche Denkweise Jesu hervor, die auf einen Bund der Freundschaft und Bruderliebe zielte; und dass die christliche Gemeinde ohne Hierarchie existieren sollte. (S. 657)

Hier konstruiert Herder vielleicht seine eigene Sichtweise in den historischen Prozess hinein. So sah er durch Jesus bereits den Ansatz zur Überwindung der Konfessionsgrenzen und sein von Freundschaft und Brüderlichkeit geprägtes Humanitäts-Ideal vorweggenommen.

Unter literaturwissenschaftlichem Aspekt müssen wir anmerken, dass Herder vor allem den Ansatz Gotthold Ephraim Lessings weiterführte. Die Kritik der Lessingschen Fabel-Theorie führte Herder zur Einsicht, dass es bei der Fabel um unsere Einordnung ins Naturganze geht, nicht darum, Moral von Tieren zu lernen, und dass der Kern der Fabel das ist, was bei Aristoteles der Mythos. Sprache wird hier unter dem Aspekt des Erzählens, der Tradition, des Bewahrens, des Glaubens gefasst. Auch die religösen Überlieferungen waren für Herder als Fabel oder Mythos zu verstehen.

Gleichzeitig beschäftigt sich Herder intensiv mit dem Ursprung der Sprache. Die wichtigsten  sprachtheoretischen Werke von Hume, Berkeley, Locke, Leibniz, Condillac, Diderot u.a. waren ihm vertraut. Auf dieser Grundlage führte Herder die traditionelle Logos-Theorie weiter. Sprache wird hier unter dem Aspekt der Vernunft, als organische Kraft gefasst.

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5. Selbst wohlmeinende Freunde, wie Hamann, bemängelten am Herder’schen Schaffen, dass die meisten der begonnenen Werke nicht zu Ende geführt wurden. In der Tat kündigte Herder mit der »Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts«, mit den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« u.a. Bände an, die dann nicht kamen. Zudem erschienen die Herderschen Werke in einzelnen Teilen, über mehrere Jahre, nacheinander. Die »Ideen« musste Herder aufgrund der befürchteten Verschärfung der Zensur und der notwendigen Neubewertung der Geschichte nach 1789 im Jahre 1791 abbrechen. Das Fortsetzungsprojekt »Briefe zur Beförderung der Humanität« beendete er nach der 10. Sammlung. Deren Fortsetzung, die Zeitschrift »Adrastea«, wurde aufgrund des Todes Herders, nach drei Jahren, unvollendet eingestellt.

Das Fragmentarische des Herder’schen Werkes erschwerte sein Gesamtverständnis. Konnte man den Herderschen Geist allein aus seinen Schriften verstehen? Einseitige Kritiker bezeichneten den Herder’schen Stil mitunter als »unverständlich und dunkel« und andererseits als »unwissenschaftlich und populär«. Mitunter führte ein und derselbe Kritiker beide Vorwürfe gleichzeitig an. Die Mehrheit der Rezensenten, akademischen Theologen, Philosophen und Historiker erlagen leider der Versuchung, in Detailfragen recht behalten zu wollen. Diese vorurteilsbehaftete Schwerpunktsetzung verhinderte in der Regel die nüchterne Erfassung des Herderschen Ansatzes.

Allerdings war eine verstehende Lektüre der Herder-Texte auch möglich, wenn man nicht sofort das Gesamtprojekt vorliegen hatte. Johann Wolfgang von Goethe lobte zum Beispiel am ersten Band der »Ideen«, dass Herder die Erdgeschichte verständlich, anschaulich, auf hohem Niveau und ohne jedes philosophische Modevokabular darzustellen vermochte.

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6. Wenn es einen zentralen Text gibt, der die Herder’sche »Denkungsart« auf konzentrierte Weise verkörpert, dann ist es das Dialogbändchen »Gott – einige Gespräche« (Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hrs. von Bernhardt Suphan. SWS, Bd. XVI, S. 401–580). Das Buch erschien erstmals 1787. Es ist, zusammen mit Buch 15 der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, eine Art von Fazit des Herder’schen Projektes einer Universalgeschichte der Bildung der Welt. Die Entstehungsgeschichte reicht bis zu den Anfängen der »Ideen« zurück.

Der Ausdruck »Gott« scheidet immer noch die Geister. Für die Mehrzahl der Kirchenmitglieder ist es eine menschenähnliche Vatergestalt, die uns beisteht, um das Leben zu bestreiten. Für die anderen, die sich als »Atheisten« verstehen, ist im Lichte der modernen Wissenschaft klar, dass es einen solchen »Vatergott« nicht geben kann. Sie lehnen deshalb bereits das Wort »Gott« ab.

Interessant ist, dass sich Herder in seinem Dialog auf den Gottesbegriff des niederländischen Philosophen Benedikt de Spinoza bezog. Spinoza war von der jüdischen Gemeinde aufgrund seiner Ansichten ausgeschlossen worden. Er war damit ohne Konfession. Seine zahlreichen Gegner bezeichneten ihn deshalb als Atheisten.

Spinoza, dessen Vorfahren aus Portugal vertrieben worden waren, hatte jedoch den tradierten Gottesbegriff der Juden über alle Konfessionsgrenzen hinaus erweitert.

In seinem »Theologisch-politischen Traktat« unternahm Spinoza in der Tradition des Cartesianischen Rationalismus eine historische Kritik des Alten Testaments, um Toleranz zwischen den Religionen zu begründen. Dem historischen Text, der Fabel, dem Mythos wurde er mit der mathematisch-geometrischen Methode, mag sie noch so streng angewendet werden, jedoch nicht gerecht. In Bezug auf den Traktat formulierte Herder: Spinoza ist ein ehrenwerter Mann, aber er hat keine Ahnung von Poesie und besitzt keinen Humor.

Ganz anders wertete Herder jedoch die »Ethik« Spinozas. Gott war hier kein strafender Patriarch mehr, wie im Judentum, sondern das Wesen des Universums, die schaffende Natur.

Vielen Menschen des 17. Jahrhunderts war eine solche Denkweise fremd. Obwohl Spinoza von Freunden beschützt wurde, musste er die gewalttätige Ablehnung seiner Thesen durch »Gläubige« erleben, bis hin zu Mordversuchen. Selbst im 18. Jahrhundert waren Spinozas Schriften schwer zu finden. Herder griff auf die Übersetzung der »Ethik« von Lorenz Schmid, einem Schüler Christian Wolffs, zurück. Allerdings war diese Schrift als eine Art »Widerlegung« Spinozas getarnt: »B. v. S. Sittenlehre widerlegt von dem berühmten Weltweisen unserer Zeit Herrn Christian Wolff. Frankfurt/Lepizig 1744.« Eine Würdigung Spinozas wäre Ende des 18. Jahrhunderts eher von wissenschaftlichen Aufsteigern wie Johann Gottlieb Fichte oder ketzerischen Außenseitern wie Johann Georg Hamann zu erwarten gewesen. Aber weder Fichte noch Hamann begriffen, warum Herder Spinoza gegen die Vorwürfe des Atheismus und Pantheismus verteidigte.

Im Vorwort zur ersten Auflage schreibt Herder, dass er sich nur einen ruhigen Sommer wünsche, um die Geschichte der Adrastea – oder von den Gesetzen der Natur – zu schreiben. Das Wirken der Adrasteen, der Göttinnen der Wahrheit und Gerechtigkeit, ist der Kern des Textes, wie auch der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, der »Briefe zur Beförderung der Humanität« und der Zeitschrift »Adrastea«. Bis an sein Lebensende arbeitet Herder an diesem Thema.

Der Plato-Verehrer und Liebhaber des Zwiegespräches machte den Dialog zweier Männer, in den sich am Ende eine sehr kluge Frau einmischt, äußerlich an der Frage »für oder gegen« Benedikt Spinoza fest. Selbst für einen protestantischen Generalsuperintendenten und ehemaligen Bewerber um einen Theologie-Lehrstuhl in Göttingen war diese Thematik im Deutschland des Jahres 1787 keineswegs ungefährlich. Es steht außer Frage, dass Herder mit der Erstauflage von 1787 keinen der »Orthodoxen«, die sich selbst die Bezeichnung »Rechtgläubige« und »den anderen« die Bezeichnung »Ungläubige« verliehen, wie auch nicht seinen ehemaligen Lehrer Kant und dessen Schule zu interessieren vermochte. Statt dessen formuliert er vage, dass die Schrift ein »Führer der Verirrten« sein könnte.

Das ist sicher keine Polemik gegen den scharfsinnigen Freund und orthodoxen Spinoza-Gegener Friedrich Heinrich Jacobi. Vielleicht will uns Herder hier eher an die »Kette der Generationen« erinnern, in der er steht. »Führer der Unschlüssigen« ist der Titel eines Buches des berühmten Arztes und Rabbis Mose ben Maimon (1135–1204). Der verdankte seine Einsicht in die Nichtdarstellbarkeit einzelner positiver Eigenschaften Gottes wesentlich dem arabischen Philosophen Averroes (1126–1198), einem der Stammväter der sogenannten »negativen Theologie«. Zu den Lesern ben Maimons gehörten auch Meister Eckhardt (um 1260–1328), Benedikt Spinoza (1632–1677), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Johann Gottfried Herder.

Spinozas Ansatz kann man so beschreiben: Wo Wirkungen sind, da muss es Ursachen geben. Die Frage ist aber die nach der mächtigsten, höchsten Ursache: »Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Wesen, d.h. die Substanz, welche aus unendlichen Atributen besteht, von denen ein jedes ewiges und unendliches Sein ausdrückt.« (Spinoza, Ethik. Hrsg. Helmut Seidel. Leipzig 1975, S. 23)

Dem Leser wird deutlich, dass Spinoza von Wirkungen auf die Ursache zu schließen versucht. Er geht davon aus, dass dort, wo Erscheinungen sind, auch ein Wesen sein muss. Die Vertreter der empiristischen Logik hätten diese Annahme sicher bestritten, weil man das Wesen des Universums nicht rein logisch-empirisch nachweisen kann. Aber unsere gesamten Erfahrungen belegen, dass es einen gesetzmäßigen Zusammenhang des Universums gibt, der berechenbar ist.

Spinoza, der seinen Lebensunterhalt als Glasschleifer verdiente und der die praktische Bedeutung der Fernrohre wie der Mikroskope für die Wissenschaft kannte, ging dem Anschein nach vom Erkenntnisstand der negativen Theologie aus. Im Unterschied zu seinen mittelalterlichen Vorgängern versuchte Spinoza jedoch die wenigen Aspekte, die wir vom Wesen des Universums, von der absoluten Wahrheit wissen können, exakt zu formulieren.

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7. Von Anfang an wird deutlich, dass es Herder nicht um eine »Musealisierung« Spinozas geht. Er will die Texte Spinozas auch nicht »rein« konservieren. Statt dessen hebt Herder in seiner Spinoza-Kritik zunächst dessen Verwobenheit in die weit gefasste Literaturgeschichte heraus. Er macht zugleich deutlich, dass man komplexe Fragen nicht nach dem Schema »dafür« oder »dagegen« beantworten kann. Herder nennt die beiden Gesprächsparter, in Anlehnung an Leibniz, Theo­phron und Philolaus. Dem Philolaus legt Herder auch Argumente seines Briefpartners Jacobi in den Mund. Theophron macht den skeptischen Philolaus zunächst mit dem Leben des Benedikt Spinoza bekannt.

Theophron leiht seinem Gesprächspartner Spinozas Essay »Von der Besserung des Verstandes und von dem Wege, auf welchem man am besten zur wahren Kenntnis der Dinge gelange«. Philolaos hatte bis dahin zwar eine Meinung über Spinoza, doch noch keinen Text von diesem gelesen. Herder lässt uns über mehrere Seiten an der Lektüre des Essays teilhaben: »Belehrt von der Erfahrung, daß alles was uns im gemeinen Leben so häufig begegnet, ein leerer Tand sei, … entschloß ich mich endlich, zu forschen, ob es etwas gebe, das wahrhaft gut sei und sich mittheile, so daß mit Verwerfung alles andern, die Seele von ihm allein Einwirkung erhalte? … Denn was uns gemeiniglich im Leben begegnet und von den Menschen (nach ihren Handlungen zu urtheilen) für das höchste Gut angesehen wird, läßt sich auf drei Stücke bringen: auf Reichthum, Ehre und Lust. Durch alle drei aber wird das Gemüth so zerstreuet, daß es an kein anderes Gut irgend gedenken kann.« (425/26)

Spinoza hebt hervor, dass Reichthum, Ehre und Lust keine Vollkommenheit ermöglichen. Vielmehr sei das höchste Gut im menschlichen Leben in der Vereinigung des Gemüts mit der ganzen Natur zu suchen. »Jedermann siehet hieraus, daß ich alle Dinge auf Einen Zweck, auf ein Ziel richten wolle, nämlich daß man zur ebengenannten höchsten Vollkommenheit des Menschen gelange; was also in der Wissenschaft nichts zu unserem Zweck beiträgt, muß als unnütz verworfen, kurz alle unsre Gedanken und Handlungen zu diesem Zweck gerichtet werden. Weil aber, wenn wir den Verstand auf den rechten Weg zu lenken suchen, wir auch leben müssen: so müssen wir auch einige Lebensregeln als gut annehmen. Diese nämlich:

1. Nach der Denkart des gemeinen Mannes zu reden und alles zu bewirken, was uns kein Hindernis in den Weg legt, unser Ziel zu erreichen. Denn von ihm können wir großen Vortheil erwarten, wenn wir, soweit es seyn kann, uns seiner Denkart bequemen. Er wird auch auf diese Weise der Wahrheit selbst ein geneigtes Ohr schenken.

2. Das Vergnügen nur sofern zu genießen, als es zur Gesundheit gehöret.

3. Geld und jedes andere nur soweit zu suchen, als es zum Leben, zur Gesundheit und zur Sitte des Landes gehöret, inwiefern diese unserm Zweck nicht widerstrebtet.« (S. 429/30)

Spinoza suchte die nicht vorübergehende, bleibende, immanente Ursache im Universum zu bestimmen. Adäquate Ideen von der Wirklichkeit erlangen wir nur, wenn wir uns auf das Ganze der Natur, des Universums beziehen. Die Argumentation Spinozas gipfelt in dem Gedanken, dass, wenn wir nach dem höchsten Gut streben, das Haschen nach Wind aufgeben, uns in die Natur einordnen, Seligkeit nicht als eine Art von Belohnung erlangen, sondern das tugendhafte Handeln selbst unsere Seligkeit ist. (Ähnlich argumentierte Meister Eckhart in seiner Predigt über die Armut im Geiste.)

Die Herdersche Dramaturgie des Dialoges lässt nicht nur Theophron, sondern auch Philolaus eigene Akzente einbringen, z.B. einen Hinweis auf Johann Heinrich Lambert (1728–1777), der eine Theorie organischer Systeme entwickelt. Am Ende bringt das Eingreifen einer Frau, Theano, die anfangs sehr gegensätzlichen Disputanten im Verstehen Spinozas vollends näher.

Mit hermeneutischem Feingefühl löst Herder in seiner Spinoza-Kritik die Reste von Descart’schem Dualismus und von Anthropomorphismen, von denen sich Spinoza selbst nicht völlig zu befreien vermochte. Den sperrigen Substanz-Begriff habe Leibniz durch den Begriff der »Monade« (die wahren Atome) weiterzuführen versucht. Doch auch die Monade trage noch die Descartsche Trennung von Ausdehnung und Denken in sich. Daneben habe Leibniz das Konzept der »substanziellen Kräfte« entwickelt. So sei die immanente Ursache als die Kraft aller organischen Kräfte zu verstehen.

Herder praktizierte Kritik als Versuch, Spinoza zu verstehen und seine konzeptionellen Gedanken weiterzuführen. Er erliegt nicht der Versuchung, den Fortschritt der Wissenschaft seit Spinozas Tod als eigene Überlegenheit zu verbuchen. Im Gegenteil: er verweist auf neuere Entdeckung chemischer Kräfte, der Elektrizität und des Magnetismus, und konstatiert, das Spinoza seine Theorie bei Kenntnis dieser Entdeckungen selbst weitergeführt hätte.

Letztlich sieht Herder durch Spinoza einen der wichtigsten Versuche zur Überschreitung der Konfessionsgrenzen. Das ist der entscheidende Punkt.

Ausführlich widmet sich Herder der Spinoza-Rezeption des Leibniz-Kenners Gotthold Ephraim Lessing: »En kai pan – Ein und Alles. Ich weiß nichts anderes.«

Es gibt einen allgemeinen Zusammenhang im Universum. Aber, so Herder, Lessing kam mit diesem Grundsatz nicht weiter. Ähnlich ist es mit der Annahme von einer allgemeinen Empfindungsfähigkeit der Materie, wie sie Denis Diderot in seinem Enzyklopädie-Artikel »Spinozist« vorstellte.

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8. In den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« formulierte Herder zunächst, dass wir von einem allgemeinen Zusammenhang des Universums ausgehen, ohne dass wir diesen jemals vollständig beweisen können. Alle unsere bisherigen Erfahrunge bestätigten aber, dass es einen solchen Zusammenhang gibt. Herder nennt die Annahme des Zusammenhanges – Analogie.

An dieser Stelle hob Herder hervor, dass aufgrund des allgemeinen Zusammenhanges das Staubkorn, der Mensch und der Planet den gleichen Naturgesetzen unterworfen werden.

Herder verweist in »Gott« darauf, dass Spinoza die Erscheinungen der Schöpfung (die Modi der Substanz) im Universum auf ein Wesen, ein Allgemeines, eine organische Kraft zurückführte, die unendliche Eigenschaften besitzt, darunter auch die der höchsten Intelligenz: Diese organische Kraft, die höchste Kraft im Universum, sei die Grundlage für Vernunft, Ordnung und Naturgesetze. Weil es diese höchste Vernunft im Universum gibt, deshalb können wir gesetzmäßige Zusammenhänge feststellen.

Am Ende des Dialoges formuliert Theophron folgende Grundsätze:

»I. Das höchste Daseyn hat seinen Geschöpfen nichts Höheres zu geben gewußt als Daseyn …

II. Die Gottheit, in der nur Eine wesentliche Kraft ist, die wir Macht, Weisheit und Güte nennen, konnte nichts hervorbringen als was ein lebendiger Abdruck derselben, mithin selbst Kraft, Weisheit und Güte sei, die eben so untrennbar das Wesen jedes in der Welt erscheinenden Daseyns bilden …

III. Alle Kräfte der Natur wirken organisch. Jede Organisation ist nichts als ein System lebendiger Kräfte, die nach ewigen Regeln der Weisheit, Güte und Schönheit einer Hauptkraft dienen.

IV. Die Gesetze, nach denen diese herrscht, jene dienen, sind: innerer Bestand eines jeglichen Wesens, Vereinigung mit Gleichartigem und von Entgegengesetztem Scheidung, endlich Verähnlichung mit sich selbst und Abdruck seines Wesens in einem andern …

V. Kein Tod ist in der Schöpfung, sondern Verwandlung; Verwandlung nach dem weisesten, besten Gesetz der Notwendigkeit, nach welchem jede Kraft im Reich der Veränderung sich immer neu, immer wirkend erhalten will und also durch Anziehen oder Abstoßen, durch Freundschaft und Feindschaft ihr organisches Gewand unaufhörlich ändert.

VI. Keine Ruhe ist in der Schöpfung: denn eine müßige Ruhe wäre Tod. Jede lebendige Kraft wirket und wirkt fort: mit jeder Fortwirkung also schreitet sie weiter und arbeitet sich aus, nach inneren ewigen Regeln der Weisheit und Güte, die auf sie dringen, die in ihr liegen.

VII. Je mehr sie sich ausarbeitet, desto mehr wirket sie auch auf andere, erweitert ihre Schranken, organisirt und prägt auf sie das Bild der Güte und Schönheit, das in ihr wohnt. In der ganzen Natur also herrscht Ein nothwendiges Gesetz, daß aus dem Chaos Ordnung, aus schlafenden Fähigkeiten thätige Kräfte werden. Die Wirkung dieses Gesetzes ist unaufhaltbar.

VIII. Im Reich Gottes existiert also nichts Böses, das Wirklichkeit wäre. Alles Böse ist ein Nichts; wir nennen aber Uebel, was Schranke, oder Gegensatz, oder Uebergang ist und keins von dreien verdient diesen Namen.

IX. So wie aber die Schranken zum Maß jeder Existenz im Raum und in der Zeit gehören und im Reich Gottes, wo alles da ist, auch das Entgegengesetzte daseyn muß: so gehöret es mit zur höchsten Güte  dieses Reichs, daß das Entgegengesetzte selbst sich einander helfe und fördre: denn nur durch die Vereinigung beider wird eine Welt in jeder Substanz, d.i. ein bestehendes ganzes Daseyn, vollständig an Güte so wie an Schönheit.

X. Auch die Fehler der Menschen sind einem verständigen Geist gut: denn sie müssen sich ihm bald als Fehler zeigen und helfen ihm also, wie Contraste, zu mehrerem Licht, zu reinerer Güte und Wahrheit. Und auch dies Alles nicht als Willkür, sondern nach ewigen Gesetzen der Vernunft, Ordnung und Güte.« (SWS XVI, S. 541–571)

Herder versucht mit diesen Grundsätzen sowohl die allgemeine Struktur der Vernunft im Universum als auch die Besonderheit zur Erfassung dieser Strukturen durch den Menschen zu skizzieren.

Eine ähnliche Formulierung von Grundsätzen finden wir in den »Hodegetischen Abendvorträgen« Herders, die er im Winter 1799 seinem Sohn Emil und dessen Freund Gotthilf Heinrich Schubert zur Vorbereitung auf das Studium hielt. Herder geht hier noch mehr auf den Zusammenhang von Sprache und Vernunft, Witz und Scharfsinn ein. (SWS XXX, S. 509–519)

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9. Im Vorwort zu den »Ideen« gab Herder einen kurzen Ausblick auf seine Methode: »Wenn ich das große Himmelsbuch aufschlage … so schließe ich, so ungetheilt als ich kann, vom Ganzen aufs Einzelne, vom Einzelnen aufs Ganze.« (Johann Gottfried Herder – Werke in drei Bänden.  München/Wien 2002. Hrsg. Wolfgang Proß; Bd. III/1. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 18)

In einem Brief an seinen ältesten Sohn Sigmund August vom 31. Januar 1799 wiederholt Herder seinen Ansatz: »Man betrachte jedes Einzelne, insonderheit Organisierte, als ob es einzig für sich da u. alles dafür geschaffen sey; zweitens, man betrachte es auch so, als ob es für alles da seyn solle, kurz das Allgemeine im Besonderen, das Besondere im Allgemeinen. An sich eine kahle Regel. In der Anwendung wird sie reich und klar.« (DA VIII, S. 31f.)

Herder macht mit diesen sparsamen Hinweisen deutlich, dass organische Systeme nicht mit den Mitteln der »linearen Logik« erfasst werden können. Scharfsinn allein reicht für den Weltweisen nicht aus, obwohl der auch unterscheiden können muss.

Bei Spinoza ging es deshalb nicht um die Frage entweder Notwendigkeit oder Freiheit. Spinoza bestimmte Maßverhältnisse. Es ging ihm um die Bestimmung des Maßes an Freiheit, das wir erringen.

Man darf sich von der Dominanz der deduktiven Methode bei Spinoza nicht täuschen lassen. Zudem muss man bedenken, dass die Deduktion immer den Eindruck des Fatalismus erzeugt. Wenig beachtet wird, dass Spinoza die menschliche Tätigkeit im letzten Kapitel der »Ethik« induktiv darstellt. Er wendet also ein gegenläufiges Verfahren von Deduktion (Zusammenhang des organischen Systems) und Induktion (menschliche Tätigkeit) an. Diese Methode ähnelt dem mathematischen Differenzieren. Es geht um die Ermittlung von Näherungswerten, um Maßverhältnisse. Thomas Hobbes entwickelte  mit diesem Verfahren die genetische Definition. Leibniz erweitere auf dieser Basis das Differenzieren zu einer philosophischen Methode. Herder baute seine Darstellung in den »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« darauf auf. Der Naturzusammenhang wird deduktiv dargestellt und die menschliche Tätigkeit induktiv. Bei der Darstellung der Menschheitsgeschichte sind die Begriffe Allgemeines und Besonderes für Herder besonders wichtig. (Unter Erkenntnisaspekt geht es um Wesen und Erscheinung.) Er zeigt auf der Basis des Wissens seiner Zeit, wie sich aus dem Allgemeinen unser Kosmos, unser Sonnensystem, unsere Erde, die anorganische Natur, Pflanzen, Tiere und Menschen entwickelten. Und er zeigt auch, wie im Kosmos und auf der Erde das Besondere wieder in das Allgemeine eingeht.

Mit diesem Methodensystem, mit Blick auf das Besondere im Allgemeinen und das Allgemeine im Besonderen, vermochte Herder also durchaus das Umschlagen des Allgemeinen in das Besondere und umgekehrt zu erfassen und darzustellen.

Georg Friedrich Wilhelm Hegel übernahm später die Methode in seine Logik. Dort finden wir zwar keinen Hinweis auf Herder, aber den Satz: »Dieses … Moment des Umschlagens, wodurch das anfängliche Allgemeinem als das andere seiner sich bestimmt, ist das dialektische zu nennen.« (Georg Friedrich Wilhelm Hegel:Wissenschaft der Logik, Leipzig 1948, S. 491)

Eine Besonderheit Herders gegenüber Hegel besteht darin, dass er menschliche Geschichte immer unter dem Aspekt menschlicher Entscheidungen darstellt, nicht aber als eine »Logik der Weltgeschichte«. Herders philosophisches Methodensystem vereinigt die Gegensätze Skepsis und Hoffnung, Vernunft und Glauben. Die Fähigkeit zur Vereinigung dieser Gegensätze zeichnet den Weltweisen aus.

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10. Herders interessanteste Korrespondenz-Partner waren vor allem Literaten und Literaturliebhaber, wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803), Christoph Martin Wieland (1733–1813), Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), Jean Paul (1763–1825), Karl Ludwig von Knebel (1744–1834), Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827), Johannes von Müller (1752–1809), Johann Georg Müller (1759–1819), Christian Gottlob Heyne (1729–1812) und Prinz August von Sachsen-Gotha (1747–1806).

Im Kommentar zu einem Brief Herders an Christian Gottlob Heyne vom 31. Oktober 1791 (DA XIII, S. 283 ff.), in dem es um den 4. Band der »Ideen einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« geht, einen Brief Heynes an seinen Schwiegersohn Georg Forster vom 4.12.1791, heißt es: »Wenn Ihnen der 4te Band in die Hände kömmt, legen Sie ihn nicht weg. Lesen Sie vorzüglich das Hauptstück vom Christenthum (17. Buch). So frey schrieb noch kein Theologe«.

Anschließend wird ein Brief von Prinz August von Sachsen-Gotha vom 3. November 1791 an Herder zitiert: »Ihren 4ten Theil der Ideen, den ich eben vollendet habe, kann ich Anderen nicht hoch genug anpreisen und meinem eigenen Gedächtnisse tief genug einprägen. Zumal sind mir das 17te, 18te und 19te Buch (Ursprung, Fortgang und Verfall des Christentums) schätzbare Zeugnisse der mit edler Freymütigkeit am festesten verbundenen Aufklärung, Einsicht und Vorurtheilslosigkeit. Wenige Laien (Nichttheologen) unter den Professoren würden es gewagt haben, den Vorhang mit so kühner Hand aufzuheben, unter und hinter welchem seit Jahrhunderten Europa beynahe erstickt wäre. In Frankreich wäre jetzt eine Erscheinung, wie ihr 4ter Theil der Ideen, weniger zu verwundern als in Deutschland, weil dort der Stos und Gegenstos aller alten und neuen Vorstellungen und Begriffe eine Gärung (…) hervorbringt, vor welcher unsere angestammte Kurzsichtigkeit mit erzwungenem und erkünsteltem Hohngelächter zurückbebet, und die zuverlässig auf künftige Jahrhunderte so mächtigen Einfluß in die Schicksale aller Völker haben wird, als je die Entdeckung der Magnetnadel, des Papiers, der Buchdruckerey, des Schiespulvers usf. (…) auf die drey oder vier letzten Jahrhunderte gehabt, und noch gegenwärtig hat. Eine gänzliche Sinnesänderung, wenigstens eine unverhehlte Sinnesäußerung eines der aufgeklärtesten Völker in Europa, kann nicht anders als auf alle Geister von Norden bis Süden wirken. Die Zeit des Erlöschens angeerbter Vorurtheile ist eingetreten, die keine päpstliche Bulle aufhalten, am wenigsten aber  furchtsam-heuchlerische Zeitschriften im heiligen Römischen Reich ändern können. Der Kaiser (Leopold II.) ist weise genug, um einzusehen, was in deutschen Vorzimmern nicht  eingesehen wird, daß nichts mehr zu thun übrig bleibt, wo alles geschehen ist, und daß man nur mit Spott abgewiesen werden kann, wenn man Zeit und Umständen trotzen will. Die Reife ist da; wer mag die Aussaht noch hindern? Voltaire hat in seinem Essay sur les Moeurs et l’Esprit des Nationas, etc. (‚Essai sur l’histoire générale‘) gethan, was man zu seiner Zeit thun durfte, und das war noch wenig; Sie haben den Koloß aufgerichtet, dessen einzelne Glieder er zerstreut vergraben hatte, und treffen öfter mit ihm zusammen, als Sie vielleicht selbst geglaubt und gewollt haben. Eben las ich in seinem Essai die Geschichte der Zeiträume, die von Ihnen so herrlich auseinandergesetzt sind, als ich ihren 4ten Theil erhielt, und diese Zusammenstellung hat mir keine geringe Freude gewähret. Lassen Sie sich Ihr schönes Werk weder gereuen, noch durch dasselbe ermüden, aber ruhen Sie aus, wie ein Riese, der, nach einem kurzen Schlummer, kräftiger und furchtbarer wieder aufsteht, um sich thätiger zu beweisen. Helfen Sie die Zeit füllen, worin wir leben; sie ist unaufhaltsam, wie der Lauf der Gestirne.«

Dem Prinzen geht es nicht um ein entweder – oder, weder um einen »Bruch« mit der Vergangenheit noch um ein »Weiterso!«, statt dessen betont er, gegen die dominierende politische Kurzsichtigkeit der feudalen Funktionselite, die Notwendigkeit politischer Reformen im Heiligen Römischen Reich, die mit einem Aushalten der Gegensätze verbunden sind, um chaotische Verhältnisse zu vermeiden. Herder ist für ihn der Fortsetzer der Voltairschen Geschichtsphilosophie. Als zentrale Frage hebt der Prinz die angebrochene »Zeit des Erlöschens angeerbter Vorurtheile«  hervor, »die keine päpstliche Bulle aufhalten« könne. Kein anderer Rezensent vermochte mit solchem Weitblick die von Herder vorgelegten Forschungsergebnisse zu begreifen. Am Ende des 18. Jahrhunderts ließ sich »Glaube« in Europa nicht mehr mit dem Verweis auf eine erstarrte Tradition »verordnen«, wenn man die Entwicklung mit Reformen aktiv und zivilisiert gestalten wollte.

Herder hatte gezeigt, dass Gott ohne Vernunft nicht zu begreifen ist. Die menschlichen Versuche, göttliche Weisheit zu erfassen, sah Herder in den überlieferten »Heiligen Schriften« gegeben. Die entscheidende Form der mündlichen oder schriftlichen literarischen Überlieferung war für Herder die Fabel/der Mythos. Für Herder war klar, dass die Tradition der Überlieferung eine historische Kraft darstellt. Er sah aber auch, dass sich unser Blick auf das überlieferte Erbe religiöser und mythologischer Quellentexte ständig erweitert und vertieft. Der Blick auf die Quellen des Christentums reichte im Herderschen Lichte auf einmal weit in die Geschichte des Orients zurück. Vertreter verschiedener Religionen und verschiedener Überlieferungen waren in dessen Sichtweise an der Entstehung des Christentums beteiligt. Der Zusammenhang, die allgemeine historische Kontinuität des religiösen Erbes, hatte für Herder Priorität vor den besonderen Konfessionen. Insofern kann man von einem transkonfessionellen Denken bei Herder sprechen.

Wenn Herder mehr Lebenszeit vergönnt gewesen wäre, dann hätte er vielleicht eine Sammlung religöser Grundlagentexte veröffentlicht: »Der Glaube der Völker in heiligen Schriften« hätte der Titel lauten können. (Vgl. seine Ausführungen zum Christentum in den Adrastea Aufsätzen.)

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11. Der neu gegründete Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag veröffentlichte 2007 sein Verlagskonzept »Religionen der Welt. Ein Almanach zur Eröffnung des Verlags der Weltreligionen. Frankfurt/Main und Leipzig 2007.« Die Pluralität der Weltreligionen, so heißt es eingangs, sei zum integralen Bestandteil des Alltags der Menschen des 21. Jahrhunderts geworden. »Wenn diese universelle Nachbarschaft aller Religionen ein Ergebnis haben soll, das mehr verspricht als einen gewaltigen Zuwachs an Fremdheit, Verletzung, Haß, dann muß ein Prozess des gegenseitigen Verstehens und der fortschreitenden Selbsterklärung einsetzen. Dazu will und wird der Verlag der Weltreligionen beitragen, indem er Grundlagen bereitstellt und ein Gesprächsforum bildet.« (S. 7)

Am Ende der Einleitung beruft man sich ausdrücklich auf die Verlagstraditionen bis hin zum Leipziger Insel-Verlag. Ausgangspunkt für dessen religionsgeschichtliche Veröffentlichungen war der Goethekenner Prof. Anton Kippenberger.

Ende der 1920-er Jahre trat Salman Schocken mit einem ähnlichen Verlagskonzept auf. Schocken war auch ein Goethekenner. Er wollte eine kulturelle Brücke zwischen jüdischer und deutscher Kultur bauen. In der Folge erhielt das Programm des Schocken-Verlages bis in die 1930-er Jahre einige andere Akzente als bei Insel. Zum Beispiel veröffentlichte die Schocken-Bücherei 1936 den Band 60 mit Herder-Texten. (»Blätter aus der Vorzeit. Jüdische Dichtung und Fabeln.«)

Eine wichtige Veröffentlichung des neuen Verlages der Weltreligionen stammt von Angelika Neuwirth: »Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang.« Die Autorin analysiert den Forschungsstand und formuliert die Hypothese, dass es einen vorislamischen Koran gab, der im Diskurs verschiedener Glaubensgemeischaften entstand. Die Gemeinde um Mohammed habe dann die entscheidende Rolle bei der Formierung des Koran-Textes gespielt.

Die Autorin, die Herder dem Anschein nach nicht kennt, nicht einmal in ihrer umfänglichen Literaturliste erwähnt, erinnert im Forschungsresultat an Herders erste Vorstöße vor mehr als 200 Jahren. (Aber wenigstens Hermann Gunkel wird mit seinem Psalmen-Kommentar in die Literaturliste aufgenommen.)

Vielleicht kann man hier eine Hypothese formulieren: Die Weltreligionen entstanden durch Kommunikation mit anderen religiösen Strömungen. Ab einem bestimmten Punkt begann jedoch die Kanon-Bildung und der Dogmatismus. Man konstruierte »reine« Quellen, verbot die Aufnahme anderer Denkströmungen in den »reinen« Glauben und konstruierte einen »Bruch« mit der Vorgeschichte.

Für einen Verständigungsprozess ist es zunächst notwendig, dass der allgemeine genetische Zusammenhang der Religionen wieder anerkannt wird. Missionierungsversuche erschweren die Verständigung.Viel wichtiger wäre es, Brücken zwischen den Religionen zu bauen, um die vergessenen Zusammenhänge zu erneuern.

Unter theologischem Aspekt bedeutet das: es gibt nur einen Gott. Die Menschen haben in verschiedenen Formen versucht, göttliche Weisheit zu erfassen. Diese Versuche wurden in mündlicher und schriftlicher Form weitergegeben, als Fabel, als Mythos.

Herder lenkte unseren Blick darauf, dass Glaube unter diesem Aspekt aus der Aneignung der Tradition, des Erbes der Überlieferung entsteht. Aus der angeeigneten Tradition können wir Hoffnung schöpfen. Hoffnung ist für ein menschliches Leben unverzichtbar. Sie ist aber keine Erwartung eines billigen »Hollywood-Happy -Ends«, sondern die Stiftung eines Lebenssinns. Gerade am Ende unseres Lebens erlangt diese Hoffnung noch einmal besondere Bedeutung. Himmel und Hölle sind keine Orte, sondern Zustände in uns (Valentin Weigel).

Humanität erfordert die Überschreitung der Konfessionsgrenzen, die Offenheit gegenüber der Tradition aller Weltreligionen wie auch der Naturreligionen, ebenso die Bewahrung der Besonderheiten aller, noch so kleiner Religionen.

Herder verweist darauf, dass das Wesen des Universums, die organische Kraft der Kräfte, vernünftige Strukturen, ein Gleichgewicht der Kräfte hervorbringt. Verletzungen des Gleichgewichtes werden durch Ausgleichsbewegungen neutralisiert.

In der Geschichte sah Herder unter diesem Aspekt die Ausgleichsbewegung in der Form eines »Gesetzes der Vergeltung« wirken. Maßlose Gewalttaten von Herrschern und Staaten schlagen nach unterschiedlicher Zeit auf ihre Urheber zurück. Herders Fazit, unter Hinweis auf die göttliche Vernunft, ist deshalb: Vermeidung von Maßlosigkeit und Gewalt, um der Gewaltspirale zu entkommen.

Deshalb war für Herder der Krieg kein legitimes Mittel der Politik. In den »Adrastea«-Aufsätzen hob er diesen Punkt noch einmal besonders hervor: »Wird durch den Krieg ein Recht gegründet, das man nicht hatte? oder in ihm ein dunkles Recht klärer?« (Johann Gottfried Herder: Adrastea (Auswahl). In: Herder Werke in zehn Bänden. Bd. 10, Hrsg. Günter Arnold, Frankfurt 2000, S. 17) Herder fügte an, dass der erste Begriff eines Rechts, einer Vernunft von den Regenten fordere, gehässigen Streit zu vermeiden, zu schlichten und sich vorsorglich zu einigen: »Eben weil der gewaltsame Krieg alles Recht, weil er Vernunft und gemeinsame Konvenienz, wie das Wohl der Staaten selbst aufhebt. Wer sein Recht nicht anders als durch die Faust beweisen kann, hat gewiß Unrecht. Wer den Ausspruch der Vernunft aus Mörsern erwartet, trägt in seinem oberen Rund wenig Vernunft mit sich.« (ebenda, S. 19)

Zugleich verwies Herder in den Adrastea-Aufsätzen darauf, dass auch Wirtschaft in der Art von kriegerischer Gewalt wirken kann. Im Gespräch zwischen einem Inder und einem Europäer, lässt er die Missionierungsversuche im Namen des Christentums im Hinweis auf die militärische und wirtschaftliche Macht zusammenlaufen: »Wir haben Schiffe und Kanonen!«

Die Rechtfertigung von maßlosem Wirtschaftswachstum, Gigantismus und der Billigung des Einsatzes von Gewalt zur Durchsetzung dieser Ziele, selbst als letztes Mittel, hat nichts mit Glauben zu tun. Es kann keinen »gerechten« Krieg geben. Kein noch so hohes religiöses oder ethisches Ziel kann Krieg rechtfertigen.

Glaube hat dagegen etwas mit der Hoffnung zu tun, dass es gelingen kann, uns in die vernünftigen Strukturen des Universums, unserer Erde, der Natur einzufügen, Brüderlichkeit und Freundschaft zu leben.

Im Jahre 2050 wird es etwa 10 Mrd. Menschen auf der Erde geben. Der Club of Rome veröffentlichte eben eine Erklärung dazu. Neben Veränderungen in der Bevölkerungsplanung erfordert die Lage auch eine Abschaffung des so genannten »Freihandels«. Die bisherige Praxis habe zur Verschärfung von Ungleichheiten geführt. Afrika sei vom Export nahezu vollständig abgekoppelt. »Freihandel« stärkt wirtschaftliche Großakteure und schwächt die Basis jeder menschlichen Kultur, die regionalen Wirtschaftskreisläufe und die Familienbetriebe (Fernand Braudel).

In unserer vergesellschafteten Welt können Religionen viel dazu beitragen, dass die Menschen sich an »göttlicher Vernunft« orientieren. Es gibt aber neoliberale Versuche sich als neuartige »Auserwählte« zu konstituieren, einen Religionsersatz zu proklamieren. Raymond Kurzweil, Berater von US-Internetkonzernen und US-Präsidenten, Chef der »Singularian University« auf dem NASA-Gelände, plant in seiner Anmaßung eine Verschmelzung des menschlichen Bewusstseins mit Künstlicher Intelligenz (KI), um »Unsterblichkeit« zu »schöpfen«. In einem Interview sah er sich, beim Gelingen dieser Pläne, »Gott sehr nahe«.

Dem Anschein nach würde der Mensch, entgegen allen Versprechen Kurzweils, mit der Verschmelzung seines Bewusstseins zur »KI« seiner Individualität beraubt. Sein Leben würde programmierbar und maschinensteuerbar.

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12. Herder hielt am ursprünglichen Ansatz der Reformation fest: Jeder Mensch kann selbst eine Beziehung zu Gott, dem Wesen des Universums, aufbauen. Jeder Mensch kann seinen eigenen Glauben haben. Es geht um die Aneignung des Erbes der Überlieferung, der Fabel und des Mythos. Anwenden müssen wir aber das Erbe unter den besonderen Bedingungen, unter denen wir als Individuum leben.

Die Konsequenzen des Spinoza/Herderschen Gottesbegriffes und ihres Religionsverständnisses bestehen darin, dass vor Gott der Kosmos, der Planet, der Mensch, und das Staubkorn den gleichen Gesetzen unterliegen. Aber auch alle Menschen sind vor diesem Gott gleich, ob Atheisten, Moslems, Hindu, Juden oder Christen, ob sie an ihn glauben oder nicht.

Herder erweitert durch die Überschreitung der Konfessionsgrenzen unseren Blick auf die organische Kraft, die das Universum hervorbringt. In dieser Gottesvorstellung kommt dem Menschen eine aktive Rolle zu. Der Mensch ist die höchste Form der Anpassung auf dieser Erde, er steht am Ende der Nahrungskette. Deshalb kommt ihm eine besondere Verantwortung zu. Er ist zur Humanität verpflichtet, die sich auf die »ältern Brüder der Menschen« (Herder), die Tiere , Pflanzen und organische Welt erstreckt.

Wie muss man Verantwortung am Ende der Nahrungskette ausüben? Man kann nicht flüchten. Auch die Pflanze leidet, wenn sie geerntet wird, nicht nur das Tier. Es kann nur darum gehen, Nahrung »mit Verstand« zu sich zu nehmen, sorgsam, ohne Verschwendung und Gedankenlosigkeit, mit Bedacht und Dankbarkeit.

Glaube ist hier die Hoffnung, dass Humanität möglich ist. Glaube ist hier keine Vertröstung auf ein zweites Leben im »Himmel«, in dem dann alle unsere Wünsche in Erfüllung gehen, eine Art von ersehnter Rückkehr ins Paradies. Aber nicht erst seit Peter Bruegel kennen wir die Brüchigkeit dieser Illusion.

Herder schrieb in seinem Brief vom April 1768 an Hamann, dass das Bild vom Verlassen des Paradieses auch bedeute, dass der Mensch sein eigenes Risiko übernehme. Das höchste Wesen des Universums erfüllt uns keine Wünsche. Weder Gebete noch Bekenntnisse, noch Opfer oder Spendenzahlungen ändern daran etwas.

Das Gebet hat nur Sinn als stille Meditation, um unser Schicksal annehmen zu können. Es geht darum, uns in das Naturganze einzufügen und im Sinne des Naturganzen zu denken und zu handeln. Bereits ein Blick in den sternengeschmückten Nachthimmel lässt uns eine Ahnung gewinnen. Wir sollten unser Gemüt mit der Natur vereinigen, sagte Spinoza. Gemäß der Natur und der menschlichen Natur leben. Seligkeit ist damit keine Belohnung. Im tugendhaften Leben selbst erlangen wir Seligkeit.

In den »Ideen« vermerkt Herder, dass er das Wort »Gott« nicht überstrapazieren möchte. An dessen Stelle verwendet er oft »Natur« als einen »Abdruck« Gottes. »Unsere weise Mutter Natur« behandelt alle gleich. Aber sie verkörpert auch die höchste Macht und die höchste Intelligenz. Sie schafft unablässig vernünftige Strukturen im Universum. Es kann also in der Religiösität auch um unsere Einsicht in die Naturnotwendigkeit und entsprechendes Handeln gehen.

Das hat eine Veränderung unseres Blickes auf »Religiösität« zur Folge. Wer zum Beispiel das typische Jugendweihe-Geschenk der DDR, ein Buch mit dem Titel »Weltall-Erde-Mensch« bewusst aufnahm, weiterdachte und verinnerlichte, der ist unter diesem Aspekt vielleicht religöser als ein eifriger Kirchgänger, der Konsum als heimliches Lebensziel ansieht, Freiheit als Wahl zwischen »Schnäppchen«, ein übermäßig motorisiertes, verbrauchintensives Auto fährt und der als »Vielflieger« auch noch seine allerletzten »Bonus-Flugmeilen« abfliegt.

Verschiedene Menschen in den westlichen Industriestaaten wenden sich vom konsumistischen Lebensstil ab und dem Buddhismus zu, weil sie dort einen Bezug auf das Naturganze finden. Nach Zeitungsberichten sollen selbst Wallstreet-Manager, die in ihrer Alltagsarbeit mehrheitlich die wirtschaftliche Ungleichheit auf unserer Erde verschärfen, buddhistischen Mönchen zu sogenannten »Gehmeditationen« folgen. Ähnliche Nachrichten kommen aus monopolistischen Internetkonzernen, wo Meditationsräume eingerichtet und Meditationsbeauftragte ernannt wurden. Aus dieser Bewegung kommen die neuen Stichworte, wie »mindfullness«, das eigentlich auf einen Ausdruck aus einem indischen Pali-Dialekt zurückgeht, und das mit »Achtsamkeit« übersetzt wird, doch im Original wahrscheinlich eine andere Bedeutung hat. Aber auch aus anderen Religionen kommen solche Anregungen.

In den Sagen, Legenden und Märchen der Völker liegt ein Schatz der Weisheit, des Glaubens und der Vernunft. Das Streben nach göttlicher Weisheit bedingt gleichzeitig Hoffnung und Skepsis. Mit der Vernunft erschließt sich uns die Einsicht, dass ein Überschreiten der Konfessionsgrenzen und die gleichzeitige Bewahrung der Besonderheiten aller noch so kleiner Religionsgemeinschaften möglich ist. Religion wird hier als ein Allgemeines gefasst, dass den Reichtum des Besonderen in sich trägt. Der Zusammenhang ist ein innerer, kein äußerlicher, abstrakter pseudo-universaler Wert.

Wir verdanken auch unsere Existenz nicht uns selbst, sondern dem Allgemeinen des Generationszusammenhanges, sind aber Individuen mit Besonderheiten.

Johann Gottfried Herder machte vor mehr als 200 Jahren darauf aufmerksam, dass Weisheit die Gegensätze von Vernunft und Religiösität umfasst. In ihrer Vermittlung kann man sie vielleicht als »vernünftige Religiösität« und »religiöse Vernunft« begreifen.

Kritik sah Herder vor allem als Weiterführung der besten Ansätze früherer Generationen an. Auf deren Schultern weitete Herder den tradierten Gottesbegriff über alle Konfessionsgrenzen. Religion war für ihn die Hüterin der Tradition, die Schöpferin von Hoffnung. Ebenso machte er darauf aufmerksam, dass Vernunft unsere Fähigkeit zum Lernen aus unseren Fehlern ist. Herders universaler Ansatz vertiefte unseren Blick auf den Zusammenhang der Gegensätze von Hoffnung und Skepsis, von Mythos und Logos. Herders Werk war auf die Begründung von Humanität nach den Maßgaben göttlicher, natürlicher, universeller Vernunft gerichtet. In seinen Briefen finden wir den Zugang zum inneren Zusammenhang seines Werkes. Verlag und Herausgeber der 18-bändigen Brief-Ausgabe ist zu danken, dass sie uns über die Kommentare eine Vergegenwärtigung des Herderschen Denkens ermöglichen. Das ist bei Ausgaben dieser Art nicht selbstverständlich. Danke!

Johannes Eichenthal

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Die Plakette zum 150. Todestag Herders wurde 1953 in der Kunstgießerei Lauchhammer gefertigt

 

Information

Johann Gottfried Herder: Briefe. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger. Weimar 2016. Band 18. Sachregister. Herausgegeben von der Klassik-Stiftung Weimar/ Goethe-Schiller Archiv Weimar. Bearbeitet von Günter Arnold. ISBN 978-3-7400-1271-7

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