Um den Geburtstag Gotthold Ephraim Lessings (22. Januar 1729) und den Sterbetag (15. Februar 1781) erinnert seine Geburtsstadt alljährlich an ihren großen Sohn. Am 22. Februar 2017 referierte der Kirchenhistoriker und Rektor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Prof. Dr. Udo Sträter, zum Thema »Das himmliche Konzil der Religionen und die Toleranz« im Lessingmuseum Kamenz.
Es war ein grauer Februartag. Trotz einiger Versuche gelang es der Sonne bis zum Abend nicht, die Wolkendecke zu durchbrechen. Die Autobahn und selbst die Parkplätze mit Lastkraftwagen verstopft. Wir erleben die praktizierte Unvernunft – als ob es nie die strategische Transportmöglichkeit der Eisenbahn gegeben hätte. Im Radio die Meldung, dass der Hallenser Stadtrat beschlossen habe, das »Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium« in »Hans-Dietrich-Genscher-Gymnasium« umzubenennen.
In Kamenz regnet es. Trotz des schlechten Wetters kamen jedoch erfreulich viele Gäste ins Lessing-Museum. Schließlich waren fast alle Plätze besetzt. Auch der Kamenzer Oberbürgermeister saß unter den Zuhörern.
Frau Dr. Sylke Kaufmann, die Leiterin des Lessing-Museums, begrüßte Professor Sträter, der trotz seines im Jahre 2017 besonders gefüllten Terminkalenders, die Universität Halle-Wittenberg feiert nicht nur 500 Jahre Reformation sondern auch das 200. Jubiläum der Vereinigung der Universitäten Wittenberg und Halle, den Weg nach Kamenz gefunden habe.
Professor Sträter hob hervor, dass er auf die Aktualität des Toleranz-Gedankens und die Verwurzelung des Christentums im Orient hinweisen wolle. Es gehe ihm um die Verständigungsmöglichkeit der Religionen und die Lebendigkeit der geistigen Tradition in unserer Gegenwart.
Wenn man bei dieser Zielsetzung an Lessings Ringparabel denke, dann sei auch ein Rückgriff auf Nikolaus von Kues und seine Schrift »De pace fidei« (Der Friede im Glauben) angezeigt (Nikolaus von Kues: Philosophisch-Theologische Schriften in drei Bänden. Lateinisch-Deutsch. Darmstadt 2014, Bd. 3, S. 705–797). Nikolaus von Kues war Fürstbischof von Brixen, päpstlicher Rat und Kardinal.
Der Referent verwies darauf, dass Kues diese Schrift als Reaktion auf die Eroberung von Byzanz durch die Osmanen im Jahre 1453 verfasste. In Europa nahm man den osmanischen Eroberungskrieg in militärischen Denkmustern auf. Die Reaktionen reichten bis zur Forderung neuer »Kreuzzüge«. Der hoch gebildete Nikolaus von Kues reagierte wesentlich weitsichtiger (neben der Literatur der christlichen Kirchenväter kannte er auch die »negative Theologie«, er nannte sie »mystische Theologie«, wie auch den Koran). Der Streit der Religionen war für Kues Ausgangspunkt für Krieg oder Frieden. Kues fragte sich deshalb, wie der Frieden zwischen den Weltreligionen hergestellt werden könne. In der Konfrontation der Heiligen Schriften sah Kues keine Möglichkeit zur Verständigung. Eine Debatte, ein Konzil sollte die Verständigung bringen. Deshalb entwarf Kues das Bild eines »himmlischen Konzils«, auf dem alle ihm wesentlich erscheinenden Religionen durch jeweils einen Engel vertreten wurden. Herausgearbeitet werden sollten der, allen Religionen gemeinsame, Kern religiöser Wesenheiten. Dieses Verfahren verstand Kues als »universelles Denken«.
Kues ging bei seinem Dialogangebot von der Voraussetzung aus, dass die Einheit der Religionen im metaphysischen Sinne »vor« der Vielfalt, das Allgemeine »vor« dem Besonderen existiere (»Das Zusammensetzende existiert vor dem Zusammengesetzten«).
»Toleranz« konnte sich unter diesen Voraussetzungen nur darauf beschränken, den Diskusionspartnern Zeit zu geben, sich den Ansichten des christlichen Theologen Kues anzuschließen.
Zum Hintergrund der Kuesschen Denkweise erläuterte Professor Sträter, dass aus der Begegnung von Christen und Juden mit den arabischen Eroberern des 8. Jahrhunderts in Spanien eine kulturelle Koexistenz entsprang. Die Araber brachten wichtige griechische philosophische Texte und ein hohes philosophische Niveau. Avicenna, Averroes, Mose ben Maimon u.a. vermittelten zwischen den Kulturen und Religionen. Die europäische, christlich-scholastische Theologie und Philosophie eignete sich in der Folge dieser Begegnung das Diskussionsniveau der arabisch-jüdischen Denker an. Aber die Osmanen des 15. Jahrhunderts hätten keine Philosophie von Bedeutung mehr gekannt und den Islam auf die Buchstaben des Koran reduziert.
Auch Kues hätte mit seinem Vorschlag 1453 unter den Osmanen keine gebildeten Gesprächs- und Verhandlungspartner mehr finden können.
Erst Martin Luther und die Reformation hätten die Verquickung von Religion und Krieg beendet. Aus Luthers Sicht könne es keinen »Heiligen Krieg« geben. Dies änderte selbst die Bedrohungslage nicht, die durch die osmanische Belagerung Wiens im Jahre 1529 entstand, und in der man in Wittenberg an Evakuierung denken musste.
Dennoch war Luther kein einfacher Vorkämpfer der Toleranz. Er war der Meinung, die einzig wahre Form des Evangeliums wieder ans Tageslicht gebracht zu haben. Luther sah die Bibel als absolute göttliche Quelle des Christentums an. Die Interpretation von biblischen Texten betrieb Luther gleichzeitig offen aus Gegenwartsfragen heraus. Von den Anhängern der anderen Religionen erwartete er die Konversion.
Dennoch sei mit der Lutherschen Übersetzung der Bibel in die Volkssprache die Voraussetzung für eine historisch-kritische Analyse Heiliger Schriften entstanden. Schrittweise sei das Bewusstsein gewachsen, dass Heilige Schriften menschliche Versuche zur Erfassung göttlicher Weisheit seien, dass der Textkorpus der Bibel erst im 4. Jahrhundert kanonisiert wurde, und dass man den Sinn der Texte nur verstehen könne, wenn man den historischen Kontext kenne, in dem sie entstanden sind. Die Wissenschaft vom historisch-kritischen Verstehen solcher Texte heiße Hermeneutik. Es sei kein Zufall, dass eine Wiege dieser Wissenschaft in Halle gestanden habe. Professor Sträter nannte die Namen Johann Salomo Semler (1725–1791) und Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1768–1834). Die Wissenschaft der Hermeneutik sei das »Handwerkszeug« zur Verbindung von Religion und Vernunft. Die buchstäbliche Auslegung Heiliger Schriften sei dagegen »Fundamentalismus«.
Diese Erscheinung beschränke sich jedoch nicht auf nichtchristliche Religionen. Auch im Christentum gäbe es Fundamentalismus, selbst in Staaten, die ihre Traditionen direkt auf die westliche Aufklärung gründeten.
Er zitierte an dieser Stelle den ironischen Brief eines Hörers an eine bekannte US-Radiomoderatorin, die in einem Fall aus einem wörtlichen Zitat eines Propheten des Alten Testaments eine Handlungsanweisung für unsere Zeit formuliert hatte. Der kritische Hörer formulierte, wie absurd-furchtbar es wäre, würden wir die alten Schriften wörtliche befolgen.
Aber auch die mangelnde Bildung der westlichen Gesellschaft, die Reduktion auf rationalistisches Wissen, sah der Referent als ein Problem. Unsere Unfähigkeit religiöse Metaphern, Bilder und Symbole zu verstehen, erzeuge in der nichtwestlichen Welt Irritationen.
In den letzten Jahrzehnten sei der Einfluss konkurriender Religionen wiederum gewachsen. Friede innerhalb und zwischen den Religionen bleibe aber die Voraussetzung des Friedens in der Welt.
Selbst wenn das Jahr des Reformationsjubiläums 2017 nur eine Diskussion über interreligöse Verständigung hervorgebracht haben werde, dann habe es einen Sinn gehabt.
Das Publikum dankte dem Referenten für seinen furiosen Vortrag mit herzlichem Beifall.
In der umfangreichen und regen Diskussion wurden die Namen Hans Küng und Friedrich Nietzsche genannt. Das Toleranzpotenzial des Buddhismus wurde als Gegenbeispiel bemüht. Professor Sträter antwortete, dass ohne Vernunft keine Religion per se tolerant sei, d.h. frei der Gefahr der Instrumentalisierung. Auf die Frage, was Religion sei, antwortete der Referent mit Luther: »Wo Dein Herz dran hängt, das ist Religion.«
Auf die Frage nach dem Toleranz-Begriff verwies Professor Sträter auf die Ringparabel Lessings. Wahrscheinlich habe Lessing den Kues-Text gekannt. Dennoch habe er mit der Parabel eine andere Form der Verständigung vorgeschlagen. Lessing geht auch von der Annahme einer ursprünglichen Einheit der Religion aus (der echte Ring). Aber die in guter Absicht entstandenen Duplikate sind nicht vom echten Ring zu unterscheiden.
Der weise Richter in der Streitsache der Ring-Erben, formuliert dann: Gott hat dem Besitzer des echten Rings die Fähigkeit verliehen Gutes zu tun und Verständigung herbeizuführen.
Diese Orientierung auf praktisches menschliches Handeln, auf einen Wettstreit der Religionen um Humanität, so der Referent, sei das Lessingsche Modell für Toleranz.
Mit diesen eindringlichen Worten ging die Veranstaltung in Kamenz, am 22. Februar 2017, nach Eindreiviertelstunden zu Ende.
Kommentar
Der Regen hatte inzwischen zugenommen. Auf der Autobahn waren viele vernünftige Fahrer unterwegs. Im Radio wieder nichts akzeptables. So konnten wir in Ruhe nachdenken.
Ohne Zweifel war der Vortrag ein anregendes Ereignis. Das Thema erinnert uns an eine Kamenzer Veranstaltung vom 26. September 2008 (http://www.mironde.com/content/website.php?id=/index/litterata/reportagen/0828.htm). Der britische Wissenschaftler Hugh Barr Nisbet stellte die deutsche Übersetzung seiner Lessing-Biographie vor. Der Moderator stellte die Frage nach der Bedeutung des Toleranz-Begriffes für das Lessingsche Werk »Nathan der Weise«.
Nisbet antwortete, dass das Wort »Toleranz« im »Nathan« nur zwei Mal vorkomme. Davon einmal negativ (»Toleranter Schwätzer«; eine weitere Erwähnung des Wortes »Toleranz« brachte Lessings Bruder Karl in den Text.) Toleranz sei Lessing zu wenig gewesen. Er habe selbst unter schwierigen finanziellen Bedingungen tätige Hilfe praktiziert.
Zugegeben, wir waren damals etwas irritiert. Widersprach doch Nisbet so ziemlich allen Lessing-Klisches.
In der Tat finden sich im »Nathan« Hinweise darauf, dass Lessing eigentlich auf die tätige Hilfe zielt: »Wie gern der schlaffste Mensch andächtig schwärmt, um nur gut handeln nicht zu dürfen«. (Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. Wilfried Barner. Frankfurt 1991ff – in der Folge FLA – Bd. 9, S. 497)
Dazu passt, dass der Richter gegenüber den Ring-Erben, die sich alle im Besitz des »echten« Ringes wähnen, einen Wettstreit um Humanität empfiehlt. Da der echte Ring eine humanitäre Wirkung hat, kann nur der der Besitzer des echten Ringes sein, der tätige Hilfe leistet.
Vielleicht könnte man zur Erklärung auch den Zusammenhang mit anderen Werken Lessings herstellen. In dem in der Form von Thesen geschriebenen Spätwerk »Die Erziehung des Menschengeschlechts« formuliert Lessing Grundsätze für eine Verständigung der Religionen. Im Vorbericht heißt es: »Warum wollen wir in all den positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln oder zürnen?« (FLA, Bd. 10, S. 74) Lessing setzte den Begriff »Offenbarung« in der Geschichte der Menschheit mit »Erziehung des Menschengeschlechts« gleich.
Jesus wird in dieser Arbeit als »erster zuverlässiger, praktischer Lehrer der Unsterblichkeit der Seele« bezeichnet. (FLA, Bd. 10, S. 89)
»Nathan«, »Ringparabel« und »Erziehung des Menschengeschlechts« waren Antworten Lessings, auf den so genannten »Fragmentenstreit«. Als Bibliotheksdirektor veröffentlichte Lessing eine Schriftenreihe mit Manuskripten, die er in der Herzoglichen Bibliothek gefunden hatte. Im Falle des Manuskriptes des neologischen Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) täuschte Lessing einen »Bibliotheksfund« nur vor. Er wollte die Diskussion zwischen Neologen und orthodoxen Protestanten befördern. Lessing veröffentlichte die Reimarus-Fragmente ohne Verfassername in Fortsetzungen. »Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger« war im Mai 1778 der umfangreichste und letzte veröffentlichte Text. (Veröffentlicht in FLA Bd. 9, S. 217 ff.) Reimarus analysierte auf der Basis seiner Kenntnisse orientalischer Sprachen und kultureller Kontexte die Schriften des Neuen Testaments. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass Jesus selbst immer den Horizont des Judentums behalten habe, dass alle im Text beschriebenen Rituale jüdische seien, und dass Jesus und seine Jünger unter dem »Messias« den neuen König eines wieder zu errichtenden jüdischen Staates, eines zu befreienden isralischen Volkes verstanden.
Als dieses Vorhaben gescheitert war, so Reimarus, begannen die Jünger die Geschichte umzudeuten. Paulus habe die Umdeutung in hoher Intensität betrieben.
Wir wollen hier nicht darauf eingehen, dass sich die »orthodoxen Lutheraner« unter Führung des Hauptpastors Goeze empört zu Wort meldeten. Wichtig ist, dass es die orthodoxen protestantischen Geistlichen des 18. Jahrhunderts waren, die gegen Lessing auf der buchstäblichen Lesart der Bibel bestanden. Mit diesem Verfahren ersparten sich die Herren jedes Bemühen um ein Verständnis des historischen Kontextes der Bibel-Texte.
Lessing fügte in seinen Entgegnungen an, dass die Lutherische Kirche Reformen versäumt habe. Die Gegenreformation habe neue Herausforderungen formuliert. Wissenschaft und Aufklärung ebenso. »Orthodoxie«, so Lessing, sei im wesentlichen »intellektuelle Faulheit«. Im Übrigen werde die Geschichte bei allen Religions- und Staatsstiftungen im nachhinein umgeschrieben. Gerade deshalb dürfe man nicht blind den Buchstaben vertrauen. (FLA, Bd. 9, S, 207)
Aber auch die neologische Position von Reimarus, die er einmal »Naturalismus« nennt, erschien Lessing ergänzungsbedürftig. Allein die scharfsinnige Analyse von Texten auf ihre Folgerichtigkeit und Bedeutung reiche nicht aus, um den Sinn Heiliger Schriften zu verstehen.
Ein aufmerksamer Leser der veröffentlichten »Reimarus-Fragmente« war Johann Gottfried Herder in Weimar. Die Familie Herder organisierte auch etwa 25 Subskripenten für den Lessingschen »Nathan«. Wenn Herder 1784 in der Vorrede seiner »Ideen einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« formulierte, dass er sich bewusst sei, nur für wenige, für das »unsichtbare Commerzium der Geister und Herzen« zu schreiben, dann dachte er dabei wahrscheinlich auch an Lesssing, obwohl dieser bereits nicht mehr lebte. Herder setzte den Lessingschen Ansatz der »Offenbarung« als »Erziehung des Menschengeschlechts« unter dem Thema »Bildung zur Humanität« fort.
Wie Lessing, so war auch Herder studierter Theologe und begeisterter Luther-Anhänger. Nach dem Fragmenten-Streit rückte Herder jedoch schrittweise vom Vorhaben einer Luther-Biographie ab. (Günter Arnold: Luther im Schaffen Herders. In: Impulse 9. Aufbau-Verlag, Berlin dund Weimar 1986, S. 225 ff.)
Im Jahre 1787, zwei Jahre nach dem von Friedrich Heinrich Jacobi postum erhobenen »Spinozisten-Vorwurf« gegen Lessing, veröffentlichte Herder einen Dialogband mit dem Titel »Gott – ein Gespräch«. Hier versucht er einen Gottesbegriff zu formulieren, in dem er einerseits auf Benedikt de Spinoza zurückgeht und andererseits die Leibnizsche Spinoza-Kritik behutsam fruchtbar macht. Möglich ist das, weil Herder sieht, dass die »geometrische Methode« Spinozas eher eine Modeerscheinung ist. Viel wichtiger ist für Herder, dass Spinoza das Denken der so genannten »negativen Theologie« in noch umfassenderem Sinne rezipierte als es Nikolaus von Kues vergönnt war. So vermögen Lessing und Herder, mit der Kenntnis von Kues und Spinoza, »Gott« als das Wesen des Universums zu definieren, die Kraft, die allein aus sich selbst existiert, die unablässig vernünftige, d.h. berechenbare Strukturen des Universus produziert, aber selbst nicht reflektiert. Zur Besonderheit dieses Wesens gehört es, dass es in den Erscheinungen, in der Natur, im Menschen existiert. Wir Menschen müssen uns bemühen, dieses Wesen zu begreifen, es wird aber keinem Menschen, keiner Religion, keiner Kultur, adäquat gelingen. Menschliches Handeln ist für Spinoza wie für Herder andererseits nur unter Bezug auf das Wesen des Universums human. Deshalb erläuterte Spinoza in seinem Buch »Ethik« die Struktur des Universums und baute darauf die Möglichkeit tugendhaften Handelns auf. Spinozas (und Lessings/Herders) Ethik begnügt sich also nicht mit normativen Werten. Glückseligkeit ist keine »Belohnung« für tugendhaftes Handeln: tugenhaftes Handeln ist Glückseligkeit.
Mit diesem interreligiösen Gottesbegriff verfügten Lessing und Herder über die Voraussetzung, auch nichtchristliche Religionen vorurteilslos zu untersuchen.
Zum anderen arbeitete Herder in den Artikeln seiner Zeitschrift »Adrastea« bis zu seinem Tode an der begrifflichen Fassung der mündlichen und schriftlichen Überlieferung. Auf der Grundlage des Lessingschen Fabel-Begriffes ging Herder über Lessing hinaus. Das lateinische Wort »Fabel« ist für Herder vergleichbar mit dem griechischen Wort »Mythos« und erfasst Grundzusammenhänge jeder menschlichen Überlieferung. Zweck der Fabel ist für Herder nicht die moralische Belehrung sondern unsere Einordnung in das Naturganze. Herder hatte auch nicht die Absicht religöse Texte in den Rahmen literaturwissenschaftlicher Gattungsbegriffe zu pressen.
Die Veränderungen innerhalb mündlicher und schriftlicher Überlieferung gehen über »Willkür« und »Schreibfehler« hinaus. Auch ohne solche ergeben sich Veränderungen in der Erinnerung. »So wie wir uns erinnern, so ist es nicht gewesen« (Christa Wolf).
Herder richtete seine Aufmerksamkeit in den letzten Lebensjahren auf die Überlieferungsgeschichte der Religionen. Die »Urerzählung der Schöpfung« hatte für Herder als Allgemeines keinen »metaphysischen« Vorrang, er sah sie auch nicht als den absoluten Anfang an, auf den man zurückgehen müsse. Die »Urerzählung« war für Herder das Allgemeine, was nur im Besonderen der Erzählungs-Vielfalt existiert. Herder konzentriert sich darauf, die genetisch-historischen Zusammenhänge zwischen den Kulturen und Religionen zu erforschen. Seine Gewährsmänner saßen in den Bibliotheken von Jena, Göttingen, Wien und Wolfenbüttel. Dabei ging es im Briefwechsel zwischen Herder und Lessing auch um Buchausleihen.
Im Lichte Lessings und Herders verkörpert keine einzelne Religion oder Kultur das »Allgemeine« oder das »Universelle« in »reiner« Form. Sie machen uns bewusst, dass unsere Vorstellung vom Allgemeinen und Universellen den Reichtum des Besonderen einschließen müssen. Ein solches Allgemeines hält wissenschaflichen Kriterien stand, denn es kann auch das Besondere anerkennen, und bietet zudem die Verständigungsgrundlage der besonderen Religionen und Kulturen.
Die Lessingsche »Ringparabel« hatte den Vorzug der einfachen Verständlichkeit. Die Überlieferungsgeschichte der Religionen konnte jedoch mit diesem Bild nicht erfasst werden. Herder baute ein Bild von der Weitergabe des »Rings« durch Erzählung, Mythos, Fabel als Voraussetzung für Verständigung auf.
Lessing und Herder war klar, dass keine einzelne Kultur oder Religion den »Allgemeinen Ausgangspunkt«, »vor« einer Verständigung besitzt, auch nicht das Christentum und auch nicht die europäisch-westliche Kultur.
Jede Religion und Kultur ist eine Besonderheit und besitzt zugleich auch allgemeinmenschliche Züge. »Die« Religion und Kultur »im Allgemeinen«, die »Universalreligion« oder »Universalkultur«, kann es jedoch nicht geben.
Es gilt deshalb alle Religionen und Kulturen vorurteilslos anzuerkennen. Vielleicht ist deshalb »Toleranz« nur der notwendige Ausgangspunkt für die Hermeneutik, wie für den lang ersehnten Wettstreit der Religionen um Humanität, noch nicht die Sache selbst?
Wie lässt Lessing den Richter im »Nathan« sagen: »Es eifre jeder seiner voruteilsfreien Liebe nach! Es strebe jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an den Tag zu legen« (FLA Bd. 9, S. 559).
Der Vortrag von Professor Sträter ist eine Ermutigung für den überlebensnotwendigen Dialog der Religionen und Kulturen in unserer »brennenden Welt« (Pankaj Mishra). Man kann diesen Beitrag nicht hoch genug schätzen. Zugleich war die Lessing-Stadt Kamenz der richtige Ort für solche Ideen. Dem Referenten und den Organisatoren des Lessing-Museums gebührt deshalb großer Dank.
Johannes Eichenthal
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