Rezension

TYPHUS IST KEIN SCHNUPFEN

SEHR GEEHRTE DAMEN UND HERREN, WIR FREUEN UNS, IHNEN EINEN GASTBEITRAG PROF. DR. REINER NEUBERTS VORSTELLEN ZU KÖNNEN. JOHANNES EICHENTHAL

Obzwar Alena Mornštajnová (1963 geb.) im Nachbarland längst als bekannte Schriftstellerin gilt und bereits einige Preise für ihr Schaffen einheimste, ist sie hierzulande noch relativ unbekannt. Doch mit dem Roman »Hana« (2017 tschechisch, 2020 deutsch) dürfte sich das schnell ändern. Diese Familiensaga ist geprägt von unerhörten Ereignissen, die man sich real kaum vorzustellen vermag. Bemerkenswert ist auch die kompositorische Anlage, denn das Geschehen wird in mehreren Zeitebenen gewissermaßen in Rückblenden vor dem Leser ausgebreitet.

Das neunjährige Mädchen Mira Karásková begibt sich mit seiner Freundin Jarmilka im Jahre 1954 auf einen vereisten Fluss nahe der Heimatstadt Meziříčí und fällt ins eiskalte Wasser. Daheim angekommen, wird Mira von ihrer Mutter Rosa deswegen bestraft, die gerade ihren 30. Geburtstag feiert. Weil die Tochter zudem noch lügt, wird sie ohne Zuwendungen ins Bett verwiesen, völlig durchnässt. Dann nimmt das Schicksal seinen Lauf, denn am nächsten Tag erkrankt die gesamte Familie. Außer Mira und Tante Hana sterben die infizierten Eltern und Geschwister Miras an Typhus. Die Epidemie rafft fast die ganze Bevölkerung des Städtchens dahin. Mira wird zunächst von den Eltern Jarmilkas aufgenommen, wo sie jedoch nicht willkommen ist und letztlich brüsk von ihrer Tante Hana abgeholt wird, die vorher ebenso im Krankenhaus gewesen war, aber gesundete und zu fliehen vermochte. Mira und die bis dahin seltsame, stets schweigende und mysteriöse Tante nähern sich zwangsläufig in der Folge an, und das Mädchen erfährt bruchstückhaft von der grausamen Vergangenheit ihrer weitläufigen jüdischen Verwandtschaft, insbesondere der von Hana. Das geschieht im ersten Teil des Buches.

Im zweiten Teil mit der Überschrift »Die vor mir. 1933–1945« schildert Mira, wie die Mädchen Hana und Rosa im Umkreis der Familie geborgen aufwachsen, von ihrer Mutter Elsa Helerová liebevoll erzogen. Hana gelingt es, sich auf der Bürgerschule auf ein Lehrerseminar vorzubereiten. Ihre Liebesbeziehung zu Jaroslav Horáček zerbricht aber, weil er als Armeeangehöriger eine Jüdin nicht an sich binden möchte, zudem am eifersüchtigen Begehren ihrer scheinbar besten Freundin Ivanka. Und als die Pogrome näher rücken, beschließt man, nach England fliehen zu wollen. Juristisch werden alle Vorkehrungen getroffen, aber die ständig zunehmende militante Situation holt sie ein, und die Deportation ist unausweichlich. Rosa wird jedoch von Karel Karásek auf dem Hausboden versteckt, beide nähern sich im Verlaufe der Monate innig an, und als 1945 dann die Rote Armee anrückt, werden Rosa, Karel und das soeben geborene Töchterchen Mira befreit.

Der dritte Teil »Ich. Hana. 1942–1963« widmet sich dem Leid der übrigen Familienmitglieder, insbesondere dem der Titelfigur. Es ist der kürzeste, aber eindringlichste Abschnitt. Die Ich-Erzählerin schildert das unermessliche Martyrium, das sie ertragen musste, weswegen sie sich in der Gegenwartsebene wie ein zerrüttetes Wesen fühlt und andere Menschen mit ihrem Aussehen und Verhalten zu erschrecken vermag. Zuerst der unmenschliche Transport 1942 in Viehwaggons und in mehreren Etappen nach Theresienstadt und dann Auschwitz; überall die diskriminierende Art der Unterbringung in den Lagern; Krankheiten und winzige Versuche anderer Häftlinge, hilfsbereit zu sein; ständiger Hunger und zunehmende Angst; ungewollte Schwangerschaft nach arrangiertem Sex mit einem Küchenarbeiter, um Freundlichkeit für sich und andere damit zu erheischen; Ohnmacht, Erniedrigung, Kälte, Dreck, Läuse, erschöpfende und zermürbende Appelle bis zum Beginn des Jahres 1945 in Birkenau, kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee, die in der Baracke 25, der Typhus-Station, viele Tote und zwei Halbtote vorfindet: eine davon war Hana.

Parallel dazu wird erzählt, wie Hana nach einem Aufenthalt im Lagerkrankenhaus im Sommer 1945 mühsam zurück nach Meziříčí gelangt, die Konturen der Stadt fast unverändert wahrnimmt, aber über sich selbst entsetzt ist. Sie hat alle Zähne und ihre Haare verloren, kann kaum noch sprechen, verspürt ständig Hunger, und Menschen, denen sie begegnet, erkennen sie nicht wieder, weil sie aussieht wie ein Wrack. Aber sie trifft auf ihre Schwester Rosa, die ja bei Karáseks versteckt gewesen war und inzwischen Mira geboren hatte. Gemeinsam mit ihnen versucht Hana, die Traumata zu vergessen, aber: »Eine Seele, die aus dem Menschen einen Menschen macht, gab es in ihr nicht (mehr)…sie war in den Auschwitzer Öfen verbrannt.« (S. 315) Hana überlebt, übersteht auch die Typhus-Epidemie (weil sie im Lager diese Krankheit bereits hatte) und holt zuletzt Mira von den unduldsamen Horáčeks ab, die das barmherzig aufgenommene Mädchen nicht wirklich mögen. Das war sie ihrer Schwester Rosa schuldig, obzwar sie selbst jahrelang am Existenzminimum dahin vegetierte. Mira wird – anstatt ihres im KZ verlorenen Kindes – Hanas neuer Lebensmittelpunkt. Sie wird plötzlich gebraucht! Und Mira erfährt nach und nach die außergewöhnliche Odyssee, die Hana seit 1942 hinter sich bringen musste.

Durch die beiden unterschiedlichen Erzählsituationen entsteht eine sonderbare Brechung des scheinbar gemeinsam Erlebten, das an sich schon spannend und ergreifend genug ist. Der Text lebt von einprägsamen Bildern und dramatischen Szenen, und die individuelle Geschichte dieses Holocaust erfährt hier einen eigenwilligen und originellen Gestus. Ein großartiges Dokument – laut Klappentext beruht alles auf wahren Begebenheiten – mit einer mehr als aktuellen Botschaft in einer Zeit, in der rechtsextreme Tendenzen unübersehbar zunehmen.

Reiner Neubert

Information

Alena Mornštajnová: Hana. Wieser-Verlag, Klagenfurt 2020. 344 Seiten. Preis 21 Euro. ISBN 978-3-99029-438-3. Übersetzt von Raija Hauck.

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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