Rezension

GRAUZONE

Sehr geehrte Damen und Herren, wir freuen uns, Ihnen einen Gastbeitrag von Prof. Dr. Volkmar Kreißig vorstellen zu können.

Johannes Eichenthal

Jutta Sommerbauer, die Außenpolitikredakteurin der österreichischen Tageszeitung »Die Presse« und deren Korrespondentin in Moskau, pendelt mit dem Fotografen Florian Rainer über die 460 Kilometer lange Grenze oder Frontlinie zwischen der Ukraine und dem russischen Separatistengebiet im Donbass. Die besuchten Dörfer und Kleinstädte haben so unbekannte Namen von wie »Schirokine, Besimenne, Kominternowe«. Die Autoren besuchen die bekannte Großstadt Donezk, heute »Hauptstadt« des von der Ukraine losgesagten Donbass-Gebietes, das von der internationalen Gemeinschaft als selbständiger Staat nicht anerkannt wird, bis hin zu weiteren, ebenfalls unbekannte Namen tragenden Ortschaften wie »Schastia und Staniza Luhanska«. Wer Russisch oder Ukrainisch kann, ist wenigstens in der Lage, die Bedeutung dieser Namen zu erraten – mehr aber nicht. Welchen Sinn macht diese Reise in ein Krisengebiet der ehemaligen Sowjetunion? Die Autoren besuchen diese »Grauzone«, nach der sie ihren Bild- und Textband benennen, und die Hauptstadt des Donbass, um die Menschen und ihre Lebenssituationen zu studieren und Meinungen zum Leben unter den gegenwärtigen Bedingungen erfahren.

Donezk ist die Stadt mit der reichsten, bekanntesten und erfolgreichsten Fußballmannschaft der Ukraine »Schachtjor Donezk«. Ihr Präsident ist Rinat Achmetow, einer der vermögendsten Ukrainer mit tatarischen Wurzeln. Der Verein ist benannt nach den Bergleuten – russisch/ukrainisch »Schachtor« – des Donbass. Erfolgreich Fußball muss heute im ukrainischen Lwiw oder Charkow gespielt werden. Das eigene Stadion des stolzen Vereins wurde 2014 im Krieg beschädigt. Die Sicherheit der Spieler, die aus Brasilien und anderen Ländern stammen, ebenso wie der Zuschauer ist bei internationalen und sonstigen Spielen im Heimatstadion nicht gewährleistet. Das verursachen aber nicht, wie allgemein üblich, randalierende Hooligans und aggressive Fans sondern das ist vor allem bedingt durch die politische Lage im latenten Kriegsgebiet des Donbass. Fußball als allgemeines Männerthema kommt auch in den Ausführungen von Jutta Sommerbauer aber nicht vor. Sicherlich hat das Thema in den Interviews keine Rolle gespielt. Warum auch? Die Akteure der Gespräche haben andere Probleme, um die ihre Sorgen sich ranken und um die der Kampf um das tägliche Überleben geht. Das allgemeine Männerthema ist nicht, wie häufig in Europa und der gesamten Welt, der Fußball sondern der »Krieg«. Die Themen der Frauen, Alten und Jugendlichen sind »das Überleben« und »der Alltag«.

Die Reiserecherchen und die Drucklegung des Buches wurden durch das Grenzgänger-Programm der Robert Bosch Stiftung und vom österreichischen Bundeskanzleramt gefördert. Florian Rainer hat diese Besuche und Interviews mit den Menschen, die in der »Grauzone« leben, mit zahlreichen Fotografien, treffend zum Titel, meist in Grautönen bebildert.

Der Autor dieser Zeilen, ehemals Zusatzstudent im sowjetischen Leningrad, später Professor und Gastlektor an den staatlichen Universitäten St. Petersburg und Tjumen Unternehmens- und Seniorberater in Minsk und Chişinău, hat das Baltikum, Belarus, Georgien und die Ukraine, die Krim, Sibirien, den Kaukasus und Kasachstan oftmals sowohl zu Sowjetzeiten als auch nach dem Zerfall der Sowjetunion bereist. Er kennt also die ehemalige Sowjetunion, die heutige Ukraine, Belarus, die baltischen Staaten, die Gemeinschaft unabhängiger Staaten GUS etc. aus dem eigenen Erleben, aus wissenschaftlichen Projekten und nicht nur aus der Sicht eines Touristen. Noch in der Schule, im Russisch-, Geschichts- und Staatsbürgerkundeunterricht, erfuhr er als DDR-Bürger, dass die Sowjetunion ein Land sei, in der alle Nationalitäten-Probleme gelöst seien. Erste Besuche der Sowjetunion vermittelten jedoch ein teilweise anderes, differenzierteres Bild. Persönliche Kontakte und Gespräche mit Russen, Ukrainern, Weißrussen, Balten, Kasachen, Armeniern und Georgiern und eigene Lebenserfahrungen ließen erste Zweifel an diesem Postulat oder Axiom eines zukunftsweisenden Sowjetkommunismus reifen. Gleichwohl teilt er auch die oftmals einseitige gegenwärtige westliche Berichterstattung zu den Zerfallsproblemen der ehemaligen Sowjetimperiums nicht. Deshalb gefällt ihm die differenzierte Akteurs-bezogene Darstellung von Jutta Sommerbauer, die anschaulich durch die Bilder von Florian Rainer belegt wird.

Der Verfasser will und kann sich jedoch kein Urteil über die Situation in der Ukraine und im Donbass, über mögliche Schuld an den militärisch ausgetragenen Konflikten und eventuell über wirksame Lösungen, im gespaltenen Land, das seit sieben Jahren vom Bürgerkrieg überzogen wird, erlauben. Wer kann und will das überhaupt? Die Zerfallsprozesse des ost- und weströmischen Reiches dauerten Jahrhunderte an. Warum sollte der Zerfall der ehemaligen Sowjetunion kurzfristig und problemlos vor sich gehen?

Die Stimmungen, das Lebensgefühl und die soziale Lage der Menschen im Konfliktgebiet werden bildlich und textlich von den Autoren mit viel Hintergrundwissen und Sensibilität dokumentiert. Die Fotos sind weitgehend in Grautönen gehalten. Die Bilder demonstrieren in Grautönen das zerrüttete Leben und die Empfindungen der Menschen im Konfliktgebiet. Abseits von sensationellen Schilderungen und von der Bedienung von irgendwelchen Kriegsromantiken und Politikklischees schildern die Autoren die Realitäten des Lebens im Krisengebiet sowie im Lande des jahrelang schwelenden und ungelösten Konflikts. Melancholie, Ungewissheiten der Zukunft, Ängste, Improvisation und Erstarrung sind gemischt mit Überlebenswillen und kleinen Hoffnungen sowie auch teilweise mit dem nicht rational begründbaren ukrainischen und russischen Nationalismus. Dieses Konglomerat von Meinungen, Haltungen und Empfindungen bezeichnet die Situation in dieser »Grauzone«. Die Menschen leben im Heute und versuchen vor allem den morgigen Tag zu erleben, ohne zu wissen was dieser »Morgen« bringt? Wenig Gutes! Die Interviewten wollen nur ein wenig normalen Alltag und etwas Freude. Die geringe Hoffnung, dass ein in Minsk geschlossenes Abkommen, von dem die meisten der Befragten nichts wissen, zur Konfliktlösung führen könnte und irgendwann wieder »normale Verhältnisse und friedliches Zusammenleben« herbeiführen würde, ist eher von Tristesse und Erstarrung beeinflusst sowie vom Kampf um das tägliche Überleben überlagert oder eher dominiert. Die Wenigsten glauben an irgendeine Lösung ihrer Probleme in naher Zeit. Vor allem erwarten sie diese nicht von den Politikern welcher Couleur auch immer. Einer 50-jährigen Frau, die mit ihrem verstorbenen Mann aus Charkow nach Torezk in das Grenzgebiet der Ukraine zu dem von Separatisten besetzten Donbass in schon früheren Jahren übergesiedelt ist, wird die Frage gestellt, wann ging es ihnen denn besser: »unter dem prorussischen Präsidenten Janukowitsch oder unter seinen nachfolgenden eher prowestlichen Machthabern?« Sie antwortet ohne zu zögern »unter Breschnew«, d.h. also in der ehemaligen Sowjetunion. Die demokratischen Wahl- und sonstigen politischen Möglichkeiten und Alternativen, mit denen die Menschen im Kriegs- und Krisengebiet sowieso praktisch nichts anfangen können, sind ihnen nicht wichtig. Die älteren Menschen erinnern sich noch an die Zeit, in der Frieden herrschte und es genügend zu essen, an Heizung, Energie, Wasser und an medizinischer Versorgung gab. Das ist für sie kein politisches Bekenntnis sondern Realität ihres Alltags. Die ganz Jungen kennen diese Zeit kaum noch nur aus Erzählungen der Älteren. Für die im mittleren Alter Befindlichen ist diese Zeit schon in der Erinnerung in weitere Ferne gerückt.

Jutta Sommerbauer beginnt ihren Bericht: »Solange man den Krieg aus der Ferne beobachtet, ist die Lage eindeutig. Die Ukraine verteidigt im Donbass Europas Freiheit und schützt sich selbst vor dem Zugriff des russischen Staates und seiner prorussischen Helfer. Die Separatisten behaupten gegen eine angebliche faschistische Bedrohung durch die Regierung in Kiew zu kämpfen … Doch je näher man rückt, desto unübersichtlicher wird die Lage. « Glücklicherweise verzichtet die Autorin im ganzen Text auf die »Genderisierung« des Terminus man(n)/Frau, obwohl die meisten, am Kampf auf beiden Seiten Beteiligten Männer sind. Eine maskuline Darstellung wäre, der »neuen Mode des Ausdrucks« deutscher Sprache gemäß, entsprechend angebracht. Der Krieg ist auch in der Ukraine noch eine überwiegende Männerdomäne. Frauen, Kinder und Alte sind jedoch die überwiegenden Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen. Sie kommen bei Jutta Sommerbauer auch häufig zu Wort. Die Autorin beschreibt ebenfalls die wenigen Frauen, die sich unter den bewaffneten Kämpfern/Innen befinden. Zu Ihnen gehört Kate, die in der 10. Gebirgsjägerbrigade in Solote, die Drohnen dirigiert, die Geschützfeuer und -treffer lenken sollen. Sie hat Angst vor den Scharfschützen der Separatisten, die gegenüber liegen. Sie meint: »Die provozieren uns und wir sie … Es ist Krieg. Krieg um Geld, um Macht, um Territorium … Ich küsse die ukrainische Muttererde. Ich gebe sie nicht her«. Sie versteht schon den politischen Inhalt des unsinnigen Krieges. Sie ist aber mit ihrer Meinung weitgehend allein. Sie kann und will auch nichts ändern. Es ist ihr Job, mit dem sie Geld verdient. Vom Geld, um das es vorrangig geht, bekommt sie selbst nicht allzu viel. Es reicht für einige Snacks und das Essen. Sie kann sogar etwas vom Wehrsold nach Hause schicken. Vom ukrainischen Territorium besitzt sie nichts, geschweige denn nimmt sie an der Ausübung von Macht teil. Sie tut, was man(n) ihr befiehlt.

Mehrheitlich sind die interviewten Frauen aber Alte, die im Krisengebiet geblieben sind und das »alles nicht verstehen«. Sie glauben an Gott, wissen aber nicht wo er ist und was er für sie tut. Andere, aktive jüngere Frauen sind u.a. Bürgermeister/in, Sozialhelfer/in. Es sind vor allem jene, die sich überhaupt um ein Bisschen Normalität des Lebens im Krieg kümmern.

Alla Pikuz zum Beispiel, 53 Jahre alt, wohnt im Dorf Kominternowe, der letzten Bastion im Separatistengebiet. Sie zieht Küken groß, die in drei Monaten gemästet und danach geschlachtet werden. Früher hat sie Milch auf dem Markt in der ukrainischen Stadt Mariupilj verkauft, gleich nebenan. Heute sind es mindestens vier Stunden dahin, eine kriegsbedingt gefährliche Odyssee. Während der Reise dorthin wird ihr »sogar die Milch sauer«. Deshalb verkauft sie diese nicht mehr auf dem »Markt nebenan« sondern direkt an die separatistischen Kämpfer. Die bezahlen auch und müssen ebenso essen und trinken wie die anderen ehemaligen Kunden. Sie versorgt ihre neuen Klienten auch mit Pelmenis, Plinsen und Pizza. Ihr kleines Business gedeiht im Krieg. Wenn die große Konkurrenz der Supermärkte in Kominternowe wäre, ginge es ihr vielleicht schlechter. Die neuen großen Supermärkte investieren aber hier in der »Grauzone« nichts. Also das ist gut für das kleine Business von Alla. Allerdings sind die Risiken andere als die Üblichen. Alla Pikuz hat auch ihren Stolz. »zu Überleben«! Sie geht deshalb aus Trotz bei ukrainischem Beschuss niemals zu ihrem Schutz in den Keller. Früher wurde das Dorf von beiden Seiten wahllos beschossen. Heute ist es Separatistenstützpunkt. Jetzt beschießt die Ukrainische Armee die Bewohner, ebenfalls Ukrainer« mehr »zielgerichtet«. Das ist gefährlicher. 

Keiner der Beteiligten am Geschehen weiß wirklich, warum sich die Ukrainer und Russen untereinander, die des Westens mit denen des Ostens, beschießen. Es ist ein »Bruder-« und vor allem kein »Schwestern-Krieg« zwischen Ukrainern, Russen sonstige nationalen Minderheiten. Kiew war ja einmal die Wiege und der Geburtsort des russischen National-Staates. Nur die Hunde, die sich bei Beschuss jaulend unter dem Sofa verkriechen, verstehen vielleicht, worum und warum heute Krieg geführt wird? Zumindest wittern die Hunde aber Gefahr. Aber sie können jedoch nur jaulen, keine Meinung äußern. Junge Mädchen, Teenager eben, werden im Krieg erwachsen. Sie wollen in der kaputten Welt nur ein paar Stunden Normalität haben, sie wollen einfach einmal lachen, in Diskotheken gehen und nicht im Bunker sitzen. Sie lernen im Separatistengebiet in der Schule etwas über den Donbass und sein Volk und über die Geschichte Russlands. Die Geschichte der Ukraine ist im Unterricht des Separatistengebiets verschwunden. Die jungen Mädchen wollen Friseusen werden oder Menschen irgendwie helfen. Sie machen wie alle Jugendlichen Selfie’s und wollen tanzen. Sie wollen ganz normale junge Burschen kennenlernen – keine Krieger oder Banditen und Kriminellen. Dennoch gibt es nur wenige normale junge Leute. Auch sie wollen überwiegend weg, dorthin wo Frieden ist. Aber die meisten von ihnen können nicht weg.

Die Schilderungen dieser »Exkursionen« von Jutta Sommerbauer und Florian Rainer im Grenzgebiet, in der »Grauzone«, stehen im Kontrast zu den von Andreas Eichler beschriebenen Wanderungen, zur Sinnfindung in Mitteldeutschland und zu seinen historischen Orten. Der Besuch der Orte in der »Grauzone und in Donezk« dient jedoch auch einer Sinnfindung – allerdings jener über einen sinnlosen Krieg. Wessen Interessen dient er wohl? Denen Russlands, der USA, Europas oder der Ukraine? Auf keinen Fall ist der Krieg von den hier lebenden Menschen irgendwie gewollt. Das wird aus allen Schilderungen klar. Die geschilderten Orte werden von den Autoren meist mit einem alten Lada, mit einem Führer und Dolmetscher bereist. Der alte Lada im Bild passt zur allgemeinen Situation. Gemächliches, besinnliches Wandern ist in der »Grauzone« unmöglich, es wäre vielmehr gefährlich. Ständige Spannung und Achtsamkeit bei möglichem Beschuss sind auch für die Autoren angesagt. Die Leute im unmittelbaren Kampfgebiet und im nunmehr selbst ernannt »unabhängigen« Donbass ebenso wie im Randgebiet der Ukraine beantworten bereitwillig die Fragen der Autorin und des Autors. Die Menschen legen ihre Emotionen und Meinungen schonungslos offen bloß. Sie haben keine Zukunftspläne, sehen keinen Ausweg und wünschen sich nur Frieden und ein wenig normales Leben. Bewusste Kämpfer gibt es wenige, vielleicht noch unter den interviewten rechten ukrainischen Nationalisten/Innen ebenso wie unter den prorussischen Separatisten. Diese kommen aber glücklicherweise weniger zu Wort.

Die im Bildband verwandte Sprache und die Schilderungen zeugen zwar auch vom »Eigensinn der Menschen« in der Ostukraine. Dieser ist gar nicht so verschieden von dem in Mitteldeutschland. Es geht aber um ihren täglichen Überlebenskampf, eingekeilt zwischen »regierungstreuen« und »abtrünnigen« Ukrainern, Russen und Menschen mit anderen nationalen Wurzeln im Vielvölkerstaat Ukraine. Die gemeinsame slawische Sprache verstehen alle. Ob sie sich gegenseitig verstehen wollen, ist fraglich. Die meisten Menschen sehen jedoch keinen Sinn und haben wenig Interesse an diesem von »äußeren Mächten befeuerten Konflikt«. Sie positionieren sich nicht politisch und können es oft auch gar nicht. Sie müssen sich vielmehr zu zuallererst zu den Stätten und Orten durchkämpfen, an denen sie ihre tägliche Nahrung sichern oder ihre »schmale Rente« abholen können. Ihre Sprache ist einfach, eher vom Verfall der Sitten als von irgendwelchen positiven Entwicklungen des Wortsinns geprägt.

In Schirokine, einem Grenzort an der Front oder in der Expertensprache an der »Kontaktline« der Ukraine zum Separatistengebiet treffen die Autoren einen überzeugten Kämpfer – den »Inkassator« oder Buchhalter d.h. einen ehemaligen Geldboten. Er ist einer, der sich für die ukrainische Armee verpflichtet hat. Auf seinem Helm steht:« ich kämpfe für meine Frau, den Sohn und die Tochter«. Er stellt fest, dass es auch seine Freunde waren, die aus der ehemaligen Ukraine vertrieben wurden und die in die Zone der Separatisten flüchteten. Die »prowestlichen« Ukrainer haben vor einiger Zeit das Dorf erobert, die Bevölkerung ist unter Zurücklassen ihres Habs und Gutes geflohen. Frieden ist nicht eingekehrt.

In Besimene, dem im Separatistengebiet gegenüber liegenden Ort, treffen die Autoren Mischa, den Presseoffizier im Donezker Armeestab. Er studiert nebenbei Journalismus. Der Krieg, den keiner haben will, ist für ihn eine Stufe auf der Karriereleiter. Putin bezeichnet diese »Aufständischen« als »Urlauber, die in der Ukraine Krieg führen«.

Die russische Rap-Gruppe 25-17 beschreibt die schizophrene Situation des ukrainisch-russischen Bruderkrieges im Rap-Song wie folgt: »Wir sind das Volk der Gottesträger. Wir sind das Volk der Sieger. Wir werden einander abschlachten, und ihr schaut zu, wie wir uns abschlachten, für das allgemeine Wohl. Und der Letzte von uns schlitzt sich das Handgelenk auf«. 

Wem der Krieg schadet, dass zeigt das Buch deutlich – den normalen Menschen. Wem er nützt, das bleibt verschwommen und ist vor allem unklar. Hat nicht Eisenhower den Begriff des militärisch-industriellen Komplexes gebraucht, der in Kriegen stets mitregiert und profitiert? 

Was wird aus der »Donezker« Republik, die niemand anerkennen will? Was wird aus den Menschen, die sich überflüssig fühlen, deren Leben im Krieg, der niemandem nützt, sinnlos verrinnt? Was wird aus den Kriegshelden, die keine sein wollen? Sie wurden betrogen von den russlandfreundlichen Oligarchen, die Präsidenten der Ukraine waren, ebenso wie von den Europa- und US-freundlichen Präsidenten – die ebenfalls Oligarchen sind! Sie profitieren auch im oder durch den Krieg. Jetzt ist ein Schauspieler und ehemaliger Komödiant Präsident der Ukraine – sind nicht alle Akteure gezwungen Schauspieler oder Statisten dieser Tragikomödie zu sein? Sie hassen einerseits die Ukraine, als Land, das den stolzen Donbass und seine Bergleute verraten hat. Ihnen wurde alles, sogar die eigene Fußballmannschaft, entzogen. Sie wollen andererseits endlich Ruhe und Frieden haben und niemand hassen müssen. Sie vertrauen keiner Propaganda und Politik. Sie bezeichnen sich als Ukrainer, Russen, Juden, Griechen, Tartaren und Sinti und Roma. Sie wünschen sich oftmals wie früher in Ruhe und Frieden einfach zu leben. Die neue Demokratie und Scheinunabhängigkeit von Russland haben Ihnen nichts weiter gebracht außer den Tod, die Armut und ein Leben in Angst und Ausweglosigkeit. Die Ukraine – ehemalige Kornkammer Russlands und der Sowjetunion – ist verarmt, die Bergleute der Kohlengruben haben ihren Stolz und ihre Privilegien verloren. Ist das Minsker Abkommen und seine Umsetzung wirklich ein Ausweg? Gegenwärtig kommen zum sieben Jahre währenden Konflikt weitere politische und militärische Auseinandersetzungen im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion im Kaukasus und in Belarus hinzu. Die Zerfallskonflikte der ehemaligen Sowjetunion bergen zusätzliche Gefahren für den Frieden und die politische Stabilität in der Welt und besonders in Europa. Die Kriege rücken näher an das neue, vereinte, in diesen Fragen jedoch ziemlich hilflose Europa mit seinen neuen inneren und äußeren Konfliktlinien und widersprüchlichen Auffassungen heran. Quo vadis Donbass und Ukraine? Quo vadis Europa? Können ehemalige Verwandte und Freunde jemals wieder friedlich zusammenkommen? 

COVID-19 – Hauptthema im gegenwärtigen Europa erscheint in dieser Region im Osten eher als ein Luxusproblem des »alten Europas«. Das spielt zwar im besprochenen Buch im Jahre 2018 noch keine Rolle. Das pandemische Problem ist dennoch auch in der Ukraine und im Donbass gegenwärtig. Überleben muss man(n)/Frau mit oder ohne Corona in der West-Ukraine, im abgespaltenen Donbass und in der Grauzone. Es gibt keinen Impfstoff dafür. Was treibt Europa mehr? COVID-19 oder seine Konflikte und ihre Mutationen? Gibt es Quarantänemaßnahmen zur Eindämmung und Ausheilung der europäischen Konflikte? 

Glücklicherweise hat die Ukraine beim Zerfall der Sowjetunion ihre nuklearen Waffen an Moskau abgegeben ebenso wie die anderen neuen postsowjetischen Republiken oder ihre Herrscher und Diktatoren. Unvorstellbar wäre es, wenn nukleare Raketen oder Bomben sich in den Händen von Separatisten, Nationalisten und sonstigen Kriegstreibern im Osten befänden. Diese ehemals politische Lösung ist aber schon das Minimum an Positivem, das den Zerfall der Sowjetunion im Nachhinein ausmacht. Als Bilanz der »Perestroika« Gorbatschows ist das zu wenig.

Prof. Dr. oec. et phil. habil. (i.R.) Volkmar Kreißig 

Information

Florian Rainer /Jutta Sonmmerfeld: Grauzone Eine Reise zwischen den Fronten im Donbass.

Bahoe Books Wien, Erstauflage 2018

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

One thought on “GRAUZONE

  1. Wirklich ein Grausen,was sich in der Ostukraine abspielt. Ohne aktuell jede Perspektive werden die Menschen zwischen den
    Fronten aufgerieben und sind nurmehr Spielball von mächtigen Interessengruppen. Fatal ist zudem, wie wenig sich die Medien des sog. „Westens“ mit dem Thema befassen. Vielleicht ist man selbst auch ein stückweit irritiert, mit welcher Geschwindigkeit man Alleinschuldige beizeiten an den Pranger gestellt hat ohne eine differenzierte Analyse. Das Geschehen in Belarus und seine mediale Bewertung,vor allem auch hierzulande, zeigen nicht gänzlich vergleichbare Paralellen auf.

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