Essay

VON KOMMENDEN DINGEN

Sehr geehrte Damen und Herren, wir freuen uns, Ihnen zum Jahresende einen Beitrag unseres Herausgebers Andreas Eichler vorstellen zu können.

Johannes Eichenthal

2019 erschien der erste Band unserer literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland. Von den Minnesängern bis Johann Gottfried Herder reichen die Literaten-Porträts. Der zweite Band soll uns von Johann Wolfgang Goethe zu Walther Rathenau führen. Die Buchvorstellung wird am 18. August 2021 in Bad Freienwalde stattfinden. Das ist der Ort der Erinnerung an Walther Rathenaus Geist. In einer Zeit intensivster Tätigkeit, zeitweise hatte er gleichzeitig 100 Aufsichtsratsposten inne und musste Entscheidungen im Minutentakt treffen, fand er hier seine innere Ruhe, widmete sich Musik, bildender Kunst, der Lektüre und der Meditation.

1. Der 1867 als ältester Sohn des AEG-Gründers, in einer jüdischen Berliner Familie geborene Walther Rathenau, folgte frühzeitig der wörtlichen Bedeutung von „Philosophie“ als „Liebe zur Weisheit“. Obwohl sein Vater Freimaurer war, lehnte Rathenau dieses Bekenntnis ab, weil ihm einige Logen in konfessionellen Fragen zu wenig Wert auf Gleichberechtigung legten. Eine Konversion zum Christentum, die ihm im Kaiserreich als Bedingung für ein Ministeramt angetragen wurde, lehnte er wegen des geforderten Bekenntnisses zur Kirche ab. Am Judentum schätzte Rathenau, dass es keine Kirche sondern eine Geistreligion sei.

Das Schloss Freienwalde ließ der preußische König 1798/99 von David Gilly erbauen

2. Rathenau ging auch beim Philosophiestudium einen eigensinnigen Weg. Bei Wilhelm Dilthey und Hermann von Helmholtz konnte er keine wirkliche Orientierung finden. Die akademische Philosophie, Rathenau nannte sie wegen ihrer Selbstreduktion auf „Rationalität“ auch „Intellektualphilosophie“, vermochte nur bekanntes Wissen folgerichtig abzuleiten und keinen Blick ins Unbekannte zu werfen, war für ihn ohne Wert. Doch selbst bei Außenseitern wie Constantin Brunner oder Martin Buber fand Rathenau keine wesentliche Anregung. Auf eine Frage nannte er Altes und Neues Testament, ein paar Gespräche Platos, Meister Eckharts, Thomas von Kempis’ und Spinozas Ethik die wenigen wichtigen Bücher der letzten 2500 Jahre. Als wesentliche Anreger seines Werkes bezeichnete er wiederholt Plato, Buddha, Jesus und Goethe. In seiner Polemik gegen die Intellektualphilosophie und seinem Bemühen um Neuerschließung der Weisheits-Tradition, überzog Rathenau die Bedeutung des Unbewussten und vernachlässigte den Zusammenhang von Sprache und Vernunft, wie auch die sprachliche Struktur des Unbewussten. Wichtige Vorgängerleistungen, etwa Johann Gottfried Herders Sprachursprungsessay, den Dialog „Gott – ein Gespräch“ oder Gotthilf Heinrich Schuberts „Geschichte der Seele“ kannte oder erwähnte Rathenau nicht. Dennoch war sein Versuch der Neuerschließung der Tradition von Philosophie als Weisheit, als Einheit der Gegensätze Vernunft und Glauben, am Beginn des 20. Jahrhunderts mindestens im deutschsprachigen Raum ein singuläres Unterfangen.

3. Rathenaus wichtigstes philosophisches Werk war das 1916 in Freienwalde fertiggestellte, in einem lesbaren essayistischen Stil verfassten und 1917 im renommierten Verlag S. Fischers erschienene Buch „Von kommenden Dingen“. Mit der Analyse der sich herausbildenden Weltgesellschaft, der Bestimmung des Dranges zur Naturbeherrschung als „Mechanisierung“, der alle Menschen zwangsweise als Produzenten und Konsumenten zusammenschließt, der alle Lebensbereiche mit rationaler Effizienz durchdringt, der zwar die Ernährung der Menschheit sichert, sie jedoch unter dem Deckmantel äußerlicher Freiheiten versklavt, setzte er Maßstäbe. Rathenau hob dabei hervor, dass weder der Verbrauch von Gütern noch das Wachstum des Verbrauchs der Sinn unserer menschlichen Existenz sein kann. In Zeiten des Bevölkerungswachstums und der Ressourcenverknappung ist zudem der Verbrauch keine Privatangelegenheit mehr. Ein Drittel der Weltproduktion ist nach Rathenau überflüssiger Luxus, Kitsch und minderwertiger Schund. Eine solche Vergeudung von Arbeitskraft, Ressourcen und Energie ist im Industriezeitalter nicht mehr hinnehmbar. Deshalb muss Verbrauch von Gütern, Ressourcen und Energie über ein bestimmtes Limit hinaus drastisch besteuert werden. Auf den Schultern des rebellierenden Goetheschen Werther und der Bismarckschen „Revolution von oben“ entwickelte Rathenau das Programm einer umfassenden Reform der Gesellschaft, zur Verflüssigung des toten Reichtums, zur Überbrückung vererbter sozialer Spaltung, der Schaffung gleicher Bildungschancen für alle Menschen, und zur Stiftung eines Volksstaates, in dem alle Schichten vertreten werden und in dem die Oberschicht beständig ausgetauscht wird. Bezeichnenderweise zieht Rathenau eine Verbindung vom Pontifikat zur Aufgabe des Volksstaates als „Brückenbauer“. 

1909 kaufte Walther Rathenau das Schloss, das über 100 Jahre leer stand, und ließ es rekonstruieren

4. In seiner Polemik mit der „Intellektualphilosophie“ zeigt Rathenau, dass die Reduktion des menschlichen Geistes auf die „okzidentale Rationalität“ im Zeitalter der Mechanisierung, der Durchdringung aller Lebensbereiche mit dem Streben nach Effizienz, Verrat an der Humanität ist. Die Intellektualphilosophie hilft den Menschen nicht nur nicht ein Gegengewicht zur Dominanz des rationalen Effizienzstrebens aufzubauen, sondern beschleunigt mit ihrem Beharren auf „reiner Vernunft“ sogar den Prozess der hyperrationalen Mechanisierung.

5. Der Prozess der Mechanisierung wurde zwar vom Menschen in Gang gesetzt, jedoch nicht in freier Entscheidung. So nimmt die Mechanisierung (Modernisierung, Globalisierung, Digitalisierung) die Form einer physischen Gewalt an. Wenn der Mensch nicht zum Sklaven dieser blinden „künstlichen Intelligenz“ werden will, dann muss er Gegenkräfte entwickeln. Der Geist, die Seele, der Glaube ist es, so Rathenau, der die Mechanisierung zu durchdringen und zu humanisieren vermag. Damit kann menschlicher Existenz wieder ein Sinn gegeben werden: die Schaffung ewiger, geistiger Werte. Im biblischen Bild der Jakobsleiter sieht Rathenau diese Sinnstiftung ausgedrückt. 

6. Der New Yorker Architekt Lewis Mumford veröffentlichte 1964, ohne den Namen Rathenaus und dessen Buch „Von kommenden Dingen“ zu kennen, einen ähnlichen Ansatz unter dem Titel „Der Mythos der Maschine“. Obwohl er nahezu 1000 großformatige Seiten füllte, vermochte der Darwinist und Freudianer Mumford nur auf die Gefahren der „Automatisierung des Wissens“ hinzuweisen, jedoch keine Perspektive zu zeigen.

Das Besondere an Rathenaus Position war aber die Einsicht, dass eine der tatsächlichen Vergesellschaftung der Wirtschaft angemessene politische Willensbildung nur durch den Geist der Menschen entstehen kann. Die Wirtschaft ist dazu selbst nicht fähig. Deshalb konzentrierte sich Rathenau auf die notwendig zu formierende Kraft der menschlichen Seele, den Glauben, die Weisheit aller Kulturen und Völker: „Die Botschaft vom Reich der Seele als der wahren Βαδιλεία τον ουρανων (Himmelreich) ist die einige und einigende Religion unserer werdenden Menschheit“. (Walther Rathenau: Briefe 1, S. 261) Über Jahrtausende versuchten die Menschen sich der absoluten Wahrheit anzunähern. Die Weisheit verband die gegensätzliche Einheit der beiden menschlichen Grundkräfte Glaube und Vernunft, die Hoffnung auf Teilhabe an der kosmischen, göttlichen Vernunft und die Fähigkeit aus unseren Irrtümern zu lernen. Humanität beruht auf der wechselseitigen Ergänzung und Begrenzung von Vernunft und Glauben. Menschliche Weisheit kann die Gegenkraft zur Mechanisierung bilden. Ohne diesen Kontext bleibt Vernunft jedoch bloß berechnender Verstand, kalte Rationalität, „geistiger Motor“ der Mechanisierung.

Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger entwickelte in einer Diskussion mit dem Intellektualphilosophen Jürgen Habermas 2004 einen ähnlichen Ansatz, wie Walther Rathenau. (Joseph Kardinal Ratzinger: Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates. In: Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2005, S. 28–40)

Das Teehäuschen im Schlosspark, der 1822 durch Peter Josef Lenné ergänzt worden war

7. Rathenaus überragende Vermittlungsleistung als deutscher Außenminister bei den Verhandlungen in Genua März/April 1922 war nur durch seine philosophische Lebenshaltung möglich. Mitarbeiter aus der AEG bestätigten die Gelassenheit und Aufmerksamkeit in Verhandlungen. Selbst in schwierigsten Situationen verlor er nicht die Nerven. Obwohl er ein kluger Rechner war, beharrte er nicht auf Berechnungen. Obwohl er die Möglichkeiten hatte, setzte er keine Machtmittel ein. Es war die Vision, die ihm in geschäftlichen und im diplomatischen Verhandlungen den Weg zur Lösung erschloss. Er ging davon aus, dass bei einem Streit in der Regel beide Seiten Unrecht haben. Seine Methode war deshalb darauf konzentriert, in den verschiedenen Positionen die beweglichen Punkte zu finden. So vermochte er in Genua mit den ehemaligen Kriegsgegnern wichtige Übereinstimmung zu erzielen, weil er unmittelbar nach dem verheerenden Krieg die Vision eines gemeinsamen Europa im Frieden entwickelte. Diesem gemeinsamen Europa sollten die nicht rückzahlbaren Schulden aller europäischen Staaten beim „Generalgläubiger“ USA geopfert werden. Mit dem Beifall der Vertreter Europas auf der Abschlusstagung der Genueser Konferenz vom 19. Mai 1922, wurde Rathenaus sanfte philosophische Methode anerkannt. Der britische Premier Loyd George sagte, dass Rathenau gleichzeitig imponierend und versöhnend wirkte.

Wenige Wochen danach, am 24. Juni 1922, wurde der deutsche Außenminister Walther Rathenau von zwei Reichswehr-Offizieren auf der Koenigsallee in Berlin-Grunewald im offenen Wagen erschossen. Beide Attentäter kamen bei der Festnahme zu Tode und konnten nicht vernommen werden. Rathenaus Biograph Harry Graf Kessler vermerkte, dass weder das Gericht noch die Staatsanwaltschaft die Frage nach den Auftraggebern stellte und diese deshalb auch nicht beantwortete. Der britische Premier Lloyd George bemerkte, dass Deutschland mit der Ermordung Rathenaus Selbstmord begangen habe.

8. Der Prophet und Brückenbauer (Pontifex) Rathenau vertraute auf die kommende stille und gewaltige Umformung aus der Tiefe des sittlichen Bewusstseins, auf die Gegenkraft, die den Volksstaat, die Verflüssigung des Reichtums und die Überbrückung sozialer Spaltung bewirken wird.

Andreas Eichler

Information

Andreas Eichler: Literarischer Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn.

Teil 1 Von den Minnesängern bis Herder

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche Abbildungen 

Mit einem Geleitwort von Dr. Klaus Walther.

VP 29,90 € ISBN 978-3-96063-025-8

lieferbar

Teil 2: Von Goethe bis Rathenau

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Fotos, Karten und Abbildungen 

Mit einem Geleitwort von Prof. Eberhard Görner

VP 29,90 € ISBN 978-3-96063-026-5

Die Buchpremiere soll am 18. August 2021 im Teehaus von Schloss Freienwalde stattfinden

Teil 3: Von Landauer bis Gundermann

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Fotos, Karten und Abbildungen 

VP 29,90 €  ISBN 978-3-96063-024-1

Erscheint 2023

www.mironde.com

Dokumentarfilm von Eberhard Görner: Von kommenden Dingen. Walther Rathenau in Freienwalde. DVD 2011. (Über die Tourismus GmbH Bad Freienwalde erhältlich)

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

2 thoughts on “VON KOMMENDEN DINGEN

  1. Danke! Ein wunderbares, ermutigendes Geschenk, diese Zeilen lesen zu dürfen
    In diesen Zeiten, wo man den Eindruck nicht los wird, dass Ziellosigkeit und Handeln ohne Vernunft die Maxime der meisten politischen Akteure ist Besinnung angesagt.
    Ich wünsche dem Autor viel Gesundheit und Schaffenskraft – bin sehr gespannt auf die angekündigten Schriften.
    Nochmals Danke und eine gute nächste Zeit!

  2. Nachdem ich das Essay von Johannes Eichenthal mit viel Interesse gelesen habe , ist es mir ein Bedürfniss , für die ausführlichen Zeilen über Walther Rathenau , dem Autor zu danken. Leider führt Rathenau in Deutschland ein Schattendasein.
    Mit Neugier erwarte ich schon den zweiten Band -Von Goethe bis Rathenau. Wie ich den Autor kenne wird er seinem Vorgänge in keiner Weise nachstehen.
    Ich wünsche für die Zukunft , Andreas Eichler und seiner mehr als nur mithelfenden Ehefrau, viel Gesundheit ,Schaffenskraft und erfolgreiche Ideen.

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