Essay

DER ALTERNATIVE

Der 100. Todestag Walther Rathenaus am 24. Juni 2022 fand etwas mehr Aufmerksamkeit als dessen 150. Geburtstag im Jahre 2017. Über Jahrzehnte beschäftigten sich Historiker vornehmlich mit dem Attentat auf Rathenau, ohne über den Verdacht, die Täter hätten der Geheimorganisation Consul (OC) angehört, hinauszukommen. Dieses Klischee hält sich, obwohl Konrad Heiden, Kurt Gossweiler und andere bereits vor Jahrzehnten auf die entscheidende Rolle des Reichswehr-Gruppenkommandos München aufmerksam gemacht hatten. In der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichte Professor Ulrich Schlie am 18. Juni 2022 einen Artikel unter der Überschrift „Kein anderer Politiker des 20. Jahrhunderts war so vielschichtig wie Walther Rathenau – vor hundert Jahren ist der deutsche Außenminister ermordet worden“. In der Jungen Welt veröffentlichte der Journalist Daniel Bratanovic am 2. Juli 2022 einen Beitrag unter der Überschrift „Der realallgemeine Gesamtmonopolist“.

1. Für Ulrich Schlie ist das große Rätsel die „Vielschichtigkeit“, man könnte auch sagen, die Vielseitigkeit Rathenaus. In der überspezialisierten westlichen Gesellschaft ist es dem Anschein nach nicht mehr vorstellbar, dass jemand Maschinenbauer, Physiker, Chemiker, Philosoph, Literat und Liebhaber des preußischen Klassizismus ist. Dabei könnte man weitere Seiten ergänzen: Rathenau malte, wie sein Onkel Max Liebermann, spielte Beethoven-Sonaten auf Konzertniveau, hatte Patente für elektrochemische Verfahren inne, war Bewunderer Bismarcks, traf sich regelmäßig mit der Redakteurin einer sozialistischen Zeitschrift, war ein erfolgreicher Manager und gleichzeitig ein begnadeter Verhandlungsführer. Aber Walther Rathenau hatte die Vielseitigkeit selbst gewählt. Die Fixierung seines Vaters Emil Rathenau auf die vollständige Unterordnung unter das Streben nach finanzieller Effizienz war für ihn kein annehmbares Ziel, weil man damit keine Erfüllung findet und weil dies letztlich ein „armes“ Leben ist, ein „Haschen nach Wind“ (Salomo). Nach dem Studium arbeitete Walther Rathenau einige Jahre im väterlichen AEG-Konzern, verweigerte jedoch eine „standesgemäße“ Heirat um der Fortsetzung der Familiendynastie willen. Seine Entfernung aus der operativen Führung der AEG im Jahre 1915, die der Konkurrent Felix Deutsch nach dem Tode Emil Rathenaus durchsetzte, nahm er stillschweigend hin. Bei seinem Eintritt in die Politik gab er die letzten Aufsichtsratsposten ab. Die Vielseitigkeit Rathenaus dürfen wir uns nicht als ein bloßes „Nebeneinander“ vorstellen. In seiner Philosophie laufen alle mannigfaltigen Lebenstätigkeiten zusammen. Hier ist der Grund, in dem Rathenau Gegensätze vereinigen konnte, wie Herder, Spinoza, Meister Eckhart, Aristoteles und Plato vor ihm. Der Leiter der britischen Delegation Lloyd George sagte nach der Konferenz von Genua: „Rathenaus Persönlichkeit wirkte gleichzeitig imponierend und versöhnend.“ 

Leider kann uns Professor Schlie in diesem Punkt nicht weiterhelfen, weder zitiert er aus Rathenaus philosophischen Werken entscheidende Sätze, noch führt er uns zu deren Lektüre hin. 

2. Daniel Bratanovic erwähnt dagegen zumindest die Philosophie Rathenaus. Als Wertungsmaßstab dient ihm das Buch von Georg Lukács „Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler.“ von 1955. Auch die Herausgeber und Autoren der „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“ verwendeten in Band 9, Berlin 1974 , S. 299 und 320; und in Band 10, Berlin 1978, S. 328 den Irrationalismus-Vorwurf gegen Rathenau. Aber der Vorwurf geht ins Leere. Rathenau erfasst ja gerade die Verbindung der „okzidentalen Rationalität“ mit der Industrie als Ursache für die Durchdringung aller Lebensbereiche mit der Forderung nach finanzieller Effizienz. Die Vernunft, der berechnende Verstand, ist die treibende Kraft dieses Prozesses, den er „Mechanisierung“ nannte. Diese Mechanisierung, so Rathenau, sei ein blinder und geistloser Prozess, der die Effizienz um der Effizienz willen zum Ziel habe und das menschliche Leben zu einer Art von Maschine mache. (Zu einem ähnlichen Befund kam von ganz anderen Ausgangsbedingungen 1964 Lewis Mumford „Der Mythos der Maschine“.) Gegen die drohende Versklavung der Menschen durch die Mechanisierung setzte Rathenau auf Seele, Glauben und Spiritualität: „Dass Seelenrichtung des Lebens und Durchgeistung der mechanischen Ordnung das blinde Spiel der Kräfte zum vollbewussten, freien und menschenwürdigen Kosmos gestaltet.“ (S. 38 f.) Aber, so Rathenau, die Kirche sei selbst ein Teil der Mechanisierung geworden und die Philosophie der reinen Vernunft, Rathenau nannte sie „Intellektualphilosophie, ebenso. Die Intellektualphilosophie helfe nicht nur nicht, uns gegen die blinde, geistlose Mechanisierung zu behaupten, sie beschleunige diesen Prozess gar noch. Rathenau kritisiert Karl Marx, den Stammvater des „dogmatischen Sozialismus“, wegen seines Beharrens auf der Intellektualphilosophie hart. Dennoch bemerkte Rathenau, dass die Menschheit den Weg zum Sozialismus gehen wird, nicht weil sie es aufgrund unabänderlicher, materieller Gesetze muss, sondern weil sie es will. (Walther Rathenau: Von kommenden Dingen. S. Fischer-Verlag, Berlin 1917, S. 16) 

Rathenau hob hervor, dass nicht mehr Monarchen und Monarchien die Weltgeschichte bestimmen: „Die wahre Macht halten die klugen Emporkömmlinge. Vanderbilt, Rockefeller, Carnegie, Krupp sind die Könige und das Schicksal unserer Zeit … Wer führte den Japanerkrieg? Lombardstreet und Wallstreet.“ (Briefe 1, S. 44)

Mit dem Begriff der „Mechanisierung“ erfasste Rathenau den inneren Zusammenhang der Epoche. Er konstatierte zunächst, dass ein Drittel der Weltproduktion Rüstung, Luxus, Kitsch und Schund sei. Diese Verschwendung von Arbeit, Material und Energie könne sich die Menschheit angesichts des Bevölkerungswachstums und der Naturbelastung nicht mehr leisten: „Wirtschaft ist nicht Privatsache, sondern Gemeinschaftssache, nicht Selbstzweck sondern Mittel zum Absoluten, nicht Anspruch sondern Verantwortung.“ (S. 102) Sein Reformkonzept konzentrierte sich auf drastische Besteuerung von Monopolgewinnen und Groß-Erbschaften, Förderung des Mittelstandes, einschließlich Landwirtschaft, der Bildung, des öffentlichen Verkehrswesens, der Kunst und der Wissenschaft. Diese Reformen, so Rathenau, seien notwendig, um weitere katastrophale Kriege um Vorherrschaft, Rohstoffe und Absatzmärkte zu verhindern: „Nur die Verflüssigung des Reichtums und die Überbrückung der erblichen Spaltung, der Aufhebung der Teilung in ewig tragende und ewig lastende Glieder, nur die Verschmelzung der Gesellschaft zu einem lebenden, unstarren, aus sich selbst sich erneuernden Organismus, nur diese stille und gewaltige Umformung aus der Tiefe des sittlichen Gewissens, wie unsere Lehre sie dargetan hat, kann und wird den Bruderkampf der Menschen und Völker stillen.“ (S. 216)

3. Rathenau wurde wegen seiner Analyse und seiner Lebensweise von Wirtschaftsmagnaten und Politikern verlacht und verspottet: „Jesus im Frack“ höhnte die Konzernpresse. Doch die von Rathenau 1917 benannten Probleme sind heute nicht mehr zu leugnen: 500 Jahre Dominanz der westlichen Industrieländer, der wachstumsgetriebenen Wegwerfkultur, brachten eine unhaltbare Situation hervor, in der 20 Prozent der Menschheit 80 Prozent der Ressourcen beansprucht. Gewaltsame Auseinandersetzung, Katastrophen und Flüchtlingsströme sind damit vorprogrammiert.

Aber Rathenau hatte nicht nur die entscheidenden Punkte notwendiger Reformen benannt, sondern auch klargestellt, dass es zur Lösung der akuten Probleme einer utopischen Prophetie bedürfe: „Nicht die Forderung geht dem Umschwung voran, sondern die Verkündung, die schon den ersten Anbruch der Erfüllung birgt.“ (S. 14) Für ein menschenwürdiges Dasein, so Rathenau, reiche ein mäßiger Wohlstand aus. Aber die neue Lebensweise könne nicht verordnet und nicht erzwungen werden. Die Bewohner der Industrieländer müssen den Übergang von Wachstums- und Wegwerfkonsum zum erfüllten Leben selbst wollen. 

Mit der Entdeckung der Philosophie Meister Eckharts und Benedikt Spinozas praktizierte Rathenau ein Leben aus der Tiefe. Erst das über den Alltag hinausreichende Streben nach dem „Menschengöttlichen“ (Eckhart) erschloss die vollständigen Kräfte Rathenaus und ermöglichte ihm eine Einordnung in die Natur, in die kosmische Vernunft. Die Meditation nahm dabei einen entscheidenden Platz ein. Im Buddhismus, im Taoismus und in anderen Weltreligionen wird die Weisheit ebenfalls bewahrt. 

Walther Rathenau praktizierte ein geistig „reiches“ Leben mit vielseitigen Beziehungen zu anderen Menschen und zur Natur und zeigte die Alternativen zum „Haschen nach Wind“ auf. Er ist zu gut für bloß historische Würdigungen. Um seinem Denken folgen zu können, sollten wir „Von kommenden Dingen“ selbst lesen. 

Rathenaus Bücher aus dem S. Fischer-Verlag sind antiquarisch zu haben.

Johannes Eichenthal

Information

Von Johannes Eichenthal sind im Mironde Verlag folgende Titel lieferbar

Johannes Eichenthal: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 2. Von Goethe bis Rathenau.

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Fotos, Karten und Abbildungen 

VP 29,90 €  

ISBN 978-3-96063-026-5

https://buchversand.mironde.com/epages/es919510.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/es919510/Products/9783960630265

Johannes Eichenthal: Skepsis und Hoffnung.

14,0 × 20,5 cm, 60 Seiten, Broschur mit Schutzumschlag

Grafik von Rüdiger Mußbach (Materialdruck, Bleistift, Aquarell)

VP 12,50 €

ISBN 978-3-96063-004-3

https://buchversand.mironde.com/epages/es919510.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/es919510/Products/9783960630043

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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