Reportagen

KULTUR IM BAHNHOF GÖRLITZ. ZUM 220. TODESTAG JOHANN GOTTFRIED HERDERS

Am 16. Dezember, einem Sonnabend, hatte der Verein „ideenfluß e.V.“ in den Bahnhof Görlitz, in den Kultursaal „Gleis 1“, früher war hier das Bahnhofsrestaurant der „MITROPA“, zu einer Vorstellung der „Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland“ eingeladen. In der Stadt Görlitz vermag man das historisches Bahnhofsgebäude im laufenden Bahnbetrieb zu bewahren. In der Bahnhofshalle finden wir ein gut sortierten Mix an Geschäften, die rege frequentiert werden. Eine Kurzparkzone vor dem Bahnhof ermöglicht sowohl die Anfahrt der Reisenden, wie auch den Einkauf im Bahnhof. 

Im Ostflügel des Bahnhofs befindet sich direkt neben dem Kultursaal ein Antiquariat.

Blick in den Bahnhofsrestaurant-Raum und das historische Bahnhofsschild, vor Veranstaltungsbeginn.

Um 10.30 begrüßt Frau Conny Wiesner im Namen des Vereins die zahlreich erschienenen Gäste und den Referenten Dr. Andreas Eichler vom Mironde-Verlag im Kultursaal. 

Eichler stellte in Abänderung des Programms die gesamte Buchreihe bis zum für 2024 geplanten dritten Band der Literarischen Wanderungen „Von Landauer bis Gundermann“ vor. Zunächst sei nur ein Band geplant gewesen, mit Johann Gottfried Herder als „Mitte“. Dann seien zwei Bände daraus geworden. Aber Walther Rathenau, der „Herder des 20. Jahrhunderts“, habe die Planung gesprengt und einen dritten Band notwendig gemacht. Eichler stellte die Editionsgrundsätze vor, zeigte Titel und Rücktitel, verlas die Namen der dargestellten Personen und machte neugierig auf den Inhalt.

Blick in den Bahnhofsrestaurant-Raum vor Veranstaltungsbeginn

Die Mehrheit der Menschen, so Eichler, informiere sich heute mit digitalen Systemen, die von Algorithmen gesteuert werden. Auch die Spitzen von Wirtschaft und Politik sowie die Wissenschaft folgten solchen „digitalen Netzwerken“. Ohne Zweifel hätten dieses System Vorteile. Der entscheidende Nachteil bestehe aber darin, dass mit bloß quantitativen Methoden kein Bild vom Ganzen, vom Naturkreislauf möglich sei. Die Gesellschaft folge damit dem Trend der „Ausdifferenzierung“, d.h. der immer engeren Spezialisierung, der von der Soziologie der alten Bundesrepublik sogar noch als „Fortschritt“ gefeiert wurde. Weder Wirtschaft, Politik noch Wissenschaft brächten deshalb heute ein Bild vom Naturkreislauf zustande, obwohl so viel Einzel­informationen vorliegen wie noch nie in der Menschheitsgeschichte. Eine auf Konsum reduzierte Gesellschaft brauche aber auch weder Geschichte noch Zukunft. Die Beschränkung auf die Gegenwart reiche für die „Wachstums- und Wegwerfwirtschaft“. Mehr als ein Drittel der heutigen Produktion seien jedoch überflüssig, ein Drittel der Lebensmittel in den Industriestaaten würden weggeworfen. Gerade deshalb tauge „Konsum“ eben nicht für die Perspektivbestimmung. Wie kann man, so fragte Eichler, einen humanen Lebenssinn finden? Diese Frage durchzog den ganzen Vortrag.

An den Wänden sind Tafeln mit Jakob-Böhme-Zitate zu finden

Im Rahmen der Vorstellung der drei Bände ging Eichler in Stichworten auf einzelne Personen ein, um den sprachlich-literarischen Überlieferungsprozess in Mitteldeutschland, der Region zwischen Braunschweig und Görlitz, inhaltlich anzudeuten. Meister Eckhart (um 1260–1328) wurde von ihm herausgehoben. Dieser hatte an der Pariser Universität erlebt, wie in der Wissenschaftssprache Latein Philosophie, Weisheit, die Einheit der Gegensätze Glaube und Vernunft, gelehrt wurde: Der Glaube als Dogma und die Vernunft als ihres philosophischen Sinns beraubte aristotelische Logik. Mit dieser Logik, die später die Grundlage der europäischen Wissenschaft wurde, konnte man jedoch nur noch die Folgerichtigkeit der Darstellung quantitativer Relationen nachweisen, keine Wahrheit des Ganzen. Für Eckhart, der auch in einer Zeit gewaltiger Umbrüche lebte, war die universitäre Philosophie für die Perspektive des Einzelmenschen zu wenig. Deshalb suchte er nach einem zeitgemäßen Verstehen biblischer, griechischer, hebräischer, arabischer, lateinischer Texte und predigte bereits ab 1294 in Erfurt in seiner Muttersprache Mittelhochdeutsch. Eichler zitierte aus einer Weihnachtspredigt Eckharts dessen Zitat aus Salomos Weisheit: „Als alle Dinge mitten im Schweigen waren, da kam in mich von oben hernieder von dem königlichen Stuhle ein verborgenes Wort.“ (Weisheit 18,14 ) Eichler deutet diesen Satz als einen Hinweis, dass für Eckharts praktische und wissenschaftliche Arbeit auch die Meditation notwendig war.

Wir sind es von Eichler ja gewohnt, dass er seinen Lieblingsphilosophen Johann Gottfried Herder (1744–1803) bevorzugt. Aber dieses Mal ging es fast zu weit. Es mag ja sein, dass Herder gegen Immanuel Kants Reduktion von Philosophie auf berechnende Vernunft die Tradition der Weisheit verteidigte, dass Herder gegen Kant ein weite Auffassung von Aufklärung als Emanzipation des Menschengeschlechts verteidigte, dass Herder an der Methode Gottfried Wilhelm Leibnizens anknüpfte, wonach organische, lebende System nur mit einem Gegeneinander von Deduktion und Induktion, vom Ganzen zum Einzelnen und vom Einzelnen zum Ganzen, erfassbar sind. Es mag auch sein, dass Herder bereits 1784 die Erde als ein Lebewesen bezeichnete. Aber dann behauptete Eichler, dass für Herder die Überlieferung nur mit ihrer Anwendung abgeschlossen sei, dass Wissenschaft und Überlieferung kein Selbstzweck sei! Es reiche nicht aus, Details aus Leben und Werk Herders zu wiederholen. Zum Beleg verwies er darauf, dass man, um Herder gerecht zu werden, den Zusammenhang seines Methodensystems aufnehmen und anwenden müsse. Das habe der Mironde-Verlag mit den literarischen Wanderungen durch Mitteldeutschland versucht. Deshalb sei auch neben den beiden Herder-Kapiteln in Bd. 1 und Band 2 ein ständiger Herder-Bezug vorhanden. An dieser Stelle verwies Eichler darauf, dass sich am Montag, dem 18. Dezember, der Todestag Johann Gottfried Herders zum 220. Male jährt. Jetzt verstanden auch wir, warum …

Wir müssen zugeben, dass Eichler Walther Rathenau (1867–1922) auch einige Aufmerksamkeit widmete. Der am 24. Juni 1922 auf offener Straße, auf Betreiben des Reichswehr-Gruppenkommandos München, ermordete deutsche Außenminister war einer der vielseitig gebildetsten Menschen seiner Zeit. Eichler verwies darauf, dass er auch einer der bedeutendsten Philosophen war. In seinem Hauptwerk „Von kommenden Dingen“ habe er die Herdersche Kritik an der Kantschen Reduktion von Philosophie auf berechnende Vernunft weitergeführt. Im Unterschied zu Herder habe Rathenau jedoch darauf verweisen können, dass die Industrie inzwischen eine notwendige Verbindung mit der Vernunft eingegangen sei, das ganze Leben mit der Forderung nach Effizienz durchdringe und alle Menschen auf der Erde mit materieller Gewalt zu einer Art „Maschinerie“ verbinde. Den Prozess nannte Rathenau „Mechanisierung“. Wenn die Menschen, so Rathenau, kein Gegengewicht zu dieser materiellen Gewalt aufbauten, würden sie vom Zwang zur finanziellen Effizienz versklavt. Vom dogmatischen Sozialismus sei keine Hilfe zu erwarten, weil man sich dort auf materielle Forderungen beschränke. Die Kirchen schieden auch aus, weil sie sich auf Wohlfühlglauben zurückgezogen hätten. Von der universitären Philosophie, Rathenau nannte sie „Intellektualphilosophie“, sei nicht nur keine Hilfe zu erwarten, diese beschleunige in ihrer Wirkung sogar den Prozess der Mechanisierung. Eichler betonte, dass Rathenau gegen die materielle Gewalt der Mechanisierung ausschließlich einem geistigen Gegengewicht Chancen einräumte. Gewalt und materielle Ziele verböten sich hier. Es gehe um die Stärkung unserer Seelenkräfte. Hier verwies Eichler auf die Bedeutung der Veröffentlichung deutscher Predigten Meister Eckharts durch den jungen Gustav Landauer (1878–1919) im Jahre 1904. Dem Anschein nach habe sich Rathenau davon anregen lassen. Eichler macht das an dem Ausdruck „schauendes Leben“, einer Metapher Eckharts für Meditation, durch Rathenau im Hauptwerk „Von kommenden Dingen“ fest. In Eichlers Darstellung wurde allerdings der Eindruck erweckt, als ob Meditation für Rathenau ausschließlich ein Erschließen geistiger Kräfte gewesen sei. Das war es sicher auch. Aber gleichzeitig benötigte Rathenau die Meditation, um trotz aller Berechnungen in seinem Hauptwerk „Von kommenden Dingen“, ein Bild vom Ganzen, vom Kosmos, von der Natur, von der Weltwirtschaft entwickeln zu können.

Nach etwa einer Stunde beendete der Referent seinen Bild-Vortrag. Das Publikum war ihm konzentriert gefolgt und es kam eine kleine Diskussion auf.

Dem Verein „ideenfluß e.V.“ und dem Mironde-Verlag ist für die Idee zu danken, mitten im Weihnachts-Konsum-Lärm, an einem Sonnabend-Vormittag, in Café-Haus-Atmosphäre, eine  Veranstaltung zu organisieren, in der auf Stille und Meditation aufmerksam gemacht wurde.

Auf der Heimfahrt, in der Autobahn-Gegenrichtung zwischen der Einmündung der A14 in die A4 und Dresden, ca. 15 km Stau, davon etwa zwei Spuren LKW, denke ich über Rathenau und Meister Eckhart nach. Die Weihnachtspredigt, die Eichler erwähnte, bei Josef Quints „Meister Eckhart. Deutsche Predigten und Traktate“, Carl Hanser-Verlag, München/Wien 1963, mit der Nr. 57 versehen, steht in Gustav Landauers Ausgabe „Meister Eckharts Mystische Schriften“, 2. Auflage, Karl Schnabel-Verlag, Berlin 1920, an erster Stelle. Zuhause ziehe ich das Buch aus dem Regal und beginne zu lesen: „Wir begehen hier in der Zeit das Fest der ewigen Geburt, die Gott der Vater geboren hat und ohne Unterlaß in Ewigkeit gebiert, und feiern, daß diese Geburt jetzt in der Zeit und in der Menschennatur geboren ist.“

Clara Schwarzenwald

Information

Zum Görlitzer Veranstalter: www.ideenfluss.com

Lieferbar sind Band 1 und 2 der Literarischen Wanderungen durch Mitteldeutschland:

https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-den-minnesaengern-bis-herder-sprache-eigensinn1

https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-goethe-bis-rathenau-sprache-eigensinn-2-1

Der Band 3 ist für 2024 ist angekündigt

https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-sprache-und-eigensinn-3-von-landauer-bis-gunderman

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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