Der zweite Sonntag im September ist traditionsgemäß der »Tag des offenen Denkmals«. In diesem Jahr fiel er auf den 8. September, einen heißen Spätsommertag. Unser Weg führte uns zum Schloss Nöthnitz in der Nähe Dresdens. Nach der Abfahrt von der Autobahn in Richtung Prag schlängelte sich der Weg in ein kleines Tal hinunter. Hinter großen, alten Bäumen, umgeben von einem Park, erblickten wir unser Ziel. Als kleines Rittergut war der Herrensitz im 17. Jahrhundert errichtet worden. Mitte des 18. Jahrhunderts gelangte es in den Besitz Heinrich Graf von Bünaus (1697–1762). Dieser hatte an der Universität Leipzig studiert und war dort auch 1716 zum Dr. iur. promoviert worden. Nach dem Studium trat er, wie sein Vater, in den sächsischen Staatsdienst. Bünaus Kritik am Erwerb der polnische Krone, ließen ihn 1732 in »Ungnade« fallen. Er wurde 1733 ins ferne Eisleben versetzt. Doch die astronomischen Summen, die für die Bestechung des polnischen Adels notwendig waren, ruinierten Sachsen. Johann Gottfried Herder bezeichnete das Streben nach der polnischen Krone als größten strategischen Fehler des Kurfürsten. Die historische Aufgabe der Wettiner hätte im Streben nach der Krone des deutschen Kaiserreiches bestanden.
Jan David Horsky, der Eigentümer des Schlosses, führte uns durch das Gebäude und erzählte dessen Geschichte. 1739 heiratete Graf Bünau in dritter Ehe Christiane Elisabeth von Arnim, die auch das Rittergut Nöthnitz mit in die Ehe einbrachte. 1742 erhob Kaiser Karl VII. Bünau zum Reichsgrafen und setzte ihn als kaiserlichen Gesandten ein. 1745 wurde Graf Bünau für seine erworbenen Verdienste für die Reichspolitik die Hofpfalzgrafenwürde verliehen.
Blick in den Saal
Nach dem Tod seiner Eltern zog sich Bünau 1745 kurzzeitig aus der Politik zurück und wählte Nöthnitz als Hauptwohnsitz. Einen Flügel des Herrenhauses ließ er als Bibliothek für seine nunmehr 42.000 Bände ausbauen. Hier empfing Graf Bünau gelehrte Freunde. Hier stellte er den jungen Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) ein, der ihm Buchauszüge für das Großprojekt einer Geschichte des deutschen Reiches bis auf die Ottonen, anfertigte.
In den Bibliotheksräume stießen wir auf ein Gemälde. Frau Werner vom Förderverein machte uns auf die abgebildeten Personen aufmerksam: Graf Bünau (2. v. li.), Gotthold Ephraim Lessing (5. v. li.), Johann Joachim Winckelmann (7. v. li.), Christian Gottlob Heyne (4. v. re/Hintergrund) und der Bibliothekar Johann Michael Francke (6. v. li.). Im Angesicht dieses Bildes wird deutlich: In Nöthnitz verbrachte Bünau dem Anschein nach die vielleicht schönste Zeit seines Lebens.
Hofseite Schloss Nöthnitz
Herr Horsky erzählte uns weiter, dass Bünau bereits 1750 nach Eisenach und Weimar berufen wurde. Einerseits reformierte er die Verwaltungen und die maroden Staatsfinanzen der Herzogtümer Sachsen-Gotha-Altenburg und Sachsen-Weimar. Andererseits war er für die Erziehung des minderjährigen Weimarer Erbprinzen Constantin verantwortlich, der im Januar 1756 als Ernst-August II. Constantin die Regentschaft antrat, und zur Sicherung der Erbfolge bereits im März 1756 in Braunschweig mit der 16jährigen Prinzessin Anna-Amalia verheiratet wurde. Constantin verstarb 1758. Es war Herzogin Anna-Amalia, die 19jährige Witwe Constantins, die Bünau wegen eines Formfehlers 1759 in den Ruhestand versetzte. Bünau zog sich auf das neu erworbene Gut Oßmannstedt in der Nähe Weimars zurück. Im Zuge des Überfalls Preußens auf Sachsen, des sogenannten Siebenjährigen Krieges, ließ der preußische König Friedrich II. Bünau 1761 in der Festung Magdeburg inhaftieren, weil die Beschlagnahmung und Auslieferung von Gütern nicht schnell genug ablief. Obwohl Herzogin Anna Amalia, die Nichte Friedrich II., ein halbes Jahr später seine Freilassung erwirkte, verstarb Reichsgraf Heinrich von Bünau kurz nach seiner Freilassung am 7. April 1762 in Oßmannstedt. Er wurde in der Dorfkirche St. Peter beigesetzt.
Über der fesselnden Geschichte hätten wir fast den Vortrag im Saal des Schlosse verpasst. Dort stellte Andreas Eichler vom Mironde-Verlag gerade die »Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland« vor. Der Vortrag hatte bereits begonnen. Der Referent beendete gerade seine Ausführungen zu Ehrenfried Walther von Tschirnhaus und ging zu Winckelmann über. Dieser sei aus ärmsten Verhältnissen gekommen und habe sich unter schwierigen Bedingungen eine außerordentliche Bildung angeeignet. Die griechische Sprache zum Beispiel auf Empfehlung des Stendaler Gymnasialrektors am Köllnischen Gymnasium in Berlin. Das Schulgeld konnte er durch die Unterrichtung der Kinder des Rektors kompensieren. Das folgende Studium bestand eigentlich nur aus Selbststudium und einzelnen Semestern in Halle und Jena. Der große Hallenser Ästhetiker Baumgarten blieb ihm im Gedächtnis, weil er Kunst ausschließlich aus Büchern lehrte, ohne jegliche Anschauung. Zur Finanzierung seines Studiums musste Winckelmann immer wieder Hauslehrerstellen annehmen. Die Stelle, die er 1748 in der Bibliothek. Heinrich Graf von Bünau, eine der größten Privatbibliotheken Deutschlands, antrat, war für Winckelmann zugleich eine einmalige Studienmöglichkeit. Er arbeitete dem Grafen für sein Großprojekt zu und hatte Gelegenheit zu eigenen Studien.
Dresden und die Skulpturensammlungen waren ein wichtiger Teil des autodidaktischen Studiums Winckelmanns. Im Unterschied zu anderen Vertretern der Aufklärung begriff er den Zusammenhang von sinnlicher Anschauung und Vernunft. Wir nehmen die Wirklichkeit mit dem ganzen Körper, mit allen Sinnen wahr. Verstand/Vernunft/Sprache stellen den inneren Zusammenhang unserer Sinneswahrnehmungen dar. Damit ist die Sinneserfahrung keine »niedere Erkenntnisstufe«, wie es zum Beispiel Herr Professor Kant in Königsberg glaubte. Gleichzeitig erkannte Winckelmann, dass man unbedingt die Skulpturen am originalen Ort sehen muss, um sie beurteilen zu können. Da Griechenland von den Türken besetzt und unerreichbar war, blieb nur Italien und seine Kopien griechischer Skulpturen. Winckelmann konvertierte zum Katholizismus, gab seine Stelle in Nöthnitz 1754 auf, ging nach Rom und wurde dort Oberaufseher der Skulpturensammlung des Vatikan.
In Rom erarbeitete Winckelmann auch sein theoretisches Hauptwerk »Die Geschichte der Kunst des Altertums«. Er schrieb und veröffentlichte es in deutscher Sprache. Das Buch erschien 1764 in Dresden. Aus der Literaturliste, so Eichler, ergäbe sicht kein direkter Hinweis auf Anreger Winckelmanns. Johann Gottfried Herder habe auf die »Poetik« des Aristoteles verwiesen, die in der Liste genannt wurde. Aristoteles machte deutlich, dass die Poesie philosophischer sei als Geschichtschroniken. Dazu passt auch die Hochschätzung Homers und des Epos durch Winckelmann. Zudem habe dieser, so Eichler, in der Art eines Künstlers, die Besonderheit der einzelnen Kunstwerke erkannt. Schönheit habe er als Einheit der Mannigfaltigkeit begriffen, nicht als berechenbarer Durchschnitt, wie dieser Professor Kant in Königsberg.
Die Zuschauer folgten trotz der Tageshitze dem Vortrag
Der Ausgangspunkt Winkelmanns sei der menschlicher Körper gewesen. Die Plastik stellte für ihn die Krönung der Bildenden Kunst dar. Bei der Architektur gehe es um den Körper im Raum und bei der Malerei um die zweidimensionale Darstellung des Körpers. Winckelmann habe das vorweggenommen, was später die Wiener Sezession in einem Manifest ausdrückte.
Durch die Entdeckung der Vergänglichkeit von Kunst und Kultur habe Winckelmann einen ästhetischen Aspekt in die Geschichtsauffassung eingebracht. Die Folge, die mit dem Notwendigen beginnt, sich dann dem Schönen widmet und schließlich beim Überflüssigen endet, charakterisiere die zyklische Entwicklung der Kulturen, ohne dass Winckelmann daraus ein starres »Gesetz« postulierte, wie Oswald Spengler. Eichler verwies darauf, dass Herder an Winckelmanns Geschichtsauffassung anknüpfte. So bezeichnete Herder das Auftreten Roms auf der Bühne der Weltgeschichte als das Auftauchen eines neuen Kontinents aus dem Ozean der Geschichte. Herder fügte hinzu, dass nach Ablauf ihrer Zeit die Hochkultur wieder überflutet wurde. Winckelmann und Herder vertraten eine nichtpolare Vorstellung von Geschichte. Georg Friedrich Wilhelm Hegels Vorstellung von der einen Stufenleiter vom Niederen zum Höheren, die alle Kulturen absolvieren müssten, und der eigenen Gegenwart als Gipfel, als »Ende der Geschichte«, stellte einen Bruch mit der reichen Tradition Winckelmanns und Herders dar. Hier verwies Eichler auf Franz Boas (1858–1942), der an Winckelmann und Herder anknüpfte.
Winckelmann, so Eichler, konnte letztlich auch die griechische Kunst als Höhepunkt, Muster und Maßstab begreifen. Mimesis, Nachahmung war für ihn kein bloßes »Nachmachen«. Herder führte diesen Gedanken später weiter: Es geht um die Anwendung allgemeiner Erfahrungen unter jeweils besonderen Bedingungen. Diese Anwendung ist eine eigenständige Leistung.
Eichler ging auch auf die Bekanntschaft Winckelmanns mit Christian Gottlob Heyne (1729–1812) ein. Dieser war zur Nöthnitzer Zeit Winckelmanns in der Bibliothek des Grafen Brühl beschäftigt und beide tauschten sich aus. Heyne war mit den Jahren in Göttingen zu einer einflussreichen Position gekommen: Dekan der philologischen Fakultät, Sekretär der Akademie, Redakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift, Chef der Universitätsbibliothek und Begründer der universitären Archäologie-Ausbildung in Deutschland. 1777 prämierte die Kasseler Akademie eine Lobschrift Heynes auf Winckelmann. Man hätte eine persönliche Würdigung erwarten können, doch Heyne reflektierte ausschließlich aus seinen wissenschaftsorganisatorischen Erfahrungen heraus. Der Text gipfelte in der Bemerkung, dass der Enthusiasmus Winckelmanns an der Universität keinen Platz habe. Eine zweite Lobschrift auf Winckelmann, die von Herder stammte, wurde von Jury nicht berücksichtigt. Für Herder: war Winckelmann eine Ausnahmeerscheinung, ein »Liebling der Götter«, einer der der Natur Geheimnisse abgelauscht und zum Nutzen der Menschheit angewendet hat, einer der »eigentlichen Menschen«.
Hier kam ich ins Nachdenken und hörte nicht mehr zu. Erst als Eichler auf den Band 3 der Wanderung verwies, der im April 2025 erscheinen soll, wurde ich wieder munter.
Frau Werner dankte dem Referenten im Namen des Fördervereins. Nachdem die meisten Zuschauer den Saal verlassen hatten, fragte ich Andreas Eichler, warum er von »Mitteldeutschland« spreche und nicht von »Ostdeutschland«? Eichler antwortete, weil er sich an die konkreten historischen Umstände halte. Die Stiftung dreier neuer Bistümer durch Otto I., die er für den Fall eines Sieges über ein ungarisches Reiterheer am 10. August 968 gelobt hatte, stellten einen Übergang von West- nach Mitteleuropa dar. Die sächsische Feudalmacht brachte mit ihrer Expansion in Richtung Lausitz, von Nordwest nach Südost, einen Dialektausgleich hervor. Niederdeutsche und oberdeutsche Dialekte trafen mit der slawischen Sprache zusammen. So entstand zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert im Zuge der Expansion die Sprachlandschaft des Mittelhochdeutschen. Diese, so Eichler, sei die Grundlage für die Bezeichnung »Mitteldeutschland«. In den westeuropäischen Teilen Deutschlands verharrten die Funktionseliten dagegen noch lange im Latein. Mit der neuen Sprache entstand zwischen Braunschweig und Görlitz aber auch ein neues Denken und eine Erneuerungsmentalität. Folgerichtig entstanden nahezu alle Erneuerungsbewegungen der deutschen Geschichte in dieser Region. Dagegen sei unerheblich, dass der Markgrafschaft Meißen 1423 mit der Kurwürde auch die Bezeichnung »Sachsen« verliehen, zunächst als »Obersachsen« und das eigentliche Sachsen dann als »Niedersachsen« bezeichnet wurden. Die ethnische oder die dynastische Entwicklung habe hier keine Bedeutung. Der Begriff »Mitteldeutschland« werde als die Sprachlandschaft bestimmt, in der das »Mittelhochdeutsche« entstand.
Auf der Heimfahrt ging uns noch einmal der Nachmittag durch den Kopf. Wir hatten Herrn Horsky und die Mitglieder des Fördervereins kennengelernt und miterlebt, wie diese unablässig Führungen durch das Gebäude unternahmen und die Besucher mit den historischen Zusammenhängen vertraut machten.
Dem Anschein nach haben wir es mit einer interessanten Konstellation zu tun. Ein privater Eigentümer trägt die Investitionen und die Verantwortung für den sachgerechten Erhalt und die Restaurierung des Gebäudes. Gleichzeitig schafft er die Voraussetzung, dass der Förderverein und ein Parkverein das geistige Leben, das einst in diesem Gebäude existierte, wieder erwecken.
Allen Aktiven ist zu danken, denn mit Reichsgraf Heinrich von Bünau und Johann Joachim Winckelmann werden zwei herausragende Personen in Er-Innerung gebracht, deren Bedeutung weit über Dresden und Sachsen hinausreicht.
Johannes Eichenthal
Information
Förderverein Schloss Nöthnitz
www.freunde-schloss-noethnitz.de
Die Bände 1 und 2 der Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland sind im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich:
Band 1. Von den Minnesängern bis Herder: https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-den-minnesaengern-bis-herder-sprache-eigensinn1
Band 2. Von Goethe bis Rathenau: https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-goethe-bis-rathenau-sprache-eigensinn-2-1
Der Band 3. Von Thomas Mann bis Gundermann ist für April 2025 angekündigt
Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.