Reportagen

Der Streit der Humanisten

Am frühen Morgen des 26. August begegneten wir in Weimar Dauerläuferinnen und Arbeitern der Stadtwirtschaft, die den Müll der Touristen beseitigten. Auch Goethes Haus schlief noch still in der Morgensonne. Dagegen herrschte im Schiller-Museum schon geschäftiges Treiben. Zwei Assistenten werkelten im Vortragssaal. Um 9.00 Uhr sollte hier eine Tagung beginnen: »Humanismus: ein offenes System.« Die beiden Tagungsleiter Prof. Dr. Hubert Cancik und Dr. Helmut Hühn hatten im Einladungstext geschrieben: Humanismus ist keine Religion und auch keine Philosophie. … Die spezifische Systemform des Humanismus ist die offene Form, die unfertige Weltanschauung.«

Warum will man hier die Idee des Humanismus mit einem »System« zusammenbringen?

Die Tagung war bereits am Vorabend mit einem Vortrag von Prof. Dr. Enno Rudolph mit dem Thema »Humanismus, ein unvollendetes Projekt der Moderne« eröffnet worden. Am Sonntagmorgen füllte sich der Vortragssaal nun langsam. Dr. Helmut Hühn begrüßte um 9.00 Uhr die erschienen Gäste und hob hervor, dass die Tagung bewusst am 25. August, dem Geburtstag Johann Gottfried Herders, und dem 28. August, dem Geburtstag Johann Wolfgang Goethes veranstaltet wird.

Unsere Erwartungen wuchsen nach diesen Äußerungen bis in den Himmel.

Prof. Dr. Hubert Cancik begründete darauf die Tagungsthematik mit der Notwendigkeit, die Tradition des Humanismus lebendig zu erhalten. Nach Auschwitz und in der digitalen Revolution müsse man reagieren. Ärzte, Juristen und Menschenrechtsaktivisten warteten auf den Rat der Philosophen.

Wenn er nach dem Humanismus als einem offenen System frage, dann meine er das »Verhältnis von Einheit und Vielheit«. »System« sei hier nur »heuristisch« zu verstehen, nicht als ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes. Er zitierte in diesem Zusammenhang ausgerechnet Johann Heinrich Lambert (1728–1777), einen Mathematiker und Systemwissenschaftler.

In seinem anschließenden Vortrag ging der Altphilologe Hubert Cancik ausführlich auf Cicero und dessen Begründung von Humanität als Lebenspraxis ein. Den wahren Adel habe Cicero durch Leistung und Tugend begründet gesehen, er arbeitete als Anwalt, Beamter, Consul, selbst als Imperator. Dennoch leistete er sich ab und an eine Symbiose mit griechischen Gelehrten auf seinem Landgut.

Man konnte hier ahnen, dass der Referent von Cicero tief beeindruckt ist.

Über die Humanisten des 15. bis 17. Jahrhunderts kam Cancik zu Johann Gottfried Herders 27. Brief zur Beförderung der Humanität.

Nach einigen Interpretationsfragen formulierte der Referent hier eine zentrale Frage: Gibt es einen Kanon der Literatur des »modernen westlichen Humanismus« von 1800 bis in unsere Gegenwart?

Abschließend begründete der Referent noch einmal seine Themenwahl mit der Feststellung, dass sich Fortschritt nicht automatisch mit Menschlichkeit verbinde.

Fragen über Fragen. Der Referent vermochte keine Antworten zu liefern.

Am Ende des Vortrages richteten einige Zuhörer weitere Fragen an den Referenten.

Prof. Dr. Jörn Rüsen meinte, dass man den Kontext von Ciceros Humanismus-Ansatz stärker beachten müsse, den Zerfall der Republik. Damit sei Ciceros Werke als eine einzige gigantische Kompensation verstehbar …

Hubert Cancik entgegnete, dass für Ciceros Werk wohl eher das Bewusstsein des Kulturbruchs ausschlaggebend gewesen sei. Das Gefühl der Minderwertigkeit der römischen Kultur gegenüber der griechischen habe dazu geführt, dass Cicero seine Mitbürger erziehen und bilden wollte.

Ein Zuhörer wollte wissen, ob Humboldts Ideal der allseitigen Bildung auch zum Humanismus gehöre.

Hubert Cancik antwortet, dass sich bei Cicero das Gute auf Ehrbarkeit beziehe, in der griechischen Tradition, auf die sich Humboldt bezog, werde das Gute auf das Schöne bezogen.

Als Fazit des ohne Zweifel anregenden Vortrags müssen wir feststellen, dass die Verbindung der Idee des Humanismus mit »System« nicht begründet werden konnte.

Auch passt ein »offenes System« nicht mit einem immer wieder angeführten »Kanon« zusammen. Wir können vielleicht festhalten, dass der Referent die Tradition des Humanismus erneuern möchte.

Wenn das aber so ist, dann hätte er nach dem Verhältnis von Erbe und Tradition fragen müssen.

Als nächster Redner trat der Historiker Prof. Dr. Jörn Rüsen auf. Sein Thema lautete: »Was ist der Mensch? Die Antwort des Humanismus.« Um die verschiedenen Bedeutungen von Humanismus im lebendigen historischen Prozess erfassen und darstellen zu können, formulierte der Referent verschiedene »idealtypische« Zugänge (»Idealtypus« war die abschwächende Deutung des genetischen Begriffs durch Max Weber).

Der Philosophie des 20. Jahrhunderts erteilte Prof. Rüsen in einem Rundumschlag eine Abfuhr. Auch das Welt-Ethos-Projekt von Hans Küng wurde sehr undifferenziert abgefertigt. Für die Begründung des »modernen westlichen Humanismus« begnügte sich der Referent mit dem »Kantischen Universalismus«.

Johann Gottfried Herder kam, gemeinsam mit Wilhelm von Humboldt, nur unter dem Aspekt »Bildung und Erziehung« vor.

Aber wir wollen dankbar sein, dass er Herder überhaupt erwähnte. Als Rüsen Herders Geschichtsphilosophie nennen wollte, verwechselte er den Titel, nannte nicht die »Ideen«, sondern »Auch eine Philosophie zur Geschichte der Bildung der Menschheit. Ein Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts.«. War es nur ein Wortdreher? Eher nicht, denn er fügte an, dass Herder hier nur auf 10 von 400 Seiten den historischen Prozess in seiner brutalen Wirklichkeit gezeigt habe.

Im Fazit macht Rüsen noch einmal deutlich, dass es ihm beim Humanismus um ein »inklusives Menschheitskonzept« geht. (In der Diskussion wird er deutlich machen, dass es ihm um die Möglichkeit der Übereinkunft mit anderen Kulturen, um die Diskutierbarkeit der »kulturellen Differenz« geht. Bislang käme die westliche Sicht der kulturellen Dominanz immer nur als Echo, als Dominanzanspruch der anderen Kulturen zurück.)

Eine Herder-Lektüre hätte dem Referenten nicht geschadet. Die »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« haben, je nach Ausgabe, 800–900 Seiten. Herders Menschheitsgeschichte beginnt mit dem Himmel: »Unsere Erde ist ein Stern unter Sternen.« Die Ursachen der Entstehung der Menschheit liegen nicht in ihr selbst. Erde und Menschheit entstammen einem Allgemeinem. Herder stellt hier deduktiv den Naturprozess dar, die Naturalisierung des Menschen. Induktiv stellt er dagegen die Vermenschlichung der Natur, die Genesis der menschlichen Kultur dar.

»Humanität« wird von Herder auf der höchsten Ebene, auf ontologischer Ebene, mit »Menschheitskultur« gleich gesetzt. Im Unterschied zu späteren »Kulturhistorikern«, klammert er das Unmenschliche nicht aus. Herder stellt den historischen Prozess als Aufblühen und Verblühen von Hochkulturen dar. Von Herder stammt auch das Bild vom »Auftauchen« der Hochkultur aus dem Ozean der Geschichte, welches Wilhelm Dilthey und Hans Freyer übernahmen.

Herder verlangt vom Historiker »Unparteilichkeit«. Die »Kolonisierung« der Völker Afrikas, Asiens und Amerikas durch die Europäer rechtfertigt er, im Unterschied zu vielen Zeitgenossen, nicht, etwa mit Verweisen auf den »Historischen Fortschritt«. Herder sprach von »toleranter Unterjochung«.

Im Unterschied zu Kant, der aufgrund seiner Methodologie nur generalisieren kann (So wie sich Kant verhält, so ist es allgemeines Gesetz!), zielt Herders Methode auf das Besondere. Eine künftige Menschheitskultur, so Herder, müsse die Besonderheit jedes kleinen Volkes zu bewahren vermögen.

Die heute umfassendste Kommentierung der »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« liegt in der Herder-Werkausgabe vor, die Wolfgang Proß herausgab. Dort sind neben einem 200 Seiten Nachwort 1000 Seiten Kommentar und Quellentexte angefügt.

Allerdings übersah selbst Wolfgang Proß die wichtigste Stelle zu Herders Methode des Gegeneinander von Deduktion und Induktion: Vom Allgemeinen zum Besonderen und gleichzeitig vom Besonderen zum Allgemeinen.

Einflussreiche Philosophen werfen Herder bis heute vor, dass er kein »abgeschlossenes System« hatte.

Die Methode Herders selbst ähnelt jedoch dem umfassenden Verständnis des Differenzierens von Leibniz, der Darstellung Spinozas in der »Ethik«, Hegels »Logik« und Marxens »Kapital«. Allerdings benötigt Herder letztlich mehr als 900 Seien, das Projekt blieb unvollendet, um genetisch zu definieren, was Humanität ist.

Aber Herder konstruiert keine »Logik der Geschichte«, wie etwa Hegel. Herder betont ständig die Notwendigkeit der konkreten Analyse von Ort, Zeit und Umständen.

Man kann also auch großen Historikern die Herder-Lektüre nur empfehlen.

Der nächste Referent war Prof. Dr. Temilo van Zantwijk mit der Thematik: »Ist die idealistisches Systemphilosophie humanistisch?« Dem Laien verging bei diesem furiosen Vortrag »Hören und Sehen«. Von Hegel über Spinoza, zu Schelling, Ernst Cassierer, ging es wieder zu Hegel und letztlich zu Leibniz und einem Zitat aus dem Film »Das Leben des Bryan«: »Ihr seid doch alle Individuen!«

Allein Schelling wurde vom Referenten eine humanistische Überhöhung der Systemphilosophie bescheinigt.

Das wollte Prof. Dr. Enno Rudolph nicht unhinterfragt lassen. Er insistierte, eine Frage an den Referenten war es nicht wirklich, auf die Beachtung von Leibniz.

Van Zantwijk verwies auf das Übersteigen der begrifflichen Dimension bei Schelling.

Rudolph verwies mit Recht darauf, dass bei Schelling außer einer »Philosophie der Offenbarung« nichts herausgekommen sei. Beide waren sich einig, dass »Schöpfung« nicht Sache der Philosophie sei.

Doch hätten sich beide in Leibniz treffen können. Herder hob mehrfach hervor, dass Leibniz schrieb, unsere Erkenntnis sei weder rein theoretisch, noch rein sinnlich, sondern symbolischer Natur.

In diesem Disput wurde deutlich, dass die Philosophie mit Vernunft gleich gesetzt wird.

Dieses Verfahren kann sich auf Kant berufen. Doch es reicht nicht hin. Über Jahrhunderte verstand man in allen Kulturen Philosophie als Weisheit, die Vernunft und Glauben übersteigt. Glaube und Vernunft unterscheiden sich. Die Verbindung von Glauben und Vernunft erfolgte über symbolisches Denken. Kant schätzte außereuropäische Kulturen gering, weil sie nicht die Regeln der formalen Logik kannten, sondern nur in Symbolen dächten, also gar nicht Denken könnten. Dieses Vorurteil setzte sich in der europäischen Aufklärung lange fort.

Für Herder stützt sich die Genesis der Humanität auf zwei Säulen: die Vernunft und den Glauben. Vernunft ist für ihn im Kern Skepsis, die Fähigkeit aus unseren Fehlern zu lernen. Glaube ist für ihn im Kern Hoffnung, die Fähigkeit in einer Welt ohne Sinn einen Sinn zu stiften. Philosophie, Weisheit ist für Herder, wenn gleichzeitig Skepsis und Hoffnung unser Denken durchdringen.

Herder schätzt die Vernunft. Sie genügt ihm jedoch nicht. Mit Vernunft kann man keinen Sinn stiften. Wenn man das dennoch versucht, dann wird es nur Ideologie.

Als nächster Redner trat Dr. Helmut Hühn ans Pult. Sein Thema war »‹Muse der Humanität› (Herder) und ‹Engel der Geschichte› (Walter Benjamin): Konstellationen.«

Hühn betonte zunächst, dass zwei Darstellungsformen des Humanismus, den Titelkupferstich von Herders Briefen zur Beförderung der Humanität« und das Paul-Klee-Bild »Angelus Novus« vergleich wollte, welches Walter Benjamin 1921 erwarb, und welches in Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte eine Rolle spielte.

Es gehe ihm um die Perspektiven und die Geschichtlichkeit des Humanismus. Dabei wolle er sich nicht auf die Begründungsebene, sondern auf die Ebene der symbolischen Ebene des Humanismus begeben.

In der Folge breitete der Redner kleinste Details der Entstehung von Herders Titelkupferstich aus. Er legte die Vermutung nahe, dass in der Darstellung der Klio, als zehnter Muse, ein Akt der Einheit von Kunst, Philosophie und Geschichte zu sehen sei. Er zitiert mehrere Passagen Herderscher Briefe an Zeitgenossen, um seien These zu belegen. Herder habe Geschichte als Gattungsgeschichte gesehen und Humanität mit Kunst gleichgesetzt. Die Natur des Menschen sei Kunst.

Hühn sah hier bei Herder ein Konzept der geschichtlichen Poisis, an das die Frühromantiker anknüpften.

Auf das Herdersche Werk, auch auf die Briefe zur Beförderung der Humanität«, ging der Referent inhaltlich nicht näher ein.

Ähnlich verfuhr der Referent mit Paul Klees Gemälde Angelus Novus. Im Unterschied zur Herderschen Muse blicke der Engel der Geschichte aber auf eine Kette von Katastrophen zurück.

Nach dem Vortrag verwies ein Zuhörer darauf, dass der Engel der Geschichte bei Walter Benjamin auch als »Antichrist« zu sehen sei. Der Pessimismus Benjamins habe sich gegen den Optimismus der IG Farben gerichtet.

Helmut Hühn antwortet, dass für Herder die Muse an dem Punkt, wo er nicht mehr wusste wie es weitergehe (Hühn meinte die Situation der Französischen Revolution 1792) auch ein Engel gewesen sei.

Günter Arnold verwies in seinem Statement zunächst auf die Edition der »Briefe zur Beförderung der Humanität«, die 1971 von Heinz Stolpe vorgelegt wurde. Die entsprechenden Kommentare Stolpe seien wichtig. Grundsätzlich hob Arnold hervor, dass man die Bedeutung der Illustratoren für Herders Werk nicht überschätzen dürfe. Man müsse die Briefe mindestens in den Kontext der »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit«, der Christlichen Schriften und dem Zeitschriftenprojekt »Adrastea« einordnen.

Die Briefe endeten mit der Feststellung, dass das Christentum die revolutionäre Form des Humanismus sei. Die »Briefe« seien auch gleichzeitig mit den christlichen Schriften erschienen. Gattungsgeschichtlich hebe Herder hervor, dass der Mensch göttlicher Herkunft sei, jedoch als Tier geboren werde. Letztlich sei Herder Leibnizianer. Die Monade sei für ihn auch das kleinste Teilchen der Seele, die nach unserem Tod nicht »sterbe«, sondern in anderer »Zusammensetzung« weiter lebe.

In frühen Briefen an Lavater habe Herder betont, dass man seine Hoffnung nicht auf den »Himmel« vertrösten könne, sondern auf Erden human tätig sein müsse.

Helmut Hühn antwortet, dass er zustimme. Das Christentum werde bei Herder nicht über die Geschichte gestellt, sondern in die Geschichte. Christus sei bei ihm nicht der Weltenrichter. Es gäbe zwei Begründungsformen, die antike und die christliche. Mitunter gerieten beide in Widerspruch.

Hubert Cancik ging auf die Interpretation einiger Symbole im Kupferstich zu Herders Briefen über die Beförderung der Humanität ein. Er fügte an, dass der Angelus Novus in seinen Augen keine Füße, sondern Klauen und ein Löwengesicht habe. Dies deute eher in Richtung Apokalypse.

Helmut Hühn widersprach in Details des Titelkuperstiches.

Jörn Rüsen fügte einige weitere Details zur Interpretation des Kupferstiches an.

Bei Benjamin sehe er nur einen schwachen jüdischen Messianismus, der seine politische Wirkung verloren habe.

Wenn Humanismus einen Sinn haben solle, dann passe der Engel nicht ins Konzept.

Helmut Hühn antwortete, dass er einen Spannungsbezug darstellen wolle und dass die Herdersche zehnte Muse die moderne Muse sei.

Wir mussten leider an dieser Stelle den Heimweg antreten. Am Abend sollte Volker Braun lesen. Die Tagung war auch für den 27. August vorgesehen und sollte am Vorabend des Goethe-Geburtstages beendet werden.

Kommentar

Man muss den Organisatoren dieser Marathon-Veranstaltung danken. Sie griffen eine existenzielle Thematik auf. Der Ort und die Zeit stimmten. Vielleicht wurden die Erwartungen zu hoch gespannt? Zumal im Programm sogar noch von der Schaffung einer künftigen »Humanistik«, also einer akademischen Disziplin, die Rede war.

Zunächst hätte man vielleicht die Diskursschichten ausgraben müssen, Archäologie betreiben, wie es Herder um 1770 in seinen Kommentaren zum Alten Testament nannte.

Der Unterschied zwischen Humanität und Humanismus ist sicher von Bedeutung.

Warum ein System? Um für die Lehre tauglich zu sein?

Wie passt die Proklamation eines »offenen Systems« mit dem immer wieder beschworenen »Kanon« zusammen?

Erbe und Tradition. Ist nicht Erbe alles, was uns frühere Generationen hinterlassen? Müssen wir nicht bisherige Tradition in Frage stellen, in Zeiten, in denen alles fragwürdig wird, um das Erbe neu zu erschließen und eine neue Tradition zu formulieren?

Warum tut man sich in Deutschland so schwer mit dem Erneuern? Warum beharrt man auf einem Kanon?

Für Herder war klar, dass wir unser Erbe nur bewahren können, wenn wir es erneuern, dass aber die Erneuerung sehr vorsichtig, bewahrend geschehen muss.

Herder behandelte in seinen »Ideen« die »Humanität« auf der Ebene von Kultur, des Prozesses der Naturalisierung des Menschen und der Vermenschlichung der Natur.

Herder vermochte aufgrund seiner theoretischen Position die europäische Idee des Humanismus als einen die Differenz wahrenden Humanismus zu formulieren.

Herders Philosophie, die letztlich in eine Auseinandersetzung mit seinem einstigen Lehrer Kant gipfelte, wird bis heute von den Philosophen kaum anerkannt.

Von Kant her rührt die Beschränkung der Aufklärung auf ein Abstrakt-Allgemeines. Diese Position gipfelte in den 1990er Jahren in der Auffassung, die westliche Kultur sei die Universalkultur, sie verkörpere praktisch das Allgemeine. Den nichtwestlichen Kulturen wurde nur eine nachholden Entwicklung zugebilligt.

Diese Position war politisch verhängnisvoll. Was konnte man von den anderen Kulturen im Disput erwarten. Jörn Rüsen verwies auf das »Echo«, die Umkehrung der europäischen Argumentation bei den Intellektuellen der anderen Kulturen. Damit war aber nichts erreicht.

Die Position der Universalkultur war auch theoretisch verhängnisvoll. In jeder Kultur gibt es auch allgemeine Züge, aber die Kultur im Allgemeinen, die kann es nicht geben.

Die westliche Kultur ist also etwas Besonderes, Einmaliges, wie alle anderen Kulturen der Menschheit auch.

Die Position der Universalkultur rechtfertigte ungewollt die heutige Praxis der »Globalisierung«, die wie Jean Baudrillard mehrfach betonte, keine wirkliche Globalisierung ist, sondern lediglich der Versuch der Vereinheitlichung von Produkten und Konsumenten.

Die Spannungen in der heutigen Welt haben den Grund, dass wir einerseits alle in wachsender Vergesellschaftung leben, und dass gleichzeitig damit neue Möglichkeiten der Individualisierung entstehen. Was heute fehlt, sind zeitgemäße Formen, in denn sich diese Gegensätze weiter bewegen können.

Die europäische Idee des Humanismus könnte eine Grundlage zur Verständigung werden, wenn sie von einer abstrakten Fassung zu einem die Differenz wahrenden Humanismus nach Herderschem Vorbild weitergeführt würde.

Dann wäre sie auch ein »inklusives Konzept«, wie es Jörn Rüsen nannte.

Dann wäre auch ein »Wettstreit der Kulturen« möglich, in dem es darum geht, wer seine Besonderheit am besten zum Wohle der Menschheit einbringen kann.

Für diesen Ansatz steht das kleine thüringische Städtchen Weimar. Allerdings ist es 200 Jahre her, dass hier Weltgeschichte geschrieben wurde. Die Tagung war ein Zeichen der Hoffnung, dass die Tradition belebt werden könnte.

Johannes Eichenthal

One thought on “Der Streit der Humanisten

  1. Lieber, sehr verehrter Herr Prof. Eichenthal,
    es ist höchst verdienstvoll, dass Sie Ihren Freunden und Lesern mit Ihren „LitteratA´s“ ein Fenster öffnen,
    mit dem Sie aus eigener Weltsicht zur Horizonterweiterung, zur Erbauung, bisweilen auch zum Erquicken
    auf schönste Weise beitragen.
    Der in Weimar entfesselte und von Ihnen dargestellte „Humanisten-Streit“ stimmt grundsätzlich froh, und ich darf mich für Ihren Bericht, wie für Ihren Kommentar dafür sehr, sehr herzlich bedanken.
    Ich gestehe, es bedarf einiger Mühe und Konzentration all die redlichen philosophischen Bemühungen um
    Wahrheit zu bündeln, so zu fassen, dass für uns, die wir uns, und ich bitte in aller Bescheidenheit, als Mitgestalter unserer Zeit verstehen, der „rationale Kern“, das Brauchbare, was auf Veränderung im Sinne der Veredlung zielt, klar hervortritt.
    Mit fallen da die genialen Worte Schillers im „Wallenstein“ ( Wallensteins Lager) ein, die ich nicht selten von meinen Schülern rezitieren lasse:
    „Die neue Ära, die der Kunst Thaliens
    Auf dieser Bühne heut beginnt, macht auch
    Den Dichter kühn, die alte Bahn verlassend,
    Euch aus des Bürgerlebens engem Kreis
    Auf einen höhern Schauplatz zu veretzen,
    Nicht unwert des erhabenen Moments
    Der zeit, in dem wir streben uns bewegen.
    Denn nur der große Gegenstand vermag
    Den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen,
    Im engen Kreis verengert sich der Sinn,
    Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.

    Und jetzt, an des Jahrhunderts ernstem Ende,
    Wo selbst die Wirklichkeit zur Dichtung wird,
    Wor wir im Kampf gewaltiger naturen
    Um ein bedeutend Ziel vor Augen sehn,
    Und um der Menschheit große Gegenstände,
    Um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen,
    Jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne
    Auch höhern Flug versuchen, ja sie muß,
    Soll nicht des lebens Bühne sie beschämen.

    Das, lieber Freund, hat der große Dichter vor über zweihundert Jahren gefordert.
    Es ging ihm zweifelsfrei um Menschheitsideale, die in seiner „Ode“ gipfeln.
    Humanismus, um den es im Weimarer Symposion ging, ist dabei für mein Dafürhalten eine zentrale Frage. „Man sagt: zwischen entgegengesetzten Meinung liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs!
    Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige Leben in Ruhe gedacht“, sagt Goethe
    in „Über Naturwissenschaft im Allgemeinen“. Dieser Fragestellung hat die Wissenschaften in der Ent-wicklung der Menschheit weit voran gebracht. Die Menschheit aber ist heute zerissener als je zuvor!
    Was bedarf es also? Es bedarf der einigenden Idee, es bedarf jener Essenz, die dem Leben der Mensch-
    heit das Überleben sichert und klarstellt, was dazu ein jeder Mensch zu leisten hat. Das „Humanum“
    ist dabei unter Voraussetzung der Akzeptanz der Vielheit, wie dem Reichtum der Kulturen, das einigende
    Band. Sophokles hat doch nicht zufällig seine Antigone aussprechen lassen, was so viele Menschen mit
    heißem Herzen ersehnen: „Nicht zu hassen, nur zu lieben bin ich da!“
    Verallgemeinere ich diese Maxime, dann geht es um Werte. Konfuzius, und er starb, als Sophokles geboren wurde, sah als die zentrale Frage seiner Lehre an, durch Achtung vor anderen Menschen eine menschliche
    Ordnung zu begründen. Das ist Toleranz, auch die Meinung eines Andersdenkenden gelten zu lassen.
    „Aufklärung“ ist deshalb angesagt, „Werte-Diskussion“ unerläßlich!
    Die Fokussierung des Denkens auf das „Geld“, besser das nicht vorhandene Geld, die „Krise“ (Zusammen-bruch), ist nicht nur einseitig, engstirnig, sondern destruktiv. Diese Debatte gipfelt in diesen Tagen in der
    Vorhersage, dass den heute noch jungen Menschen in 25 Jahren Altersarmut droht.
    Ist das die Perspektive?
    Ist der Sinn unseres Daseins kein anderer, besteht er nicht im humanistischen Ideal, eine sittliche, allum-fassende Denkungsart und damit Lebensweise zu begründen, die die Würde des Menschen in den Mittel-
    punkt rückt?
    Verzeihen Sie bitte, lieber Herr Prof. Eichenthal, dass ich zu lang, vielleicht auch zu breit gesprochen habe,
    aber Begeisterungsfähigkeit sollte man nicht bremsen, manchmal muß man eben drei Worte mehr sagen,
    zumal es doch um große Gegenstädne geht.

    Mit den besten Grüßen und allen guten Wünschen

    Ihr

    Siegfried Arlt

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