Stadtbibliothek Annaberg-Buchhoölz
Reportagen

ANNABERGER BIBLIOTHEKEN

Der 26. September war ein verregneter, kühler Herbsttag. In der erzgebirgische Bergstadt  Annaberg-Buchholz findet im Erzgebirgsmuseum nahe der St.-Annen-Kirche noch bis zum 2. November eine Sonderausstellung über den Bestand der Kirchenbibliothek statt. Für den Abend lud die Stadtbibliothek zu einer Buchvorstellung der „Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland“ des Mironde-Verlags ein.

Stadtbibliothek Annaberg-Buchhoölz

Im Erzgebirgsmuseum nahmen wir an einer Führung durch eine Ausstellung ausgewählter Bücher aus dem Bestand der historischen Kirchenbibliothek teil. Bastian Guthke (li.) vom Erzgebirgsmuseum brachte uns zahlreiche Details und Zusammenhänge nahe. Mit etwa 3500 Büchern und Handschriften ist es eine der größten Kirchenbibliotheken Sachsens. Im Unterschied zu anderen Sammlungen blieben die vorreformatorischen Bücher auch nach der Reformation im Bestand. Es ist faktisch eine „ökumenische Bibliothek“. Auch  der Bestand des ehemaligen Franziskaner-Klosters und der der ehemaligen Lateinschule wurde integriert. Griechische und römische Klassiker waren genau so vertreten, wie theologische Lehrbücher. Das Bürgertum der erst 1496 gegründeten „neuen Stadt bei dem Schreckenberg“ (1499 St. Annaberg) war im frühkapitalistischen Geschäftsleben erfolgreich. Auch finanzstarke Investoren (Fa. Fugger u.a.) traten in Bergbau und Verhüttung in Aktion. Der Wettbewerb war sicher kein Kinderspiel. Dennoch legte das damalige Bürgertum Wert darauf, sich eine klassisch-humanistische Bildung anzueignen. Es bestand ein öffentliches Interesse an der Bibliothek. Deshalb waren auch Schenkungen von Privaten an die Bibliothek keine Seltenheit. 

Bei der Digitalisierung des Bibliotheksbestandes an der Universität Leipzig entdeckte man 2022/2023 in Papieren, die als Einband benutzt wurden, Fragmente älterer Schriften. Herausgehoben wird ein Fragment eines sogenannten „Predigtspiegels“. Neben lateinischen fand man auch einen deutschen Text. Die Entstehung des deutschen Textes wird auf „um 1200“ datiert. Als Ursprungsort wird mit Hinweis auf die verwendete Sprache der „ostmitteldeutsche Raum“ angegeben. Leider wird weder geklärt, ob es sich um einen oberdeutschen oder niederdeutschen Dialekt handelt, noch die Frage beantwortet, ob er in althochdeutscher oder mittelhochdeutscher Sprache verfasst wurde. Die Beantwortung dieser Fragen ist Voraussetzung, um den Fund in die Sprach- und Literaturgeschichte einordnen zu können. Ausstellung und Museum sind sehenswert. Das Museum verfügt auch über ein kleines Besucherbergwerk. 

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Weil wir uns nach dem Verlassen des Museum mit dem Annaberger Nachwächter verplauderte, mussten wir uns sputen, um noch rechtzeitig in die Stadtbibliothek zu kommen. Bibliotheksleiterin Sindy Hänel begrüßte bei unserem Eintreten gerade die Gäste und den Mironde-Verlag, der an diesem Abend seine dreibändige Reihe „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland“ vorstellte. Andreas Eichler skizzierte die Lage im Umgang mit Büchern: Vor einigen Jahrzehnten sei die Ide entstanden, dass man Allgemeinbildung einsparen und durch Spezialwissen ersetzen könnte. Mit der Einführung von „Künstlicher Intelligenz“ (KI) sei die Idee entstanden, dass man auf die Aneignung der Kulturtechnik Lesen und Schreiben, auf Berufsabschluss und Studium verzichten könne. Statt dessen solle Wissen „per Knopfdruck“ erworben werden. Die Folgewirkungen dieser Idee sind bereits offensichtlich: dramatisches Sinken von Grundkenntnissen in Lesen, Schreiben, Rechnen, des Bildungs- und Wissensniveaus, des Intelligenz-Quotienten, der Abschlüsse in Ingenieurausbildung usw. Es ist absehbar, dass, wenn der Trend fortgesetzt wird, Aufgaben der Daseinsfürsorge nicht mehr erfüllt werden können

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Hier stellte Eichler die Frage:  Was ist eigentlich menschlich an Intelligenz? Seine Antwort lautete: Zum Menschen wird der Mensch mit der bezeichnenden Sprache, mit der SprachVernunft (Logos). Damit fassen wir alle Sinneswahrnehmungen zusammen, können Sinneseindrücke festhalten und wieder aufrufen. Die Sprache ist das verbindende Medium in unserer Seele. Sprache ist Kommunikationsmittel, Analyseinstanz und zentrale Handlungssteuerung. Wir unterscheiden uns in der bezeichnenden Sprache von Tieren und Maschinen. Die bezeichnende Sprache ist das Wesen unserer Intelligenz. Darin unterscheiden wir uns von Tieren und Maschinen.

Denken reicht für die Menschwerdung nicht aus. Denken können Tiere und Maschinen auch. Im Zusammenwirkung mit Instinkten können Tiere sogar schneller denken und elektrische Maschinen können schneller rechnen als Menschen. Aber weder Tiere noch Maschinen verfügen über die bezeichnende Sprache. 

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Im Unterschied zu allen anderen Tieren, so Eichler, werden Menschen nur mit Anlagen geboren und müssen sich die Fähigkeit der bezeichnenden Sprache erst aneignen. Die Aneignung erfolgt über mündliche und schriftliche Erzählung, durch Nachahmung und Übung. Dabei ergänzen sich Mündlichkeit und Verschriftlichung. Die Schriftlichkeit hat viele Vorteile beim Erwerb des Menschheitswissens. Ein Nachteil besteht in der Erstarrung der Sprache. Mit der Digitalisierung wird diese Konstellation noch einmal potenziert. Die mündliche Erzählfähigkeit ist die Grundlage der Verschriftlichung. Auf die Mündlichkeit muss immer wieder zurückgekommen werden, um eine Erstarrung der Sprache zu vermeiden. Bücher bieten die Möglichkeit des individuellen Zugangs zum Weltwissen. Bis heute ist die Zuverlässigkeit des Mediums Buch nicht übertroffen. 

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Berggaststätte Neues Haus in Oberwiesenthal. Hier trat Anton Günther oft auf.

Das musste man erst einmal verdauen. Als ich wieder aufnahmefähig war, ging Eichler bereits auf Anton Günther ein, den er als großen Mundarterzähler darstellte. Günther habe ganze Gaststätten unterhalten können. Das Erzählen von Geschichten sei damals bei Treffen von Bekannten und Unbekannten üblich gewesen. Günther, der in Buchholz eine Lehre als Lithograph in der Druckerei Schmidt absolvierte, sei auf der böhmischen Seite des Erzgebirges aufgewachsen, in einer Zeit, als die Erzgebirgsregion noch eine zusammenhängende Region war. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Erzgebirge durch eine Grenze geteilt. Mit der Montanregion Erzgebirge/ Krušnohoří wurde erstmals wieder die Zusammengehörigkeit der Erzgebirgsregion bestärkt (Michael Schuster). Aber schon ging es weiter.

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Hintereingang des Kinos Gloria-Palast. Hier lebte Carlfriedrich Claus in einer Souterrain-Wohnung.

Von den vielen Namen blieb mir noch der in Annaberg-Buchholz geborene Carlfriedrich Claus in Erinnerung. Er ist einer der wenigen Künstler der Region mit internationaler Bekanntheit, die er durch sein grafisches Werk erlangte. Claus entwickelte Schrift zu grafischen Formen. Dabei handelt es sich immer um sinnvolle und lesbare Texte. Der Autodidakt erschien wie ein Komet am Künstlerhimmel. Doch Eichler, der am Beispiel der Grafikmappe-Aurora argumentierte, verwies auch auf die philosophische Dimension der Clausschen Texte. Er konzentrierte sich auf die frühzeitige Aufnahme der Gaia-Hypothese durch Claus. Die 1974 in einer schwedischen Zeitschrift erschienene Hypothese der amerikanischen Mikrobiologin Lynn Margulis (1938–2011) und des britischen  Chemikers, Biochemikers und Mediziners James Lovelock (1919–2022) besagt, dass die Erde ein Lebewesen sein könnte. (Eichler fügte ein, dass Johann Gottfried Herder bereits 1784 die Erde als Lebewesen darstellte.) Claus verarbeitete diesen Ansatz philosophisch und grafisch in der Aurora-Grafikmappe. Damit werde deutlich, so Eichler, dass der Außenseiter und Autodidakt Claus vielleicht einer der wichtigsten Philosophen seiner Zeit war. Bis heute, so Eichler, habe die Wissenschaft die Erde nicht als Lebewesen, als organisches System anerkannt. Bis heute verfüge die Wissenschaft über kein Bild vom Naturkreislauf. Erst aus dieser Sicht sei vielleicht die philosophische Leistung Carlfriedrich Claus’ schätzbar.

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Auf der Heimfahrt ging uns alles noch einmal durch den Kopf. Was unterscheidet das Erzgebirge des 21. von dem des 16. Jahrhunderts? Die Unternehmer des 16. Jahrhunderts, Frauen durften nur als Witwen ein Unternehmen führen, waren ohne Zweifel sehr geschäftstüchtig. Rosina Schnorr soll als Geschäftsfrau brutaler vorgegangen sein als ihre männlichen Kollegen. Gleichzeitig gab es im Hause Schnorr eine umfängliche Bibliothek des Weltwissens. Man traf sich regelmäßig mit Künstlern und Wissenschaftlern. Der Unternehmer musste über praktische Kenntnisse auf vielen Gebieten verfügen. Aber er wollte selbst wissen, was die Welt im Inneren zusammenhält. Bücher haben den Vorzug, dass man bei der Lektüre Dinge findet, nach denen man nicht suchte (Lewis Mumford). Man erweitert beständig seinen Horizont. Elektronische Suchsysteme finden nur das, was in der Suchanfrage genannt wird. Man bestätigt sich quasi beständig selbst. Das ist der Unterschied.

Den Organisatoren der Veranstaltung ist zu danken. In der Stadtbibliothek findet sich eine Auswahl der Weltliteratur. Dank der Arbeit der Bibliothekarinnen können hier alle Generationen einen individuellen Zugang zum Weltwissen finden.

Clara Schwarzenwald

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

Information

Sonderausstellung „Schätze der Annaberger Kirchenbibliothek“, 20. September bis 2. November 2025

Erzgebirgsmuseum mit Silberbergwerk „Im Gößner“, Große Kirchgase 16, 09456 Annaberg Buchhioolz

Der Ausstellungskatalog kann im Erzgebirgsmuseum für 32 € erworben werden oder online heruntergeladen werden: https://ul.qucosa.de/api/qucosa%3A91736/attachment/ATT-0/

Die Bibliothek wurde an der Universität Leipzig digitalisiert und ist unter https://sachsen.digital/sammlungen/annaberger-kirchenbibliothek abrufbar.

Stadtbibliothek Annaberg-Buchholz, Klosterstraße 5: https://annaberg.bbopac.de/index

Andreas Eichler: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 3. Von Thomas Mann bis Gundermann: https://buchversand.mironde.com/p/andreas-eichler-literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-t-3-von-thomas-mann-bis-gundermann

Andreas Eichler: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland: Teil 1 bis 3: https://buchversand.mironde.com/p/eichler-literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-teil-1-3

Einladungen zu kommenden Vorstellungen der Literarischen Wanderung

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