Rezension

Gedanken zur Naumburger Trilogie

Als ich das Buch in die Hand nahm und betrachtete, glitt mein Blick über den Buchumschlag. Aha, es handelt sich um eine Stadt. Als »Nachgeborener« konnte ich zuerst nichts mit dem Cover anfangen. Das sollte sich gründlich ändern. Beim Öffnen und Durchblättern des Buches konnte ich schnell erkennen: Es handelt sich um drei Personen der Naumburger Stadtgeschichte. Wer aber waren Lepsius, N. und Hildebrandt?

Also bemühte ich Google und Wikipedia und fand Folgendes :

Karl Richard Lepsius (1810–1849) in Naumburg aufgewachsen, Sprachforscher und Ägyptologe.

N. = Friedrich Nietzsche (1844–1900) ab dem 6. Lebensjahr in Naumburg aufgewachsen.

Zacharias Hildebrandt (1688–1757) Orgelbauer der Orgel in St. Wenzel in Naumburg. Wird als spätbarockes Meisterinstrument noch heute benutzt und geschätzt.

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Diese »Schmuckstücke« der Stadtgeschichte von Naumburg entführten mich in eine der herausragenden Zeitläufte der deutschen Geschichte. Ein Universum von künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Zusammenhängen eröffnete sich. Unversehens war ich in der Zeit des 19. Jahrhunderts angekommen, mit den kriegerischen Epochen der französischen Revolution, des Vormärz, aber auch mit dem Bildungshunger der Gesellschaft. Einzig der Orgelbauer Hildebrand hat viel früher gelebt und gewirkt.

In der ersten Geschichte »Der Traum des Lepsius« hat Rüdiger Görner Fragmente des Lebens von Karl Richard Lepsius, seine Entdeckungsreisen zu den Gräbern und Tempeln der Pharaonen, in eine scheinbare Versform gebracht. Die Druckansicht lässt es vermuten. Gefunden habe ich sie nicht, und es ist wohl als geordnete Versform nicht gedacht, sondern in freier Wortfolge und Satzform angelegt. Die Druckweise lässt Assoziationen zu. Ich entdecke Erhabenes, Zeitüberdauerndes und habe dabei die Möglichkeit, durch die unterschiedliche und ungewöhnliche Anordnung des Druckes Fantasie in das Wortspiel einzubinden:

z. B. Strophe I

Karawanen, von Schriftzeichen,

die tanzen.

Er träumt was er liest

und liest was er träumt.

Das Wort »tanzen« erfährt durch den angrenzenden, unbeschrifteten Freiraum eine erweiterte Interpretationsebene. Der alleinstehende Begriff – tanzen – entwickelt die Vorstellung des Tanzes in der Vorstellung des Lesers. Man hält inne, das Wort – tanzen – füllt sich mit Leben. Diese Form, den Text und die Vorstellung zu einer synchronen Interpretation zu erweitern, kommt sehr häufig in der Trilogie vor. Einmal entdeckt, bereichert es die dramaturgischen Abläufe und die persönliche Anteilnahme beim Lesen. Diese Art der Lesart entführt in die Welt der Träume. Die Vorstellung, den Orient als vielleicht geistigen Gegensatz zur beginnenden Industrialisierung des 19. Jahrhunderts in Europa zu betrachten, kann Sehnsüchte, Hoffnungen und Energie entwickeln. Die Frage sei erlaubt: Was erlernen die Kinder und die Generationen der Jetztzeit als Sehnsüchte, Hoffnungen und erfülltes Dasein?

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Neben den Texten sind des Öfteren auch Collagen des Künstlers Osmar Osten im Buch verteilt. Welchen Sinn erfüllen sie? Sie verdeutlichen auf der visuellen Ebene Situationen der damaligen Zeit. Zu der schriftstellerischen Darstellung mit den schon beschriebenen Vorgängen kommt also noch die visuelle Ausdeutung der Zeit durch Kunstwerke. Das Ergebnis ist erstaunlich. Der Leser lernt quasi durch die Collagen und Fotos die Umgebung der beschriebenen Personen kennen, sowie Kleidung oder auch Wohnräume. Welche Bedeutung haben die Tapeten mit den Eichenlaubranken. Unsere »Tapete« als vielleicht erste, sehr frühe Erfahrung der Umwelt? Lepsius, auf Seite 7 als halbseitiges »Ich« abgebildet, zur anderen Hälfte aber auch als »Tapeten-Produkt« seines Milieus. Eichenblätter, Eicheln, Blumen und Ranken umgeben ihn mit vordergründiger, bürgerlicher Behaglichkeit. Militärische Rangabzeichen und Epauletten haben allerdings auch Eichenlaub mit Schwertern. Bei der nächsten Geschichte über N. taucht eine ähnlich gestaltete Collage mit Foto auf. Dort steht Nietzsche als Person – halbseitig überlagert durch ein Tapetenmuster. Der Spruch »Ich habe Tapetenwechsel nötig« ist im Bereich der Psyche und Erziehung leider nicht schnell zu erreichen. Tapeten und Einrichtungsgegenstände auf den Collagen sind hier vielleicht als Symbol für frühes, ganzheitliches und unbewusstes Lernen durch die Umgebung künstlerisch umgesetzt. Liegt in dem Wiederspruch der Umgebung seiner Kindheit und seinen späteren Einsichten einer der Gründe für Nietzsches Krankheiten?

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Im ersten Kapitel entführt uns Lepsius in seine Traumwelt des Orient. Viele begüterte Bildungssuchende unternahmen in der Zeit Reisen zu den Pyramiden oder anderen Kulturstätten. Ägyptologie, arabische Sprachstudien, Lesen des Korans, aber auch Astrologie, waren Bildunginhalte jener Zeit vor 150–200 Jahren.

Am Ende einer Forschungsreise bekam Lepsius einen bildschönen Jungen, Rehan, geschenkt. Es gehörte zu den üblichen Ehrenbezeugungen von arabischen Würdenträgern, ihren europäischen Gästen Sklaven als Ausdruck der Hochachtung zu schenken. In der folgenden Zeit, nach seiner Rückkehr nach Berlin, wurde Rehan als exotische Rarität in Salons der Gesellschaft vorgeführt. In dem Kapitel »Traum des Lepsius« nimmt Rehan eine wichtige Rolle ein. Lepsius fühlt sich von dieser natürlichen, freundlichen Schönheit des Knaben angezogen. Er bricht eine Lanze für arabische Menschen. Zitat: »Im Tal der Könige ist noch keiner zum Rebellen geworden.« Die Erfahrung der Freundlichkeit arabischer Menschen kann man auch heute noch machen. Viele Touristen kennen das.

In Wien gab es auch ein vergleichbares, unglaubliches Spektakel um einen geschenkten Sklaven. Dort am Hof lebte ein hochgebildeter Afrikaner, der in der Hierarchie des Hofes Karriere gemacht hat. Angelo Solimann (1721–1796) war Prinzenerzieher; eine sehr große Ehre in jener Zeit. Nach seinem Tod wurde er in Wien präpariert und ausgestellt, durchaus in guter Absicht. Heute unvorstellbar aber wahr.

Was mag wohl aus Rehan geworden sein?

Er verschwand von der Weltbühne, ebenso wie der allbekannte N. der I. Ab 1812 begann der Niedergang Napoleons, der mit seinen Revolutionen und Kriegen das späte 18. Jahrhundert und die folgenden Jahrzehnte prägte.

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Die Erzählung begibt sich in die Heimat von Friedrich Nietzsche: Naumburg und sein Umland, nicht gerade der Nährboden für eine revolutionäre Philosophie und Philologie. Aber vielleicht hat gerade die Reibung, der Widerspruch zu seiner Umgebung, seine denkende Kraft inspiriert.

Das Spiel mit »Kürzeln« erweitert die Vorstellungskraft. Wer ist N. der I. und wer der nächste N.? Und wer ist der zu erwartende NN? (NN ist ein Synonym, welches bei Veranstaltungen eine Person bezeichnet, die bei Drucklegung noch nicht feststeht.)

1844 erblickte Nietzsche das Licht der Welt, ein geistiger Nachfahre der Hambacher Freiheitsbestrebungen. Er erlebte Deutschland im Nationalstolz. Nietzsche erlag nicht der Versuchung »Deutschland über alles « zur Richtschnur seines Denkens zu machen. Gerade wieder ein Thema bei uns. Seine analytische Philologie, Philosophie und allgemeine Denkkraft bewahrte ihn vor den übermächtigen Verhaltensmustern jener Zeit. Eine große Leistung. Man denke an das halbe Tapetenbild (Seite 20).

Schwierigkeiten beim Lesen und Begreifen der Buchseiten bereiten anfangs die Synonyme, wie z. B. »das Lama«. Gemeint ist seine Schwester. Warum N. sie Lama nannte, bleibt sein Geheimnis. Aber vielleicht gibt es in Briefen eine Erklärung dafür.

Sein Leben entwickelte sich zum Außenseiter und »Underdog« in Naumburg. Das Kapitel »Die Leiden des N.« nimmt uns Leser mit in seine Jugendzeit. Daneben das Foto einer Collage, welches den Lebensraum der Familie und vielleicht auch die dunkle Seite von N. auf einem Foto–Portrait erahnen lässt. Manchmal sagt ein Foto mehr aus als hunderte von Seiten wissenschaftlicher »Einlassungen«. Die Wirkung der Collage auf den Betrachter ist umfassend. Ein Bild der Zeit in Form eines Wohnraumes, der Mode und auch der Rückbesinnung auf die Antike in Form eines Säulenfragmentes. Eine zerbrochene Säule als Symbol vergangenen Denkart und Geistigkeit. Ein gerne gebrauchtes Symbol in der romantischen bildenden Kunst.

Schwierig manchmal, den wissenden Vorstellungen des Autors am Schluss der Leidensgeschichte von N. zu folgen. Geschichte, Politik, Kunst und auch menschliche Schicksale sind verwoben in einer der wichtigsten Epochen deutscher Geschichte.

Die Demokratie entwickelt sich.

Lyrik, als Basis dieser Dichtung, macht das Buch zu einem Erlebnisträger, wenn man sich darauf einlässt, anfangs den Text und die Hintergründe nicht oder unvollkommen zu verstehen. Diese Schrift will erarbeitet sein.

Manche Verse sind unvergesslich wegen ihrer Schönheit und immerwährenden Wahrheit. Zitat: »Werde zum Wind in den Saiten der Seele« Welch ein schönes, unvergängliches Bild, um den Beginn und Zustand von Kreativität zu benennen.

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In dem folgenden dritten Teil der Trilogie erwartet uns ein kleinstädtisches, idyllisches Bild von Naumburg. Der Stadtrat, in dem ja noch die »Drei Stände Ordnung« herrscht, muss den Bau einer Orgel in der St. Wenzel-Kirche absegnen. Zacharias Hildebrandt wird vorstellig und nach Diskussionen des Stadtrates beauftragt die Orgel zu bauen. Er hat das günstigste Angebot gemacht.

Geboren und aufgewachsen ist Hildebrandt im böhmisch-schlesischen Münsterberg (heute Ziebice, Polen). Sein Vater hat ihn zu dem damals bekanntesten deutschen Orgelbauer, Silbermann, in die Lehre gegeben.

Es entwickelt sich während der Bauzeit der Orgel eine Bekanntschaft mit Mechthild, einer rothaarigen anziehende Frau, die den Beruf der Türmerin ausübte. Türmer waren vergleichbar den Hausmeistern unserer Zeit. In Naumburg hatte man eine Türmerin angestellt. Diese hatte nicht den besten Ruf. Mechthild kannte viele Stadträte. Die rothaarige Mechthild, der Schreck der bürgerlichen Damen, ist romanhaft ein Nebenschauplatz unseres Buches zu der Zeit des Orgelbaues. Diese Nebenrolle erfüllt das letzte Kapitel mit zusätzlicher Spannung und Humor, wenngleich die Geschichte der Mechthild wohl böse endet und noch Fragen nach dem weiteren Lebensweg offen lässt.

Was ist aus dem Kissen für die Orgelbank geworden, gefüllt mit Mechthilds roten Haaren? Ist es seiner Bestimmung übergeben worden?

Nur Fiktion und erfrischende, liebenswerte Dichtung?

Auf jeden Fall aber ein phantasievoller »Abgesang« des Buches. Er belebt die Neugierde der Leser. In der Musik wird ein solcher letzter emotionaler Höhepunkt eines Satzes »Rausschmeißer« genannt. Hier ist es auf vergnügliche, schriftstellerische Weise gelungen.

Zwischendurch immer wieder eine Reihe Collagen, die wohl die Doppelmoral der Zeit spiegeln und zu allerlei Deutungen Anlass geben. Das Schwert zwischen den Beinen einer kampfbereiten Frau, die auf einem weiteren Bild in verzweifelter Pose zum Himmel blickt. Der kleine Zylinder als Symbol der bürgerlichen Gesellschaft.

Der Orgelbau in Naumburg endete mit der Abnahme und der Prüfung der Orgel durch die dafür beauftragten bekanntesten Personen ihres Faches in jener Zeit: Bach und Silbermann.

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Coda

Das Buch von Rüdiger Görner mit den begleitenden Collagen von Osmar Osten ist ein vielschichtig angelegtes lyrisches Meisterwerk. Die Handlung spielt in der Zeit der Hochblüte der europäischen Kultur. Es sind die Jahrzehnte, als Komponisten wie Chopin (1810–1849) und Beethoven (1770–1827) Werke komponierten, die die Revolution spiegelten.

Dichter wie Heinrich Heine (1797–1856), Georg Büchner (1813–1878), Annette von Droste Hülshoff (1797–1848), sahen ein neues Zeitalter heraufziehen.

Mitteldeutschland, im Herzen Europas, mit wechselnder Zugehörigkeit zu Preußen, Sachsen und Österreich, mit seinen Kulturmittelpunkten Dresden – Leipzig – Weimar – Berlin – Wien, bestimmte die »Leitkultur« des deutschsprachigen Raumes. Mittendrin liegt Naumburg, als kleinere Residenzstadt häufig das Ziel durchreisender Fürsten und Diplomaten. Auch Napoleon hat Naumburg besucht.

Schon der Titel »Naumburger Trilogie« zeigt die Mehrschichtigkeit der Handlung. Drei Geschichten, drei Lebensläufe und Episoden, die durch das Leben in der Stadt Naumburg miteinander verbunden sind, bilden den Rahmen der Handlungen.

In den Kapiteln gibt es Überschneidungen und Bezüge zu den unterschiedlichen »Dreier Formen« künstlerischer Darstellung der Dichtkunst, Malerei und Musik.

Trilogie – ein Dreiteiler der Literatur.

Triptychon – als dreiteiliges Gemälde.

Die dreisätzige Sonaten-Form.

Im heutigen Sprachgebrauch wird diese Verschmelzung verschiedener Kunst, Musik-oder auch anderer Kulturrichtungen wie Videokunst und Tanz »Crossover« genannt.

Vielleicht ist das Buch geeignet, in einer gymnasialen Oberstufe einen zeitgemäßen Zugang zum geistigen Erbe unserer Vorfahren herzustellen.

Ich wünsche mir den Glanz in den Augen der Schüler/innen und den Stolz auf unser kulturelles Erbe.

Max Maxelon

 

Information

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Rüdiger Görner: Die Leiden des N. eine Naumburger Trilogie

14,0 × 20,5 cm, 48 Seiten, fester Einband, Fadenbindung, Lesebändchen

Titelgestaltung und 10 Collagen von Osmar Osten

VP 19,00 €: ISBN 978-3-937654-55-3

www.mironde.com

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