Reportagen

LYRIKCARTOONS IM TIETZ

Der Abend des 1. November war feucht und kalt. Es dunkelte uns ungewohnt früh. Doch es war nur die Umstellung auf Normalzeit, auf das Normale, die uns irritierte. Hell erleuchtet lag das Chemnitzer Kulturhaus, das einst Hermann Tietz erbauen ließ, und in dem sich die Stadtbibliothek befindet, vor uns. Hier sollten heute Lyrikcartoons gelesen werden. Im Foyer erfreulich viele Jugendliche, doch diese lasen keine Bücher sondern starrten wie gebannt auf die Bildschirme ihrer Mobiltelefone. Immerhin gehen sie dazu ins Tietz!

Im zweiten Stock des Gebäudes, unter Tausenden von Büchern und der versammelten Gemeinschaft des Geistes, begrüßte Uwe Hastreiter von der Stadtbibliothek Chemnitz den Autor Ludhardt M. Nebel und seinen Verleger Andreas Eichler vom Mironde Verlag zu einer Lyrik-Lesung aus dem Band »Wenn ich Flügel hätt’. Lyrikcartoons«.

Im Gespräch versuchte der Moderator dem Publikum Ludhardt M. Nebel, der wieder einmal eine Mütze der Transsibirischen Eisenbahner trug,  vorzustellen. Diese Aufgabe war nicht einfach. Geburt in Bad Freienwalde, Abitur in Freiburg im Breisgau, Jura-Studium in Wladiwostok, Banker bei der Transeuropäischen Eisenbahnerbank in Pontresina sind für den normalen Zuhörer nur schwer vorstellbar. Aber hinter diesem ungewöhnlichen Lebenslauf steht sein unprätentiöser, uneitler Zugriff auf die literarische Tradition und seine unzeitgemäße Verteidigung menschlicher Existenz.

Die Erzählerstimme des Autors ist immer noch am besten geeignet, dem Publikum lyrische Texte nahezubringen. Ludhardt M. Nebel beeindruckte denn auch durch die Intensität seines Vortrages.

Doch warum Lyrikcartoons? Zu jedem der 35 Gedichte des Bandes ist im Buch eine Karikatur abgebildet. 35 Cartoonistinnen und Karikaturisten erweisen Nebel die Referenz mit einer Illustration. Der Dichter ist sich dieser Ehre der Kollegen wohl bewusst. So kommentierte er ausführlich jede der 35 Abbildungen und stellte den jeweiligen Künstler kurz vor. Das interessierte Publikum konnte die lyrische Sprache und die kongeniale Grafik im Zusammenhang erleben. Ohne Zweifel – ein Ereignis.

Kommentar

Die Stadtbibliothek Chemnitz erwies sich wieder einmal als Förderin der Schriftsteller und Literatur aus der Region. Dafür gebührt besonderer Dank, gibt es doch mächtige Interessen, die Bibliothek heute hauptsächlich auf das spezielle Profil von Wissenschaftsbibliotheken reduzieren wollen. Doch die Aufgabe der Allgemeinen Bibliothek war immer die der Basis von Allgemein-Bildung.

Uwe Hastreiter begrüßte mit dem Lyriker Ludhardt M. Nebel eigentlich mehrere Personen. Hinter dem Dichter-Pseudonym verbirgt sich der Bildende Künstler P. Bock, die Kunstkritikerin Beate Wiese und der Bürgermeister der virtuellen Stadt »Groß Mützenau« Matthias Lehmann. Vor 20 Jahren holte er in einer gigantischen Kunst-Aktion, per Tieflader, ein nach der Streckenstilllegung vom Abriss bedrohtes kleines Bahnhofsgebäude zur Gaststätte »Prellbock« in Lunzenau. Seither wird das Ex-Bahnhofsgebäude als Galerie genutzt. Dem Ehepaar Lehmann gelang es, die besten Karikaturistinnen und Cartoonisten unseres Landes zu Ausstellungen nach Lunzenau zu holen. Matthias Biskupek schrieb kürzlich in der Zeitschrift »Eulenspiegel«, dass sich im Lunzenauer »Prellbock« die Crème der Szene trifft. Maritta Lehmann betreibt die Gaststätte und ihr Mann, berufener Eisenbahner, organisiert, eröffnet, betreut und sorgt für Ausstellungen mit angewandter Kunst. Manch einer, der die »reine Kunst« liebt, zweifelt, ob Karikatur und Cartoon Kunst seien.

Natürlich sind Karikaturen Kunst. Gute Karikatur hilft uns mitunter blitzartig, Zusammenhänge neu zu erschließen. Handwerkliche Grundlagen sind Voraussetzungen für das künstlerische Vermögen, der Sinn für Humor allerdings auch. Der wird jedoch an den Kusthochschulen nicht gelehrt, nur im Leben selbst.

Henry van de Velde formulierte vor vielen Jahren die Einsicht: es gibt nur die angewandte Kunst. Etwa gleichzeitig formulierte Walter Benjamin die Konsequenzen für die Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Kunstwerke. Die Szene der Cartoonistinnen und Karikaturisten hat die neuen Existenzbedingungen der Kunst angenommen.

Clara Schwarzenwald

Information

Ludhardt M. Nebel. Wenn ich Flügel hätt’. LyrikCartoons. 14 × 20,5 cm, 112 Seiten, fester Einband, Fadenheftung, Lesebändchen, 35 farbige Cartons von 35 Künstlern.

Der Autor und die Karikaturistinnen und Cartoonisten werden mit Foto und einer Kurzbiographie vorgestellt.

In jeder Buchhandlung oder direkt beim Verlag bestellbar

ISBN 978-3-96063-002-9 VP 19,00 Euro

www.mironde.com

www.prellbock-bahnart.de

www.stadtbibliothek-chemnitz.de

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