Die Zeitschrift »Lettre International«, die sich im Untertitel »Europas Kulturzeitschrift« nennt, legte eben die Nummer 120 – Frühjahr 2018 – vor. Auf 146 großformatigen Seiten werden dem Leser interessante Beiträge von internationalen Autoren geboten. Das großzügige Layout, das an Axel Bertrams einstige Gestaltung der Wochenpost erinnert, ermöglicht lange Beiträge mit Randinformationen. Dazwischen immer wieder Foto- oder Grafikkunst.
Wir wollen uns auf drei herausragende Beiträge konzentrieren.
Pankaj Mishra, der Träger des Leipziger Buchpreises zur europäischen Verständigung von 2014, überschreibt seinen Beitrag mit »Wilde, Räuber, Lumpen. Wie Soldaten aus den Kolonien im Ersten Weltkrieg in Europa kämpften.« Der Titel bezieht sich auf eine Äußerung des deutschen Ausnahmewissenschaftlers Max Weber in der Frankfurter Zeitung vom 18.9.1917: »An der Westgrenze steht heute ein Auswurf afrikanischer und asiatischer Wilder und alles Räuber- und Lumpengesindels der Erde unter Waffen.« (S. 10)
Mishra nimmt die Äußerungen, selbst des gebildeten Webers, als Indiz für die Existenz einer »globalen Rassenhierarchie«, einer »Religion des Weißseins« in allen westlichen Ländern des 19. Jahrhunderts. Die Vorherrschaft der weißen Rasse sei als Garant für Kultur und Zivilisation gesehen worden. Mit dieser Mission habe man auch den gesetzlosen Einsatz von Gewalt gegen Nichteuropäer gerechtfertigt. Zum Beleg fügt Mishra Beispiele für den unmenschlichen Umgang der europäischen Kolonialherren mit den unterdrückten Völkern an. Das reicht von der Ausgrenzung und Herabsetzung der Urbevölkerung durch die USA und Australien bis hin zu Völkermorden in den Kolonien. Als Motiv der westlichen Regierungen für die Eroberung von Land, Nahrung und Rohstoffen verweist Mishra, neben den ökonomischen Aspekten, auf die Hoffnung der Herrschenden damit soziale Spannungen in den eigenen Ländern abbauen zu können.
In diesem Lichte erscheint der Erste Weltkrieg nicht mehr als ein Bruch mit der westlichen Tradition, als unerwartete Ausnahme in der Geschichte des Westens sondern als eine Art »Vergeltung« für das, was man anderen Völkern angetan hatte: »Der Erste Weltkrieg war der Moment in der Geschichte, an dem sich die vielfältigen Folgeerscheinungen des Imperialismus in Asien und Afrika erstmals nicht mehr nur dort, sondern auch auf dem europäischen Boden in einer Explosion selbstzerstörerischer Gewalt entluden.« (S. 11) Mishra versucht zu Begründen, dass auch der Aufschwung der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert als Reaktion auf Imperialismus und Kolonialismus zu verstehen ist. Er verweist darauf, dass sich junge Politiker Asiens, wie Ho Chi Minh und Mao Tse-tung in diesem Zusammenhang dem Kommunismus zuwandten, weil dieser in ihren Augen frei von rassischer Überheblichkeit war. (S. 12) Mishra stellt einen Zusammenhang zwischen dem imperialen Gehabe des Westens auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 und der Enttäuschung und Desillusionierung der aufstrebenden Politiker Asiens her: »Verbittert über den Betrug von Paris, der nationale Selbstbestimmung und Souveränität für die Schwächeren zu einem leeren Versprechen machte, begann China sein unbeirrbares Streben nach einem starken Nationalstaat, um nie wieder beherrscht zu werden, sondern selbst zu herrschen.«
Mishra konstatiert, dass diese Geschichte des Imperialismus und des Kolonialismus, in der er auch solche Erscheinungen, wie den Holocaust begründet sieht, in den westlichen Ländern verdrängt ist. Er zitiert aber asiatische Intellektuelle und Politiker, die den Ersten Weltkrieg vor diesem Hintergrund sahen: »Liang Qichao war schon 1918 überzeugt, dass der Erste Weltkrieg als Brücke zwischen Europas imperialistischer Gewalt und seinen Bruderkriegen, zwischen dem 19. Jahrhundert und der Zukunft verstanden werden musste.« (S. 14) Einzig Deutschland habe sich seiner Verantwortung gestellt.
Aber »Deutschland wurde mit dem Vertrag von Versailles aus dem exklusiven Arierklub ausgeschlossen, seiner Kolonien beraubt und von den Siegermächten ohne den geringsten Sinn für die darin liegende Ironie wegen Misshandlung seiner Eingeborenen in Afrika angeklagt.« (S. 14) So wirkten die alten Vorurteile weiter: »Die vernichtende Logik gesetzloser Gewalt kommt heute erneut im unübersehbar von Rassenvorurteilen geprägten Krieg gegen den Terror zur Geltung … Sein Scheitern und die Demütigungen, die er vielen Ländern und Menschen zufügt, erfordern den Einsatz immer umfangreicherer Gewalt, entfachen mehr und mehr unerklärte Kriege und inoffizielle Schlachtfelder sowie einen vor nichts haltmachenden Angriff auf die bürgerlichen Freiheiten im eigenen Land … Dennoch ist die globale Rassenordnung … für immer zerfallen, und nicht einmal ein Krieg gegen China und ethnische Säuberungen im Westen werden das weiße Eigentum an der Erde für jetzt und immerdar wiederherstellen. Imperiale Macht und Herrlichkeit wiederzuerlangen hat sich als trügerische, weltferne Phantasterei erwiesen – und große Teile Asiens und Afrikas verheert, den Terror auf die Straßen Europas und Amerikas gebracht, zuletzt auch Großbritannien in den Brexit getrieben. Kein Aufschwingen zu pseudoimperialistischen Abenteuern anderswo kann noch die Kluft der Klasse und der Bildung überbrücken und den eigenen Massen Sand in die Augen streuen. Am Ende erscheint die soziale Frage heute unlösbarer als zuvor, die Gesellschaft stärker polarisiert und, wie Brexit und Trump zeigen, auch die unheimliche Bereitschaft zur Selbstzerstörung größer denn je … Historiker könnten sich in hundert Jahren fragen, wie es kam, daß der Westen nach einem langen Frieden wie ein Schlafwandler in seine bislang größte Katastrophe gestolpert ist.« (S. 14)
Mishra verwendet ein Erklärungsmuster, wie es Johann Gottfried Herder in der Auseinandersetzung mit der französischen Revolution, am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte: Menschen, Staaten, Völker, die sich für »Auserwählte« halten, die gesetzlose Gewalt gegen andere Menschen und Völker einsetzen, werden am Ende das gleiche Schicksal erleiden, die Gewalt wird sich gegen sie selbst wenden. Herder nannte dies »Gesetz der Vergeltung«, das die Geschichte beherrsche. Gleichzeitig verwies er darauf, dass wir Menschen im Wissen um dieses Gesetz der Vergeltung, den Einsatz von Gewalt generell vermeiden sollten. Albert Camus, der Herder weder kannte noch zitierte, entwickelte nach dem Zweiten Weltkrieg eine ähnliche Sichtweise. Pankaj Mishra kennt und zitiert leider weder den einen noch den anderen.
Alfred McCoy, Professor für Südostasiatische Geschichte an der Universität Wisconsin/Madison, kommentiert und veröffentlicht im hintern Teil der Ausgabe einen Vortrag »Der geographische Drehpunkt der Geschichte« des britischen Geographen Lord Halford J. Mackinder, dem früheren Direktor der London School of Economics, gehalten vor der Royal Geographical Society in London, am 25. Januar 1904. Mackinder will die »vertraute Phrase der Westverschiebung der Imperien«, einem Zusammenhang zwischen dem antiken Griechenland, Rom und dem Britischen Empire, wie auch der Entdeckung Amerikas, kritisch hinterfragen. Seine Ausführungen zielen auf die strategische Begründung der Politik des Empire. Er argumentiert kühl und nüchtern. Entgegen dem Vorurteil der »Westverschiebung« sei der Drehpunkt der Geschichte nicht in einem Inselstaat wie Großbritannien zu suchen, sondern in der Landmasse von Europa und Asien – in Eurasien. Die letzten Jahrhunderte habe man die Welt mit Flotten beherrschen können, in dem man die Landmasse von Osten, Süden und Westen her mit Stützpunkten einkreiste. Doch die Situation habe sich geändert: »Noch vor einer Generation schienen Dampfkraft und Suezkanal die Mobilität der Seemacht relativ zur Landmacht erhöht zu haben. Eisenbahnen dienten in der Hauptsache der Beschickung des Überseehandels. Heute jedoch verwandeln transkontinentale Eisenbahnen die Bedingungen der Landmacht von Grund auf, und nirgendwo sonst können sie eine solche Wirkung haben, wie im geschlossenen Herzland Eurasiens …« (S. 128)
(Zu einer ähnlichen Einschätzung der Rolle Russlands kam übrigens auch Oswald Spengler in seinem Buch »Der Untergang des Abendlandes«.)
Mackinder bescheinigt der russischen Regierung Weisheit, weil sie sich von Alaska trennte. Gleichzeitig unterstellt er Russland eine Expansionsmöglichkeit in Richtung Westen und eine »Störung des Gleichgewichtes der Kräfte«. Er meint damit eine Beeinträchtigung der britischen Vorherrschaft. Angesichts der kontinentalen Ressourcen sieht er die Gefahr eines »Weltimperiums« auftauchen: »Dazu könnte es kommen, sollte Deutschland ein Bündnis mit Russland eingehen. Die Gefahr einer solchen Möglichkeit sollte Frankreich zu einem Bündnis mit den überseeischen Mächten bewegen, um Frankreich, Italien, Ägypten, Indien und Korea zu Brückenköpfen zu machen …« (S. 129)
Alfred McCoy kommentiert diesen Vortrag mit einem Artikel »Herzland und Weltinsel. Warum Halford J. Mackinders geopolitische Thesen von Bedeutung sind.« McCoy beschreibt den Weltherrschaftsanspruch des britischen Empire und konstatiert, dass es um 1900 den Höhepunkt seiner Macht erlangt hatte. Anders ausgedrückt: gleichzeitig begann der Abstieg von dieser Macht. McCoy zitiert einen der letzten Artikel Mackinders, den er 1943 in der US-Zeitschrift »Foreign Affairs« veröffentlicht: »Er erinnert die Amerikaner, die von einer großen Strategie träumten, daran, daß nicht einmal ihr Traum von globaler Luftmacht die fundamentalen Gegebenheiten der globalen Geopolitik ändern würden. ‹Wenn die Sowjetunion aus diesem Krieg als Eroberin Deutschlands hervorgeht›, warnte er, ‹muß man in ihr die größte Landmacht des Planeten sehen›, welche nun ‹die größte natürliche Festung der Welt› kontrolliert.« (S. 122)
Trotz dieser Warnungen Mackinders übernahmen die USA 1945 mit der Macht des britischen Empires auch dessen Machtstrategie der Vorherschaft: »Im Jahre 1955 verfügten die USA über ein globales Netzwerk von 450 Militärbasen in 36 Ländern, die größtenteils darauf abzielten, den chinesisch-sowjetischen Block hinter einem ‹Eisernen Vorhang› einzudämmen …« (S. 123) McCoy geht auch auf die Wirkung des US-Politikberaters Z. Brzezinski ein. Dieser habe die Bewaffnung und Ausbildung von Islamisten angeregt, um der UdSSR in Afghanistan eine strategische Niederlage bereiten zu können. Bekanntlich zog sich die UdSSR aus Afghanistan zurück und gab ihre Vorherrschaft in Osteuropa auf. Damit verschwand der sogenannte »Osten«. Um die US-Politik einfach weiterführen zu können, legte Brzezinski ein Konzept über ein US-Imperium vor »Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft« Als dieses Buch 1997 in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, hatten die USA bereits den Höhepunkt ihrer Macht überschritten, und befanden sich, wie Paul Kennedy es formulierte, im Niedergang. In einem früheren Artikel (Lettre International 110 /Herbst 2015 ) mit dem Titel »Das große Spiel. Geopolitik des Niedergangs – Washington vs. Peking im 21. Jahrhundert« hatte McCoy die strategischen Aktivitäten der USA und Chinas verglichen. Die USA bauten weiter Militärstützpunkte und rüsteten sie mit überteuerten High-Tec-Waffen aus. China dagegen habe in den vergangenen zehn Jahren über eine Billion Dollar in den Ausbau von Eisenbahnstrecken investiert. Man arbeite an einem gemeinsamen Wirtschaftsraum Schanghai–Lissabon.
Wir leben heute in einer multipolaren und multikulturellen Welt. Die Zeit der Imperien ist vorbei. Der Zeitschrift Lettre International ist deshalb für diese Beiträge besonders zu danken. McCoy macht den Artikel Mackinders aus dem Vorfeld des Ersten Weltkrieges nach mehr als hundert Jahren wieder zugänglich. Mishra führt die Folgen des europäischen Imperialismus und Kolonialismus an, macht die Defizite der etablierten Geschichtsschreibung deutlich und benennt die unbewussten Voraussetzungen heutiger westlicher Politik. Das ist ein merkenswertes Beispiel für eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit der Erbschaft des Ersten Weltkrieges, das uns nachdenklich macht, um unsere Zukunft willen.
Johannes Eichenthal
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