Rezension

HERDER NEU LESEN!

Das Börsenblatt Nr. 26, die Zeitschrift des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, vom 25. Juni 2020, veröffentlichte ein Interview mit dem Philosophie-Professor Markus Gabriel über sein neues Buch»Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert«. (S.23 f.) An wen richtet sich das Buch? Gabriel antwortet: »Der philosophische Laie soll sich darüber informieren können, wie der ethische Forschungsstand unsere Gegenwart sieht, wobei das Buch natürlich auch die Absicht verfolgt, die gesellschaftliche Entwicklung in die moralisch gewünschte Richtung zu lenken.« (»Forschungsstand« und »Buch« werden in der professoralen Sprache zu Subjekten.) Die Interviewer fragen weiter: »Sie postulieren einen moralischen Realismus, der universelle Geltung beansprucht. Würde der auch außerirdische Zivilisationen mit einschließen?« Die Antwort des Herrn Professor lautet »Ja«.

Die Whirlpool Galaxie. Hier sind zwei Galaxien aneinander geraten und interagieren. Entfernung ca. 25 Mio Lichtjahre. Die Aufnahme ist aus den Bildern von drei verschiedenen Nächte aus 2018 und 2019 entstanden. Gesamtbelichtungszeit 5,7 Stunden. 3. November 2019 Copy right Reinhold Schandl (Wien).

Zugegeben, wir sind etwas verwundert. Nicht verwundert es uns jedoch, dass er sich bei einem solch kühnen Vorhaben auf den Professor Immanuel Kant (1724–1804) beruft: »Dazu gehört auch die kritische Beleuchtung der Tradition. Auch Kant, der Vater des kategorischen Imperativs, hatte Gegner – zum Beispiel Herder, der Moralvorstellungen an Kulturen und Völker knüpfte.«

Der Satzteil: »… Herder, der Moralvorstellungen an Kulturen und Völker knüpfte« ist so sachlich falsch. Anders als Kant, ging Johann Gottfried Herder (1744–1803) in der Tradition der Weisheit davon aus, dass es eine Wahrheit außer uns gibt. Die vernünftige Struktur der Natur ist für Herder auch die Matrix für menschliche Moralvorstellungen und der Grund für das ewige Streben nach Weisheit.

Der Pferdekopf-Nebel im Sternbild des Orion. Der große helle Stern ist Alnitak, der tiefstgelegene Stern im Gürtel des Orion und leicht mit freiem Auge zu sehen. Der Pferdekopfnebel selbst ist eine Dunkelwolke, welche sich vor der Mauer aus durch die Energie von Alnitak ionisierten Wasserstoff Gas abhebt. Das Objekt unter Alnitak ist der Flammennebel. Das Bild ist am 1. Dezember 2019 entstanden und besteht aus 70 Aufnahmen zu je 3 Minuten.
Copy right Reinhold Schandl (Wien).

Der Subtext des Kantschen »Kategorischen Imperativs« lautet dagegen: so wie Kant denkt und schreibt ist es allgemeines Gesetz. 

Solche eitle Selbstanmaßung, »imperatorisches Geschwätz von sittlicher Vernunft«, lehnt Herder ab: »Kein Streit ist Nutzloser, als der über das erste Principium der Moralität geführt wird. Wer sein Principium deswegen für alleingültig hält, weil Er es setzt, den lasse man setzen und sein Ipse fecit (sein Selbstgemachtes) komisch-eitel umtanzen… Mithin sind, so verschieden sie vorgetragen wurden, alle sogenannten ersten Grundsätze der Sittlichkeit Eins und Dasselbe. Sowenig es mehrere Vernünfte im Menschengeschlecht geben kann, so wenig sind mehrere höchste Prinzipien der Sittlichkeit auch nur denkbar. Plato und Aristoteles, Demokrit und Zeno, unter den Neueren Clark und Wollaston, Smith, Ferguson, Leibniz und Spinoza sagen im Grund Ein und dasselbe; Jeder sagte es nach seiner Ansicht der Dinge und inneren Lebensweise. Dieser dunkler, jener klarer, bestimmter, unbestimmter, enger, weiter.« (Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden. Bd. 10. Adrastea, Frankfurt 2000, Hrsg. Günter Arnold, S. 140 f.) 

Gegen Kant machte Herder immer wieder deutlich, dass Vernunft, der berechnende Verstand, für die Liebe zur Weisheit nicht ausreicht. Weisheit umfasst den Gegensatz von Vernunft und Glauben. In der Tradition von Plato, Aristoteles, Maimonides, Meister Eckhart, Spinoza, Leibniz und vielen anderen formulierte Herder, dass Gott die organische Kraft der Kräfte des Universums ist, die mit ihrer beständigen Reproduktion die vernünftigen, berechenbaren Strukturen des Universums schafft. Diese vernünftigen Strukturen der Natur sind die Voraussetzung dafür, dass es menschliche Vernunft geben kann. Allerdings vermögen wir uns der absoluten Wahrheit, der vernünftigen Struktur des Universums, nur anzunähern. 

Der „Nordamerika Nebel“ im Sternbild des Schwan. Der Nebel nimmt am Himmel ca. 3 x die Fläche des Vollmondes ein, deshalb habe ich ihn mit einem kleinen Teleskop mit einer Brennweite von 432 mm aufgenommen. Der Nebel ist ca. 2.500 Lichtjahre entfernt und besteht, erkennbar an der überwiegend roten Farbe, nornehmlich aus ionisiertem Wasserstoff. 1. November 2019
Copy right Reinhold Schandl (Wien).

Die Postulierung von »universellen Grundsätzen« entspricht dem Anschein nach den Anforderungen dessen, was »Globalisierung« genannt wird. Doch hinter diesem Schlagwort verbirgt sich wesentlich der Versuch, Produkte und Konsumenten weltweit zu vereinheitlichen. (Jean Baudrillard)

Erfundene Schlagworte, selbst das »Weltethos-Projekt« des großen Hans Küng, vermochte nichts zur Verbesserung der Weltlage zu leisten. Dagegen ist der Dialog zwischen den Weltreligionen, wie ihn der damalige Kardinal Joseph Ratzinger 2004 in einer Diskussion mit Jürgen Habermas vorschlug, und bei dem es um das Finden der Werte in den Weisheits-Traditionen geht, der Königsweg zum Frieden im Glauben und damit Voraussetzung zur Lösung vieler heutiger Menschheitsprobleme.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzten sich der Bruch mit der Weisheitstradition im Zuge allgemeiner Spezialisierung in der europäischen Philosophie durch. Damit war die Reduktion von Philosophie auf eine Fachwissenschaft vom berechnenden Verstand verbunden. Im 21. Jahrhundert ist es auch in Europa an der Zeit, wieder an der Weisheitstradition anzuknüpfen. Heute gilt es mehr denn je, dass sich die Menschen bewusst als Teil der Natur, »der heilsamen, göttlichen, sich selbst belohnenden Naturordnung« (Herder), einordnen.

Ein erster Schritt könnte darin bestehen Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (Herder Werke in drei Bänden, Band 3, München/Wien 2002, Hrsg. Wolfgang Proß) neu zu lesen! Wir sind Herrn Professor Gabriel dankbar, dass er uns wieder einmal an Herder erinnerte.

Johannes Eichenthal

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

One thought on “HERDER NEU LESEN!

  1. Ja, lieber Eichenthal,

    wenn Du Dich nicht just dazu geäußert hättest, wäre ich nun in der Verlegenheit gewesen, Dir diesen Titel zur kritischen Durchsicht zu empfehlen. Aber der Herr Redaktor hat den kühnen Schreiber Gabriel mit dem heiligen Zorn des späten Aufklärers in den Schredder gestopft. Recht so!

    Auch mir erschien dieser naive Megapositivismus ein Weniges zu absolut!

    Dein DMM – auf dem Pfad in die kritischen Wälder

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