Reportagen

GERT HOFMANN ZUM 30. TODESTAG

Am 30. Juni 2023 erinnerten Freundeskreis Gert Hofmann, Stadtbibliothek Limbach-Oberfrohna „Gert Hofmann“, LOs gehts e.V. und Mironde-Verlag in der Stadtbibliothek an den 30. Todestag des am 29. Januar 1931 in Limbach geborenen Schriftstellers. Dr. Andreas Eichler dankte im Namen des Freundeskreises dem ehemaligen Stadtrat Peter Vulpius für die Initiative zur Namensverleihung an die Stadtbibliothek. Ebenso dankte er dem Vorsitzenden der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft, Siegfried Arlt, und dem Literatur Aktivisten Henry Kreul, für die eindrucksvollen szenischen Lesungen der Texte Gert Hofmanns in den letzten Jahren, die das Werk des Schriftstellers in der Erinnerung lebendig bewahrten.

Gert Hofmann (Copyright Foto: Ursula Hasenkopf)

Eichler begann dann sein Statement mit der Feststellung: Wenn wir heute Bücher des Dichters Gert Hofmann lesen, dann wirken diese auf uns, wie aus einer längst vergessenen Zeit. Hat uns Hofmann heute noch etwas zu sagen?

In groben Zügen umriss Eichler den Bildungsweg Hofmanns, der den Anwesenden höchstwahrscheinlich lange vertraut war: Besuch der Leipziger Fremdsprachenschule und Ablegen der Übersetzer-Prüfung in Englisch, Russisch und Französisch, mit Sondergenehmigung auch 1950 Abitur an dieser Schule. Im Anschluss Studium der Slawistik, Romanistik, Anglistik und Germanistik an der Universität Leipzig. Im Sommersemester 1950/51 Flucht in die Bundesrepublik. Ab Wintersemester 1951 an der Universität Freiburg im Breisgau Studium der Germanistik, Französisch und Philosophie. Bereits 1952 wurde Hofmanns erste Hörspielbearbeitung im Südwestfunk gesendet. 

1955 verteidigte Hofmann seine Dissertationsschrift mit dem lapidaren Titel „Interpretationsprobleme bei Henry James“ in Anglistik. Ausgangspunkt war Thomas Manns (1875–1955) Befund: »Alles, was heute als Roman bezeichnet wird, ist keiner.« (Der Roman soll nach der Definition eine abgeschlossene Darstellung einer abgeschlossenen Epoche sein.) Hofmann begründete mit Henry James (1843–1916) und Thomas Mann, dass mit noch so umfangreicher Epik die traditionelle Aufgabe des epischen Romans nicht mehr zu erfüllen ist. Eine Dialogstruktur des Romans soll statt dessen die Vergegenwärtigung der Geschichte im Kopf durch den Leser selbst ermöglichen. Dazu soll der Literat auf Aktualismus verzichten und ein Sujet wählen, das nicht mehr existiert, an das sich die Menschen jedoch noch erinnern. Ebenso sollte der Literat auf Befindlichkeiten und Autobiographisches verzichten. Eine assoziative Sprache kann die Vorurteile des Lesers neutralisieren und einen individuellen Zugang des Lesers ermöglichen: Kein Mitleid an der Oberfläche, Größe in der Tiefe darstellen. Da Größe im Leben kaum vorkommt, darf der Literat Größe erfinden. Größe ist aber nicht Sterben für das Vaterland o.ä., sondern Denkversessenheit und Wachheit (Denn ihr kennt weder den Tag noch die Stunde … Matthäus 25,13). Das Grundthema des Erzählens ist nicht „Es war soundso“ sondern: „Es hätte so gewesen sein können.“ Das Vorstellungsvermögen und die Erzählfähigkeit des Literaten kann und soll uns von der Sinnlosigkeit des Alltagslebens erlösen und unserem Leben einen Sinn geben.

In den 1950/60er Jahren war Gert Hofmann aber, trotz seiner theoretischen Erkenntnisse, der Meinung, dass nach James/Mann praktisch kein Roman mehr möglich sei. Deshalb konzentriert er sich auf Hörspiele, Theaterstücke, Fernsehspiele u.ä. Das erste eigenständige Hörspiel Gert Hofmanns „Die Beiden aus Verona“ inszenierte der Bayrische Rundfunk im Jahre 1959. Im Spätsommer 1961 begann Hofmann als Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in mehreren Ländern als Germanistik-Dozent zu arbeiten. Am Ende des Sommers 1971 zog die Familie Hofmann nach Klagenfurt in Österreich. Mit dem Wintersemester 1971/72 begann Hofmann eine Lehrtätigkeit an der Universität Ljubljana. Ein Hörspiel Thomas Bernhardts, das Gert Hofmann bei seinen Fahrten zwischen Klagenfurt und Ljubljana im Autoradio empfing, ließ ihn den Schritt zur Prosa wagen. Im November 1974 schickte Gert Hofmann seine erste Prosaarbeit, das Manuskript der Novelle „Die Fistelstimme“, in der zweiten Fassung, an Michael Krüger (Jg. 1943), den Leiter des Hanser-Verlags in München, – und erhielt keine Antwort. 

Der Salzburger Residenz-Verlag übernahm im Frühjahr 1979 die Erstveröffentlichung einer Prosaarbeit Gert Hofmanns, dessen Novelle „Die Denunziation“. In der Folge sah selbst die renommierte Kritikerin Sigrid Löffler (Jg. 1942) Gert Hofmann als österreichischen Autoren an. Im Herbst 1979 errang Gert Hofmann beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt den gleichnamigen Literaturpreis mit dem ersten Kapitel aus dem bis dahin immer noch unveröffentlichten Roman „Die Fistelstimme“. 1980 veröffentlichte der Luchterhand-Verlag in Darmstadt den Roman „Die Fistelstimme“. Luchterhand und Lektor Dr. Klaus Siblewski betreute Gert Hofmann in den folgenden Jahren und nahm entscheidenden Anteil an dessen Entwicklung.

1980 errang Gert Hofmann mit dem Hörspiel „Die Überflutung“ auch den Internationalen Hörspielpreis des Italienischen Radios RAI. Mit dem Sommersemester 1981 beendete Hofmann seine Lehrtätigkeit in Ljubljana, verlegte seinen Wohnsitz nach Erding bei München und wagte den Übergang zu einer freien Schriftstellerexistenz. In der anspruchsvollen „Zeitschrift für europäisches Denken – Merkur“, Nr. 35, erschien gleichzeitig mit diesem Schritt 1981 ein Text Hofmanns mit dem Titel „Fuhlrotts Vergesslichkeit“.

In den folgenden zwölf Jahren veröffentlichte Hofmann 14 „dramatisierte“ Romane oder Erzählungsbände. Jeder Text wurde von ihm in einer großen Zahl an Fassungen intensiv erarbeitet. Seine Ehefrau, die Germanistin Eva Hofmann, schrieb alle Texte auf ihrer Schreibmaschine. Gert Hofmann korrigierte handschriftlich und Eva Hofmann schrieb die nächste Fassung … Das ganze Verfahren war sehr aufreibend: Hofmann stand immer unter höchster Anspannung. Er spürte eine Art inneren Zwang, fühlte sich gehetzt: Ein „Vergessensloch“ kann sich jederzeit neben uns auftun (Fuhlrott) und wir könnten hineingezogen werden. 1982 erhielt Hofmann den Alfred-Döblin-Preis für die Novelle „Auf dem Turm“. 1983 nahm er für „Die Brautschau des Dichters Robert Walser“ den renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden entgegen.

Typisch für Hofmann wurden, so der Referent Eichler, Romane, wie „Das Glück“, „Unsere Eroberung“, „Veilchenfeld“, der „Kinoerzähler,“ in denen Kinder die Rolle der Erzählerstimmen übernahmen und die assoziative Sprache im Kopf jedes Lesers einen eigenständige Vergegenwärtigung hervorrief. Im „Kinoerzähler“ der in der Zeit zwischen 1933 und 1945 handelt, findet man zum Beispiel keine äußerliche Verurteilung des SS-Staates. Aber Hofmann hatte die Fabel des Romans, bei der der Kinoerzähler die Hoffnung hat, dass die NSDAP den Stummfilm wieder einführt – und der Leser weiß, dass das nicht der Fall sein kann – so erfunden, dass der Leser selbstständig den politischen Betrug begreifen kann. So entstand die paradoxe Situation, dass Hofmann einen singulären Schreibstil praktizierte, eine nichtideologische Sicht auf die deutsche Geschichte beförderte und mit seiner assoziativen Sprache die Vorurteile des Lesers erschütterte, ihn sich an eigene Fehlleistungen, Versagen, Kompensationen erinnerte, ohne dass eine einzige der bedeutenden Literaturpreis-Jurys in Deutschland dies zu würdigen vermochte. Doch im Sommer 1993 verlieh die Stadt München auf Vorschlag des verdienstvollen Kulturreferenten Siegfried Hummel ihren (kleinen) Literaturpreis an Gert Hofmann. Der Dichter verstarb noch vor der Preisverleihung, in der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1993, dem 251. Geburtstag von Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799). Postum erschien im Frühjahr 1994 Gert Hofmanns Lichtenberg gewidmeter Roman „Die Kleine Stechardin“, an dem er bis zu seinem Tod gearbeitet hatte. 

Heute sind die Bücher Gert Hofmanns noch antiquarisch erhältlich. In den Bibliotheken, außer in Limbach-Oberfrohna, wurden seine Bücher mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mangelnder Ausleihe als „Langweiler“ eingestuft und ausgemustert. Nur noch ausgesprochene Liebhaber kennen seinen Namen und sein Werk. Heute gibt es einen Literaturmarkt mit so vielen Büchern, wie noch nie – aber kaum noch Literatur.

Der 1987 im Luchterhand-Verlag erschienene Roman „Unsere Vergesslichkeit“, der aus dem Text „Fuhlrotts Vergesslichkeit“ von 1981 hervorging, kann uns auch in unserer heutigen Zeit Anregungen bieten.

Der Romanheld, der Physiotherapeut Fuhlrott, entdeckt beim „Staubwischen“, dass er nicht mehr weiß, ob er den Sessel bereits gewischt oder nicht – und ist schockiert – als das „Vergessensloch“ neben im auftaucht. Er heiratet und zeugt einen Sohn, damit sein Leben nicht vergessen wird, damit jemand von ihm berichten kann. Doch die Ehe geht schief und der Sohn lebt fortan bei der Mutter.

Deshalb blieb Fuhlrott nur das Schreiben, um dem Vergessensloch zu entgehen. Aber das Schreiben steht von Anfang an im Zeichen von Gegensätzen. Einerseits die Kritik des Vaters am Schreiben: Wer will denn heute noch lesen? Erweitere lieber Deine Praxis und hole Dir „schöne“ Honorare. Fuhlrott „pfeifft“ aber auf seine Praxis.

Andererseits die Bestärkung durch den Verleger Quatember: Vielleicht hast Du den Roman unserer Zeit geschrieben, der dringend notwendig ist und den alle erwarten. Doch, fragt Fuhlrott, wer erwartet denn diesen Roman? Er kennt niemanden, der diesen erwartet. Missverständnisse über Missverständnisse.

Nach der Veranstaltung diskutieren die Mitglieder des Freundeskreises in der Limbacher Traditionsgaststätte Lay am Markt noch lange über Gert Hofmanns Werk.

Der Erzählstil Hofmanns, seine Wortbildungen und Stolperer, seine am klassischen Erbe geschulte Sprache, mit dem er eine Vergegenwärtigung im Kopf des Lesers bewirken kann, ist dem Anschein nach seine eigentliche Leistung. Er vermag uns mit der vielfältigen und vielstimmigen Sprache anzuregen, die eigenen Fehlleistungen und Kompensationen wachzurufen, mit denen wir an den anderen Menschen vorbeireden, uns missverstehen. Hofmann zeigt uns, wie sich seine Helden, oft Verlierer und Außenseiter, in ihrer (seiner) Sprache als Menschen konstituieren. Das erinnert uns daran, dass die Grundlage aller Literatur das mündliche Erzählvermögen ist. Die Verschriftlichung der Sprache war eine große Errungenschaft für die Weitergabe von Wissen. Aber mit der Verschriftlichung entstand gleichzeitig das Problem der Formalisierung und der Erstarrung. Die Sprache musste beständig durch mündliches Erzählvermögen erneuert und wiederbelebt werden. Die Digitalisierung stellt noch einmal eine Errungenschaft in der Weitergabe von Wissen dar, potenziert aber die Gefahren der Erstarrung, Formalisierung und Degeneration der Sprache. 

Die Bedeutungsverluste von Büchern und die Qualitätsmängel heutiger Literatur sind letztlich Indikatoren für diese durch Verschriftlichung und Digitalisierung bewirkte Degeneration unserer Sprache. 

Doch mit der bezeichnenden Sprache und dem Vorstellungsvermögen im Kopf unterscheiden wir uns von Tieren und konstituieren uns als Menschen. Hofmann lässt Balzac in der Novelle „Balzacs Pferd“ sagen: Der Arzt mahnt mich zu Atemübungen, ich glaube jedoch an Fantasieübungen!

Es geht letztlich um unsere Vorstellungskraft im Kopf. Gert Hofmann hat dem wachen Menschen, der sich der Humanität verpflichtet fühlt, heute und in Zukunft etwas zu sagen.

Johannes Eichenthal

Information

Hier der sehenswerte Filmbericht des Regionalfernsehens Chemnitzer Land:

https://www.kabeljournal-chemnitzer-land.de/index.php?option=com_content&task=view&id=5678&Itemid=1

Im dritten und letzten Band der „Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland. Von Landauer bis Gundermann“ wird Gert Hofmann ein Kapitel gewidmet. Es wird in den Text von „Der Kinoerzähle“ eingeführt. Das Buch soll 2024 erscheinen:

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

2 thoughts on “GERT HOFMANN ZUM 30. TODESTAG

  1. Der Tod ist nicht das Ende, er ist nur im Augenblick der Transformation ein neuer Anfang, denn alles ist nur Wandel.
    Insofern kommt dem Verleger Dr. Andreas Eichler das uneingeschränkt große Verdienst zu, dem Verewigten erneut ein
    Denkmal gesetzt zu haben, was in Anbetracht seines Werkes, aktuell zum Nachdenken anregt. Gern denke ich an
    die Leseabende an historisch bedeutsamen Ort zurück, mit denen ich in aller Bescheidenheit einen kleinen Beitrag zur
    Verlebendigung von Gert Hofmanns Werk leisten durfte.
    Dass ich trotz Zusage zu meinem großen Bedauern verhindert war an der Gedenkveranstaltung teilzunehmen, bitte ich
    zu entschuldigen.
    Ihr Siegfried Arlt

  2. Ach, wie erfrischend, voller Lachen und Erstaunen waren die regelmäßigen Gert-Hofmann-Lesungen in der legendären Traditionsgaststätte „Stadt Wien“ gewesen! Ich denke da an das mehrfach gegebene „Verlegergespräch“ – mal mit Henry (dem lebendigen Karl-May-Lexikon aus Hohenstein-Ernstthal), mal mit Sigfried Hoyer (dem schmunzelnden Gastwirt selbst) als wortkargem Autor; an den „Lenz“, die Figur des heimkehrenden Sohnes, des Versagers, dessen tappige Einfalt mich immer wieder provozierte; und an den ebenfalls von Siegfried Arlt mit seiner unglaublichen sonoren Stimme köstlich gelesenen „Casanova“, der schließlich als alter Mann während eines Leichenzuges spontan seiner eigenen Mutter (unerkannt) von hinten auf den Arsch klatschte und daraufhin von sich selbst entsetzt war und von seinem Leben. Aber am besten war wohl doch der „Anruf aus Madras“ oder so ähnlich. Großartige, durchdachte, konzentrierte Literatur auf nur wenigen Seiten, statt langatmiger, unmöglicher sogenannter Romane, bei denen es einem um die Zeit schade ist.
    Ich muß mir mal wieder eine Hofmann-Erzählung gönnen.
    Vielen Dank, Andreas, daß Du den Sohn Limbachs bzw. sein Werk am Leben hältst!
    Steffen Heinrich

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert