Essay

VOLKER CAYSA: ZEIT IN GEDANKEN GEFASST

Zum ersten Todestag Volker Caysas (24. Juni 1957 bis 3. August 2017) möchten wir an das Werk dieses wachen Geistes erinnern. Wir veröffentlichen einen Gastbeitrag des Litterata-Herausgebers  Andreas Eichler.

 

Zeit in Gedanken gefasst

1. Ein wichtiges Ergebnis seiner philosophischen Gegenwartsanalyse legte Volker Caysa in einem Vortrag mit dem Titel »Am Ende der Mann-Zeit« im Jahre 2016 vor. Mitten in den aktualistischen Populismus-Schuldzuweisungen der etablierten Parteien an die außerparlamentarische Politik-Kritik verweist er »in Sorge um die Zukunft« (unveröfftl. Ms., S. 2) auf die konzeptionellen Defizite in Sachen Kultur.

2. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist eine Rezension der Arbeit von Tilmann Lahme »Die Manns. Geschichte einer Familie.« (Frankfurt/Main 2015) Im Werk Thomas Manns sieht Volker Caysa die in Auseinandersetzung mit dem »falschen Deutschtum des Hitler-Regimes« entwickelte Idee einer europäischen deutschen Kulturnation exemplarisch gegeben. (S.1) Dabei grenzt er sich sowohl von der abstrakten Vorstellung eines »Multikulturalismus« ab, als auch deren abstrakten Gegenentwurf, der Idee einer »deutschen Leitkultur«. Den Begriff der »Nation« gebraucht er in Anlehnung an Ernest Renan, als Einheit der mannigfaltigen gemeinsamen Erinnerungen und den Wunsch des gegenwärtigen und zukünftigen Zusammenhaltes. (S. 1)

3. Volker Caysa hebt die Thomas-Mann-Rezeption als eine wichtige intellektuelle Gemeinsamkeit beider deutscher Staaten zwischen 1945 und 1990 hervor. Zugleich bezeichnet er in diesem Punkt auch den entscheidenden Unterschied: Da man es in der Bundesrepublik nicht schaffte, sich mit dem von Bismarck begründeten Erbe der Verknüpfung von Kulturnationsidee und aggressiver imperialer Staatsidee auseinanderzusetzen, und die Tradition neu zu begründen, wurde auch kein positives Verhältnis zu Thomas Manns Kulturstaatsidee entwickelt und man ergab sich dem abstrakten Multikulturalismus. Die heutigen konzeptionellen Leerstellen sieht Caysa als direkte Folge der Unfähigkeit zur Erneuerung der Tradition der »Thomas-Mann-Zeit«: »Deutschland droht kein funktionierender Staat mehr zu sein, weil wir keine Kulturnation mehr sind. 1871 konnte es nur geben, weil es das Schillerjahr 1859 gab; die politische Metropole Berlin gab es nur, weil Goethe in der Provinz Weimar unsere Kultur neu begründete.« (S. 5)

4. Untergegangen sei der »Geist der Mann-Zeit« in der von dem Staatsphilosophen Jürgen Habermas nach 1989/90 ausgerufenen »postnationalen Wende«. Das darauf folgende Konzept der »nachholenden Revolution« stehe für die territoriale Ausdehnung des bundesrepublikanischen wirtschaftsliberalen Demokratie-Modells. Damit fand der Kampf von Habermas gegen die Kulturnation Deutschland und auch gegen die traditionelle Kritische Theorie … seinen krönenden Abschluss, indem er der deutschen Kultur den Primat amerikanisch-liberaler Demokratie unterordnete.« (S. 6)

5. Gegen diesen »intellektuellen Verrat an der Kulturnationsidee« stellt Volker Caysa die Gegenposition: »Thomas Mann trennt sich bekanntermaßen … von der ‹Verkalkungs-Prophetie› des ‹Untergang des Abendlandes› und deren Entgegensetzung von Zivilisation und Kultur. Vielmehr vertritt er die Auffassung, dass im Kern die deutsche Kultur ein Zivilisationsprojekt ist. Deutschsein heißt für ihn zivilisiert sein. Zivilisation wird also als wesentliche Aufgabe der deutschen Kultur verstanden. Das bedeutet, dass die kulturelle Mitte im Wesen Zivilisiertheit auszeichnet. Wesentliche Aufgabe von Kultur ist also Zivilisation zu ermöglichen. Das hat aber zur Konsequenz, dass Staat und Kultur sich nicht mehr in einem abstrakten Gegensatzverhältnis befinden und das Verhältnis von Kultur- und Staatsnation, von Wirtschaftsmaterialismus und Kulturidealismus neu austariert wird.« (S. 5)

6. Der Wiener Politikwissenschaftler Oliver Marchart sprach in einem Interview mit dem Wiener Standard (http://derstandard.at/2000062428651-629/Die-Kritik-am-Populismus-ist-inhaltslos) unter Berufung auf Antonio Gramsci von einer umfassenden gesellschaftlichen Krise: »Es scheint als hätte die neoliberale Politik der vergangenen Jahrzehnte zu einer Teilung der Gesellschaft in zwei annähernd gleich große Lager geführt: Die eine Hälfte gehört zu den Verlierern oder fürchtet, sie könnte zu ihnen gehören … Die andere Hälfte zählt zu den Gewinnern oder glaubt dazuzugehören … Es ist sehr interessant, dass wir in den vergangenen Wahlauseinandersetzungen oder in den Brexit-Abstimmungen ganz knappe Mehrheiten hatten und unversöhnliche Lager aufeinanderprallten. Diese Lager fallen so weit auseinander, dass sie gar nicht mehr auf dem Grund desselben politischen Gemeinwesens stehen.«

7. Mittlerweile liegen auch die kultursoziologischen Untersuchungsergebnisse von Matthias Theodor Vogt vor, der die sozialstrukturellen Gegensätze des Nach-Industriezeitalters aus den Gegensätzen von Metropolen und abgehängten Regionen erklärt. (https://www.mironde.com/litterata/6673/reportagen/wenn-zornige-buerger-berlin-den-nackten-hintern-zeigen). Vogt vergleicht eine Karte mit den konkreten Ab- und Zuwanderungsverhältnissen der Regionen in Deutschland von 2012 mit den Ergebnissen der Bundestagswahl 2017. Er kann deutlich machen, dass die Unzufriedenheit mit heutiger Politik kein Ost-West-Problem, sondern auf die Spaltung der Gesellschaft in Metropolen und abgehängte Landkreisräume zurückzuführen ist.

8. Im Geiste Thomas Manns erinnert Volker Caysa daran, dass »das Verhältnis von Kultur- und Staatsnation, von Wirtschaftsmaterialismus und Kulturidealismus neu austariert« werden muss. Wirtschaft ist eine Grundlage menschlicher Existenz, nicht mehr und nicht weniger. Aber Wirtschaftseffizienz allein stiftet keine Gemeinschaft und keinen Sinn. Vom kulturellen Ideal allein können wir nicht existieren. Doch Humanität stiftet Gemeinschaft mit anderen Menschen, mit der Natur und mit dem göttlichen Wesen des Universums. Es geht darum, dass im 21. Jahrhundert in Deutschland endlich die sozialen Formen gefunden werden, in denen sich die Gegensätze von Wirtschaftseffizienz und Kulturideal weiter bewegen können. Aufgrund der geographischen Lage und der Geschichte ist eine derartige innere Selbstbestimmung Deutschlands als Kulturnation in Europa Voraussetzung und Resultat seiner geopolitischen Aufgabe als kulturell-vermittelnde Brücke zwischen Nord- und Südeuropa und zwischen West- und Osteuropa. Das kleine Österreich praktiziert seit 1955, und noch mehr seit 1990, mit Erfolg eine derartige Politik.

Andreas Eichler

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