Rezension

KAPITALISMUS UND TODESTRIEB


Der aus Korea stammende Berliner Philosophieprofessor Byung-Chul Han veröffentlichte im Verlag Matthes & Seitz eine Aufsatzsammlung. Der erste Essay, der den Titel »Kapitalismus und Todestrieb« trägt, ist auch für das Buch titelgebend. Im Unterschied zu allen anderen Beiträgen, deren Erstveröffentlichungen in der »Süddeutschen Zeitungen«, dem »Tagesspiegel«, der »Zeit«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Welt«, dem »Philosophie Magazin« und dem »1. Spielzeitheft der Schaubühne« erschienen, handelt es sich bei »Kapitalismus und Todestrieb« um eine Erstveröffentlichung. Deshalb wollen wir unsere Lektüre auf diesen Text beschränken.

Der Autor beginnt mit einer These: »Was wir heute Wachstum nennen, ist in Wirklichkeit ein karzinomatöses, zielloses Wuchern. Wir erleben gegenwärtig einen Produktions- und Wachstumsrausch, der wie ein Todesrausch anmutet. Er täuscht eine Vitalität vor, die das Nahen einer tödlichen Katastrophe verdeckt. Die Produktion gleicht immer mehr einer Destruktion. Die Selbstentfremdung der Menschheit hat womöglich jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss erleben lässt. (S. 7)
Wie begründet er seine These, in der er die Kongruenz von »Wachstumsrausch«, »Todesrausch«, und »tödlicher Katastrophe« setzt?
Zunächst zitiert er den Wiener Arzt Arthur Schnitzler, der die Menschheit mit »blinden Bazillen« verglich. (S. 8) Weiter geht es zum Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud, seiner »Triebtheorie« und seiner These vom »menschlichen Todestrieb« und der Freudschen Behauptung, Leben wolle immer wieder zum unbelebten Zustand zurückkehren. (S. 8 ff)
Vom Freudschen »Todestrieb« weiter zum Wachstumszwang: »Der Kapitalismus beruht auf der Negation des Todes. Das Kapital wird akkumuliert gegen den Tod als absoluten Verlust. Der Tod bringt den Produktions- und Wachstumszwang hervor.« (S. 12) Über Exkurse zur Blutrache (S. 13), zur Theorie des Geldes – hier als »gefrorenes Opferblut« bezeichnet, Ausführungen zum »Mana«-Kult archaischer Krieger und dem verkauften Schatten von Chamissos Peter Schlemihl, formuliert der Autor seine nächste These: »Der Kapitalismus generiert einen paradoxen Todestrieb, denn er bringt das Leben ums Leben. Tödlich ist sein Streben nach einem todlosen Leben.« (S. 17)
In dieser zweiten These setzt der Autor Todestrieb mit Verdrängung des Todes und diese Verdrängung mit einem »todlosen Leben«, mit Erstarrung gleich. Der »Tod« erhält in diesem Zusammenhang plötzlich die positive Konnotation von »Verflüssigung der Erstarrung«. Nach einem längeren Erich-Fromm-Zitat bringt der Autor Jean Baudrillards Vorschlag ins Spiel, das »System« solle sich selbst »umbringen«. (S. 19) Wer Baudrillard einigermaßen kannte, der weiß, dass solche Bemerkungen ironisch gemeint waren. Nach einer kurzen Pause sagte er dann in der Regel, dass das »System« dazu garnicht fähig sei.


In der Ausgangsthese hatte der Autor »Wachstumsrausch«, »Todesrausch«, und »tödlicher Katastrophe« gleichgesetzt. Wir gingen deshalb davon aus, dass er die Menschheitskatastrophe verhindern wollte. Unvermittelt setzt der Autor jedoch »Todestrieb« mit der Unfähigkeit »des« Kapitalismus, »sich selbst zu töten« gleich. Doch die Katastrophe wäre in niemandes Interesse.
Was wollte uns der Autor sagen? Das vermag er nicht deutlich zu machen. Aber er steuert wie ein Navigationssystem durch Thesen, Zitate und Autorennamen – selbst in die Sackgasse okzidentaler Rationalität. Diese bloß quantifizierende Rationalität war ein Moment des Aufstiegs der westliche Industriegesellschaft und ihrer Dominanz in der Welt. Aber im 20. Jahrhundert schlug die Dominanz um. Die nationale Befreiung der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas von kolonialer Unterdrückung war das Symbol. Seither nehmen vor allem die Völker Asiens wieder das Gewicht ein, das sie vor 1500 innehatten (Pankaj Mishra). Allein dadurch entstand ein Niedergang des Westens, ohne dass Fehler in der Politik gemacht werden mussten (Samuel Huntington).

Die Weisheiten der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas können den Individuen der westlichen Kultur helfen, aus der bloß quantifizierenden Vernunft wieder zur eigenen Tradition von Weisheit zu finden. Im Buddhismus oder im Daoismus finden sich interessante Anregungen. Dann können wir auch auf die hilflose Kompensation der bloß quantifizierenden Vernunft mit einer »Triebtheorie« wieder verzichten. (Zumal die Psychoanalyse nach Jacques Lacan keine Triebtheorie ist!) Um unseren Platz im Kosmos zu begreifen, müssen wir uns gerade um den Zusammenhang des scheinbar Unbelebten mit allen Formen des Lebens bemühen: »Der Ausdruck Leibniz’, daß die Seele ein Spiegel des Weltalls sei, enthält vielleicht eine tiefere Wahrheit als die man aus ihm zu entwickeln pfleget: denn auch die Kräfte des Weltalls scheinen in ihr verborgen und sie bedarf nur einer Organisation oder einer Reihe von Organisationen, diese in Tätigkeit und Übung setzen zu dörfen.« (Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teil 1/1784. In: Herder Werke. Hrsg. Wolfgang Pross. Bd. III/1, S. 183) Die Kräfte, die in der scheinbar unbelebten Materie immer wieder Formen des Lebens hervorbringen, die sind unerschaffbar und unzerstörbar. In diesem Sinne ist die Hoffnung auf Unsterblichkeit dieser Kräfte geradezu eine Grundlage der Humanität. Noch gewährt uns die Natur Zeit zur Umkehr.
Johannes Eichenthal


Information
Byung-Chul Han: Kapitalismus und Todestrieb. Matthes & Seitz, Berlin 2019.
ISBN 2019 978-3-95757-830-3

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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