Essay

DIE WISSENSCHAFT ÜBER WALTHER RATHENAU

Für die akademische Wissenschaft ist der Philosoph Walther Rathenau bis heute ein Rätsel. So meinen die Autoren des in der DDR erarbeiteten Großprojektes zur deutschen Literaturgeschichte, dass Rathenau eine irrationalistische Zeitkritik betrieben habe. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zu Gegenwart. Bd. 9. Berlin 1974, S. 299) Einige Seiten weiter versteigen sie sich dazu, Rathenau Mystifizierung zu unterstellen. (Ebenda S. 320) Im Band 10 dieser Literaturgeschichte führt man diese Art von Rathenau-Kritik weiter und beruft sich dabei auf Robert Musil. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zu Gegenwart. Bd. 10, Berlin 1978, S. 328)

Peter de Mendelssohn macht in seiner Geschichte des S. Fischer Verlages keinen Hehl aus seinen Ressentiments gegenüber Rathenau: Robert Musil, der … in der Neuen Rundschau einen vorzüglichen Aufsatz  … veröffentlichte, nannte Rathenau kurzweg einen Mystiker. (Peter de Mendelssohn.S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt 1970, S. 594)

Auch in der Rathenau-Gesamtausgabe wird Musils Darstellung Rathenaus als Dr. Arnheim von Ernst Schulin als tiefgründig bezeichnet. (Walther Rathenau Gesamtausgabe. Bd. II. Hauptwerke und Gespräche. Verlag Lambert Schneider. Heidelberg 1977, S. 10) Ebenso übernahm Schulin unkritisch die Darstellung Arnheims/Rathenaus durch Musil als alternder (AEG-)Kronprinz

Das Gebäude des S. Fischer-Verlags in der Berliner Bühlow-Straße symbolisiert seit 1897 die von Samuel Fischer begründete europäische Kulturbrücke.

Wie kam Musil zu seinen Gefühlsäußerungen?

Musil und Rathenau waren sich im Donnerstagskreis des S. Fischer Verlages begegnet. Dem Anschein nach verstörte Rathenaus Philosophie den empiristischen Logiker und Schriftsteller Musil, ohne dass er Rathenaus Argumentation verstehen oder darauf antworten konnte. Musil nahm sich darauf das zweite philosophische Werk Rathenaus mit dem Titel Die Mechanik des Geistes. Vom Reich der Seele von 1913 vor und veröffentlichte seinen daraus resultierenden Verriss in der Zeitschrift des S. Fischer Verlages Neue Rundschau im April 1914 unter dem Titel Anmerkungen zu einer Metapsychik (In: Essays, Reden, Kritiken. Berlin 1984, S. 89 ff.) Musil kannte nur hierarchisches Denken und benutzte den Ausdruck Meta (aus dem Griechischen = das Übergeordnete) um Rathenaus Darstellung als eine Art Metaphysik der Seele (S. 94) einzuordnen. Für die empiristische Logik war Metaphysik ein disqualifizierender Ausdruck. Auch zum Begriff der Seele hatte der österreichische Schriftsteller Musil, in einer Zeit, in der Dr. Sigmund Freud in Wien wirkte, keine sachliche Beziehung. Musil ersparte sich die Mühe jeglicher Textanalyse. Er fügte statt dessen weitschweifig Behauptung an Behauptung. Den Inhalt des Rathenauschen Buches führte Musil auf ein Grunderlebnis der Mystik zurück. (S. 91) Ähnlich dem Vorwurf Immanuel Kants gegen Johann Gottfried Herder bemängelt Musil bei Rathenau das Fehlen der Tugenden Methodik und Genauigkeit (S. 93) und versucht gleichzeitig das Fehlen genauer Textanalyse in seiner eigenen Kritik mit dem Verhängnis des Ganzen des Rathenauschen Werkes (S. 94) zu entschuldigen.

In einem Interview aus dem Jahre 1926, vier Jahre nach der Ermordung Rathenaus durch Offiziere aus der Einheit Hauptmann Ernst Röhms vom Reichswehr-Gruppenkommando in München, in dem Musil erstmals über sein Großprojekt sprach, das damals noch Die Zwillingsschwester hieß, und später unter dem Titel Der Mann ohne Eigenschaften unvollendet veröffentlicht wurde, ging er noch einen Schritt weiter. Er wies ausdrücklich darauf hin, dass er mit der Figur des Dr. Paul Arnheim Walther Rathenau darstellen wollte. Dieser trete unter der Legende eines Erholung suchenden Schöngeistes auf, es gehe ihm aber in Wirklichkeit nur um die Aneignung von Erzschürf- und Holzeinschlagrechten für seinen Konzern in Bosnien. (Ebenda, S. 404) 

Diese Verurteilung, die nahezu das Gegenteil von dem behauptet, das Rathenau lebte, sagt mehr über den Charakter Musils als den Rathenaus aus. Die moralisierende Stigmatisierung Rathenaus als bloßer Geschäftemacher und Mystiker nahm mit der Zeit jedoch den Rang eines allgemeinen Vorurteils an. Vielfach wurde Rathenau zudem mit dem Mann ohne Eigenschaften verwechselt.

So kamen hochrangige Wissenschaftler 1989 auf die Idee, eine Tagung zur Verteidigung des Werkes Walther Rathenaus mit dem Titel Ein Mann vieler Eigenschaften zu überschreiben. Der Tagungsband wurde eingeleitet von Ulrich Raulff. 

Der US-Wissenschaftler Thomas P. Hughes versuchte in seinem Beitrag Walther Rathenau mit dem Wort System builder zu charakterisieren. Im letzten Abschnitt setzt er Rathenaus Sicht mit der von Lewis Mumford (1895⏤1990) in seinem Buch Der Mythos der Maschine gleich. Hughes übersah dabei die Unterschiede zwischen Rathenau und dem Architekten, Freudianer und Darwinist Mumford.

Hans Dieter Hellige kritisierte im Anschluss den Ansatz von Hughes. Erst im letzten Absatz deutet Hellige zutreffend an, dass Rathenau nach Möglichkeiten suchte, um die Spannung von Vergesellschaftung und Bewahrung der Humanität in eine Form zu bringen.

Jürgen Kuczynski trug eine Mischung aus seinen bekannten Hypothesen von Industrie-Revolutions-Zyklen und persönlichen Anekdoten vor. Er verstieg sich dazu, Walther Rathenau einen kleinlichen Charakter zu unterstellen, weil der sich einmal ungeschickt verteidigte. Im letzten Absatz behauptete Kuczynskis Rathenau habe eine zweitklassige Philosophie vertreten und nicht bemerkt, dass er ein Weiser der Weltbetrachtung gewesen sei. 

Ist nicht Philosophie Liebe zur Weisheit? Wo keine Weisheit ist, da ist auch kein Philosoph und umgekehrt: Wenn Rathenau ein Weiser war, dann war er auch ein Philosoph.

Der US-Wissenschaftler Gerald D. Feldmann referierte unter dem Stichwort Der unschlüssige Staatsmann über Rathenaus Leistung als Politiker. Er berührt aber mit keinem Wort Rathenaus Rolle auf der Konferenz in Genua von März bis Mai 1922. Die schweren Verhandlungen konnte Rathenau mit Erfolg führen, weil er seiner Philosophie folgte. Er vermochte die ehemaligen europäischen Kriegsgegner zur Anerkennung eines verständigungsbereiten Deutschlands zu bewegen und aus dem isolierten Deutschland, das von den Siegern als Alleinschuldiger des Krieges gebrandmarkt worden war, eine aktive Vermittlerrolle zwischen England/Frankreich auf der einen und Russland auf der anderen Seite zu gewinnen. (Harry Graf Kessler) In seiner Abschlussrede am 19. Mai 1922 erklärte Rathenau unter dem Beifall der Vertreter Europas, dass man dem neuen Europa und seiner Zukunft die nicht rückzahlbaren Schulden gegenüber dem Generalgläubiger USA opfern müsse.

Nicht nur Deutschland, sondern auch die Siegermächte England und Frankreich, Partner, ein Bündnis gingen die USA nicht ein, waren bei den USA verschuldet. Gleichzeitig hatten die USA die Einfuhrzölle erhöht, um die heimische Wirtschaft zu schützen. Die Schuldner konnten ihre Schulden faktisch nicht zurückzahlen. (Michael Hudson: Der Finanzimperialismus. Klett-Cotta, Stuttgart 2017, S. 19⏤69)

Schloss Wiepersdorf. Hierher musste sich die Familie von Bettina und Achim von Arnim in materieller Notlage zurückziehen. Hier ist der Ursprung des Goethe-Mythos zu suchen.

Wolf Lepenies, der heute vielleicht beste Kenner des Werkes Rathenaus in Deutschland, versuchte am Ende unter der Überschrift Das Geheimnis des Ganzen die widersprüchlichen Tagungsergebnisse zusammenzufassen. Mit der etwas missverständlichen Formulierung, dass wir mit Rathenau einer Person stets präsenter Zweitrangigkeit begegnen, will er dem Anschein nach ausdrücken, dass Rathenau nicht den Ehrgeiz hatte auf einem Gebiet zu brillieren. Dies wird deutlich, indem Lepenies mit Berufung auf Arnold Gehlen darauf verweist, dass einzelne Personen die Rolle einer Institution einnehmen können, und dass Rathenau ein ganzes Bündel an Institutionen gewesen sei. Diese Formulierung erinnert an Jean Pauls Einschätzung Herders: Dieser habe das Unglück gehabt ein ganzes Bündel von Sternen erster Ordnung gewesen zu sein. Damit habe er seine mittelmäßigen Zeitgenossen verunsichert.

Ohne Zweifel verunsicherte auch das Genie Rathenau seine Zeitgenossen. Er vermochte wie Meister Eckhart oder Johann Gottfried Herder, mit Besonnenheit mehrere, zum Teil gegensätzliche Denkströmungen zusammenzuführen. Wenn man das nicht bedenkt, findet man keinen Zugang zu seinem Werk und meint am Ende von »Zerrisenheit« bei Rathenau reden zu müssen.

Lepenies verweist darauf, dass die Historiker auf der Tagung formulierten, dass sie noch gern gewusst hätten, was Rathenau da und dort gesagt habe. Aber es reicht nicht, Rathenaus Tätigkeit und seine Äußerungen äußerlich zu beurteilen. Lepenies plädiert dagegen in hermeneutischer Absicht dafür Schlegel, Novalis, Kleist und Goethe heranzuziehen, um Rathenau verstehen zu können. Dem Anschein nach war Wolf Lepenies der einzige Tagungsteilnehmer, der über hermeneutische Fähigkeiten verfügt. 

In der Tat kann man Rathenaus Texte ohne den Goethe-Mythos, den seine Großeltern in den Salons von Bettina von Arnim und Rachel Varnhagen van Ense aufnahmen, und den sie an ihren Enkelsohn weitergaben, nicht verstehen.

Johannes Eichenthal

Information

Budensieg, Tilmann, Hughes Thomas; Kocka, Jürgen u.a.. Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. = Bd. 21 der Kleinen Kulturwissenschaftlichen Bibliothek. Verlag Wagenbach, Berlin 1990

Johannes Eichenthal: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 2. Von Goethe bis Rathenau.

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Fotos, Karten und Abbildungen 

VP 29,90 €  

ISBN 978-3-96063-026-5

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Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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