Essay

VOM RECHT DER NATUR

Am 31. Dezember 2022 verstarb der emeritierte Papst Benedikt XVI. mit dem bürgerlichen Namen Joseph Ratzinger. Er war nicht nur Theologe und kirchlicher Würdenträger, sondern auch einer der bedeutendsten Philosophen. Was bleibt von seinem philosophischen Werk, was hilft uns bei der Suche nach einem Ausweg aus der Existenzkrise der Menschheit? Wenn man so fragt, dann kommt man um die Diskussion des damaligen Kardinals Joseph Ratzinger mit dem emeritierten Soziologie- und Philosophie-Professor Jürgen Habermas in München im Jahre 2004 nicht umhin. In der Litterata veröffentlichten wir 2019 eine Erinnerung an den 15. Jahrestag dieser Diskussion. https://www.mironde.com/litterata/8260/rezension/der-philosoph 

Der Differenzpunkt zwischen beiden Diskutanten war der, dass der Intellektualphilosoph Habermas in Kantischer Manier Philosophie auf „reine Vernunft“ reduzierte. Für seine „nichtreligiöse“ und „nachmetaphysische“ Verrechtlichungs-Konzeption versuchte Habermas das überlieferte Naturrecht zu instrumentalisieren. Seine intellektualphilosophischen Voraussetzungen erlaubten es ihm jedoch nicht, die wirkliche philosophische Dimension des Naturrechts zu erkennen.

Kardinal Ratzinger verwies dagegen in der Tradition von Philosophie als Liebe zur Weisheit darauf, dass sich Vernunft und Glaube gegenseitig ausschließen und bedingen. Weder die Beschränkung auf den Glauben oder auf die Vernunft allein sei hinreichend. Vielmehr gehe es um deren wechselseitige Begrenzung. Er antwortete auf Habermas: »Als letztes Element des Naturrechts, das im Tiefsten ein Vernunftrecht sein wollte, jedenfalls in der Neuzeit, sind die Menschenrechte stehen geblieben. Sie sind nicht verständlich ohne die Voraussetzung, dass der Mensch als Mensch, einfach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, dass sein Sein selbst Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden sind. Vielleicht müsste heute die Lehre von den Menschenrechten um eine Lehre von den Menschenpflichten und von den Grenzen des Menschen ergänzt werden, und das könnte nun doch die Frage erneuern helfen, ob es nicht eine Vernunft der Natur und so ein Vernunftrecht für den Menschen und sein Stehen in der Welt geben könnte.«  (Ratzinger, Joseph Kardinal: Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates. In: Werte in Zeiten des Umbruchs. Herder Verlag. Freiburg/Br. 2005, S. 36)

In seinen Ausführungen über Vernunft und Glauben macht Ratzinger deutlich, dass er in der Weisheits-Tradition eines Nikolaus von Kues (1404–1464) steht. Kues hatte mit seiner Schrift »Friede im Glauben« nach der Besetzung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahre 1453 gegen vorherrschende Kreuzzug-Reflexe der Politiker die einzelnen Religionen, vertreten durch Engel, in einer Diskussion mit Gott in Weisheit nach einer Konfliktlösung suchen lassen.

Paulus Niavis (Paul Schneevogel, um 1460 – nach 1514) lehnte sich in seinem Buch „Judicium Jovis – Das Gericht der Götter“ von 1493 an Kues an. Er ließ Mutter Erde in einer Gerichtsverhandlung die Menschen wegen der Naturzerstörung durch den Bergbau anklagen. Jupiter beauftragte Göttin Fortuna mit dem Urteilsspruch. Fortuna gestattete weiter den Bergbau, ermahnt die Menschen aber, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

Christian Thomasius (1677–1728) unterschied in seiner „Grundlehre des Natur- und Völkerrechts“ von 1709 (Ausgewählte Werke Bd. 18, Georg Olms Verlag 2003) das „angenommene Recht“, in dem es um Herrschaft und Eigentum geht, und das „angeborene natürliche Recht“, dass den Menschen im Herzen eingeschrieben sei: „Alldieweil aber das natürliche Recht in aller Menschen Hertzen geschrieben ist/ andere Offenbarung aber und der blossen Autorität nicht benöthiget ist/ so wird es daher göttlich genennet/ nemlich/ weil es von dem Urheber aller/ und also auch der menschlichen Natur/ von Gott herrühret.“ (S. 99)

„Göttlich“ also deshalb, weil der Ursprung des Naturrechts außerhalb der Menschen liegt. Die natürlichen, göttlichen Gesetze tragen nach Thomasius eher den Charakter von Ratschlägen als von Herrschaftsinstrumenten: „Weiter so bildet sich ein weiser GOtt mehr als einen Lehrer des natürlichen Rechts/ denn als einen Gesetz-Geber ein. Denn das Recht der Natur ist ein Schluß der ruhigen/ nicht aber durch die Begierden verunruhigten Vernunft. Dieses aber kommt einem Lehrer zu/ daß er die Vernunft durch guten Rath beruhigen möge. Die Gesetze werden publiciret. Ein Welt-Weiser weiß von keiner Publication oder Verkündigung des natürlichen Rechts.“ (100 f.)

Thomasius fügt an, dass man sich Gott oft als einen König oder Herren vorstelle, der die Missachtung seiner Gebote mit willkürlichen Strafen belege. Aber die „Strafen der Natur“, die auf Verletzungen des Rechts der Natur folgten, seien keine äußerlichen Strafen. Die Gegenreaktionen der Natur kämen langsam, zunächst kaum sichtbar, als ob die Natur den Menschen Zeit zum Lernen geben wolle. 

Johann Gottfried Herder (1744–1803), der Christian Thomasius hochschätzte und mit Luther verglich, knüpfte an der Naturrechtslehre an. In seiner Kant-Kritik verteidigte Herder die Weisheit gegen die Intellektualphilosophie. In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–1791) begründete Herder die Entstehung der Erde aus kosmischen Kräften. Weder die Erde noch die Menschen verdankten ihre Existenz sich selbst. Lange vor der sogenannten „Gaja-Hypothese“ begründete Herder in diesem Buch, dass die Erde ein Lebewesen ist.

Walther Rathenau (1867–1922) führte in seinem Buch „Von kommenden Dingen“ die Herdersche Kritik an der Kantischen Intellektualphilosophie weiter und verwies darauf, dass sich die Lage der Menschheit durch die Verbindung von Industrie und Vernunft verändert habe. Das Resultat dieser Verbindung sei die Mechanisierung/Globalisierung, d.h. die Durchdringung des gesamten menschlichen Lebens mit der Forderung nach finanzieller Effizienz. Die Intellektualphilosophie, so Rathenau, hilft nicht nur nicht, uns vor der Versklavung durch das finanzielle Effizienzstreben zu schützen, sie beschleunigt im Gegenteil den Prozess der Mechanisierung/Globalisierung sogar.

Papst Franziskus (Jg. 1936) knüpfte in seiner Enzyklika „LAUDATO SI‘. Über die Sorge für das gemeinsame Haus.“ (2015) an seinem Vorgänger an. Er verwies darauf, dass die Natur keinen Abfall produziert und dass sich die Menschen, deren Leben heute noch von der börsengetriebenen Wachstums- und Wegwerfwirtschaft dominiert wird, sich wieder in diesen Naturprozess einfügen müssen. Problematisch sei, dass Großwirtschaft und Politik immer noch die Beherrschung der Natur erzwingen wollten, während sich die überspezialisierte Wissenschaft in ihren Formeln gefalle. Weder Wirtschaft, Politik noch Wissenschaft hätten ein Leitbild vom Naturkreislauf entwickelt. Als Kompensation für ihre Fehlleistungen in Existenzfragen zelebrieren sie medialen Grünwasch-Aktionismus. Aber ein Leitbild, so Franziskus, ist Voraussetzung für die Wiedereinordnung der Menschheit in den Naturkreislauf.

In der Existenzkrise der Menschheit brauchen wir die Hoffnung, den Glauben, dass wir der Vernunft der Natur teilhaben, dass wir ein Leitbild vom Naturkreislauf entwickeln und bewusst als Teil der Natur leben können. Im Weisheits-Erbe der Menschheit finden wir notwendige Voraussetzungen. Darauf bereits im Jahre 2004 aufmerksam gemacht zu haben, bleibt ein Verdienst Joseph Ratzingers.

Johannes Eichenthal

© Fotos: Reinhold Schandl

Information

Der Litterata-Artikel von 2019: https://www.mironde.com/litterata/8260/rezension/der-philosoph 

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

3 thoughts on “VOM RECHT DER NATUR

  1. Das hat der Eichenthal wieder gut zusammengefaßt. Da hatte ich doch die letzten Wochen wieder einmal so sinniert, wie unvernünftig vernünftig der Mensch doch sei und mit wohlfeilen Phrasen auf den Lippen ins Verderben marschiert, und prompt erklärt er so schön mit altbekannten Weisheiten, was sich dahinter verbirgt und was zu tun sei. Demut fehlt, nicht wahr?

  2. Viel Weisheit in wenigen Worten. Oft hören wir durchaus Ähnliches mit viel Worten und am Ende doch unvollständig und ohne Wirkung. Danke an Johannes Eichenthal!

  3. „Weiter so bildet sich ein Weiser Gott mehr als einen Lehrer des natürlichen Rechts/ denn als einen Gesetz-Geber ein. Denn das Recht der Natur ist ein Schluß der ruhigen/ nicht aber durch die Begierden verunruhigten Vernunft. Dieses aber kommt einem Lehrer zu/ daß er die Vernunft durch guten Rath beruhigen möge. Die Gesetze werden publiciret. Ein Welt-Weiser weiß von keiner Publication oder Verkündigung des natürlichen Rechts.“
    denn: „der (nackte) Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig…“
    oder: „könnte ich nennen den Namen, es wäre kein ewiger Name….“

    Danke für den Gedanken-Stammbaum an Johannes Chrysostomos….und Grüße aus dessen alter Wirkungsstätte

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