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Reportagen

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Der 14. November war ein nasskalter Herbsttag. Bereits am späten Nachmittag legte sich die Dunkelheit über die Landschaft, Dörfer und Städte. Unsere Fahrt durch Chemnitz wurde von Umleitungen, Baustellen und wieder Umleitungen beeinträchtigt. Endlich kamen wir an unser Ziel: das »Kulturkaufhaus« TIETZ.

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Im ersten Stock öffnete sich uns die erhellte Neue Sächsische Galerie. Der Beamer projizierte bereits ein erstes Bild. Hier traf sich die Goethe-Gesellschaft Chemnitz. Alle, denen die geistige Kultur am Herzen liegt, waren dem Anschein nach gekommen. Und schon begrüßte Siegfried Arlt, der Vorsitzende der Chemnitzer Goethe-Freunde, die Gäste und führte sie zum anstehenden Vortrag hin. Er erinnerte daran, dass Birgit & Dr. Andreas Eichler mit dem Mironde-Verlag in den letzten Jahren bereits zwei Bände der »Literarischen Wanderungen durch Mitteldeutschland« vorgestellt hatten und dass das Erscheinen des abschließenden dritten Bandes für April 2025 angekündigt ist. Vorab werde Andreas Eichler, selbst Mitglied der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft, am heutigen Abend einen  »Werkstattbericht« zum Stand der Arbeiten am dritten Band mit dem Titel »Von Thomas Mann bis Gundermann« geben.

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Eichler bedankte sich bei der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft und ihrem Vorsitzenden für die Möglichkeit des Vortrages. Der Blick der Chemnitzer Goethe-Freunde sei nicht auf den Namensgeber beschränkt. Zudem pflege man hier, um Goethe gerecht zu werden, eine weite Auffassung von Literaturgeschichte, die auch Wissenschaft, Medizin, Technik u.a. einschließe. 

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Dann nahm Eichler die Gäste mit auf eine Reise von Thomas Mann bis Gundermann. 24 Schriftstellerinnen und Schriftsteller stellte er mit einem Porträt und mit dem Foto eines Wirkungsortes vor. Thomas Mann und sein Goethe-Roman »Lotte in Weimar« bildeten den Ausgangspunkt. Die Mundartgeschichten Anton Günthers stellten den Kontrast zur Hochliteratur her. Der Zwickauer Kaufhaus-Unternehmer Salman Schocken wurde als Chef des Schocken-Verlags vorgestellt. Der Romanistik-Professor Victor Klemperer trat als Filmkenner auf. »Das goldene Weihnachtsbuch« stand bei dem in Zwickau geborenen Kurt Arnold Findeisen im Mittelpunkt. Edgar Hahnewald beschrieb in singulärem Stil einen Spaziergang durch Wolkenstein. Die gebürtig Chemnitzerin Marianne Brandt trat als Autorin auf. Anna Seghers wurde mit Ihrem Roman »Transit« und Liselotte Welskopf-Henrich mit ihrem Roman »Die Söhne der großen Bärin« vorgestellt. Erika Albrecht ermittelte die Stadt Tambach-Dietharz als Geburtsort Meister Eckharts. Der gebürtige Chemnitzer Siegfried Rauch war der Kenner der DKW-Auto-Union-Tradition. Manfred von Ardenne erscheint als origineller Wissenschaftshistoriker. Aus Arno Schmidts Feder stammt das Hörstück »Goethe und einer seiner Bewunderer«. Der gebürtige Chemnitzer Walter Janka erscheint als unerschrockener Kämpfer für die spanische Republik, als Exil-Verleger in Mexiko, als Chef des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar und nicht zuletzt als kongenialer Drehbuchautor von Egon Günthers Thomas-Mann-Verfilmung »Lotte in Weimar«. Heinz Begenau vermochte die Herdersche Ästhetik als Grundlage modernen Formgestaltung zu begreifen. Vicco von Bülows Drehbuch zum Film »Papa ante portas« erscheint als moderner, dramatisierter Roman über die alte Bundesrepublik. Der gebürtige Eppendorfer Heiner Müller wird in seinen Kindjahren in Bräunsdorf bei Limbach-Oberfrohna gezeigt. Christa Wolf als Streiterin für die Neuerschließung der Romantik. Der Annaberger Künstler Carlfriedrich Claus tritt mit der Neuerschließung von Mystik und Religiösität als großer Philosoph in Erscheinung. Der in Limbach geborene Gert Hofmann, der von Henry James und Thomas Mann die Dramatisierung des Romans übernahm, ist mit seinem Roman »Der Kinoerzähler«vertreten. Brigitte Reimann ragt mit ihrem existenzialistischen Roman »Franziska Linkerhand« heraus. Rudolf Bahro erscheint nicht mit seiner berühmten »Die Alternative« sondern mit der späteren »Logik der Rettung« und bei Gerhard Gundermann verweist Eichler auf den programmatischen Liedtext »Alle oder keiner«.

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Bertolt Brecht widmete Eichler etwas mehr Aufmerksamkeit. Er verwies auf die 1500-Seiten-Brecht-Biographie des in Limbach geborenen Literaturhistorikers Werner Mittenzwei. Dieser habe auch die sogenannten Brecht-Lukács-Debatte sachlich und präzise analysiert. Georg von Lukács habe in der kommunistischen Bewegung der 1920er Jahre gegen den sektiererischen Linksextremismus ein Bündnis mit bürgerlich-demokratischen Kräften ermöglichen wollen. Im klassischen Kulturerbe sah er eine Verständigungsgrundlage. Deshalb entwickelte er einen Kanon des klassischen deutschen Kulturerbes unter dem Begriff »Realismus«. 

Brecht habe auch ein Bündnis mit bürgerlich-demokratischen Kräften gewollt, sah jedoch nicht ein, warum er deshalb ein selektives Kulturerbeverständnis entwickeln sollte.

Nach 1945 habe die SED-Führung mit dem Realismus-Konzeption ein Bündnis mit bürgerlich-demokratischen Kräften zur Bewahrung der Einheit Deutschlands gesucht. Über die Stufenfolge Lessing – Goethe – Schiller – Heine – Fontane – Thomas Mann habe man die Entwicklung dargestellt. Mit Thomas Mann habe dieser »Realismus« seinen Gipfel erreicht, danach sah man nur Dekadenz und Niedergang.

Brecht habe eine solche Politik-Konzeption, die sich allein auf den abstrakten Realismus-Begriff stützte, als idealistisch bezeichnet. Er setzte dagegen, dass das ganze nationale und internationale Erbe erschlossen werden müsse. Selbst der Traditionsbegriff sei eine Verengung und letztlich untauglich. Diese Position habe Bertolt Brecht in den 1950er Jahren den Ruf eines »Abweichlers« eingebracht. Heute können wir dagegen an den Positionen Brechts anknüpfen.

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»Überwältigend« – war der erste Kommentar Siegfried Arlts. In der Tat vermittelte Eichler in etwa einer Stunde eine Fülle an Bildern und Informationen, die vielleicht nur durch die Heraushebung der Personen fassbar war. Gleichzeitig erhellte er verborgene Querverbindungen und Zusammenhänge in der Geschichte der Sprachlandschaft zwischen Braunschweig und Görlitz. Man konnte die Verbindung zwischen den Gegensätzen Bewahren und Erneuern in der mitteldeutschen Mentalität erahnen. Nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung wurde an diesem Abend noch lange diskutiert. Dann musste alle wieder hinaus in die Dunkelheit.

Clara Schwarzenwald

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Information

Das Buch wird im April 2025 erscheinen

Johannes Eichenthal. Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 3. Von Thomas Mann bis Gundermann. Mironde-Verlag. ISBN 9783960630241

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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