Reportagen

NOT MACHT ERFINDERISCH IN LUNZENAU

 

Der 17. März war ein wechselhafter Frühlingstag. Gegen Abend kühlte es stark ab, leichter Regen setzte ein. Straßenbaustellen zwangen zu ungewollten Umleitungen. Unsere Vorsprung schmolz dahin, endlich kamen wir in Lunzenau an. Majestätisch floss die dunkle Zwickauer Mulde dahin, hell und warm leuchtete die Gaststätte zum Prellbock am Muldenufer, fröhliche Stimmen und Lachen klangen an unsere Ohren. Hier war unser Ziel: Hier sollte das Buch »Not macht erfinderisch« vorgestellt werden.

 

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Wir kamen etwas spät. Die Gaststube war eigentlich voll. Doch der Käpt’n im Seemannspulli (der Wirt?) wies uns noch zwei Plätze zu. Vorn sprach gerade Andreas Eichler, dem Anschein nach wohl der Herausgeber der regionalgeschichtlichen Buchreihe, zur Einleitung. »Not macht erfinderisch«, so hieß das Buch. Im Untertitel: »Zur Geschichte der Industrie in der Region Chemnitz-Zwickau. 1945-1990-2015«. Eichler erklärte, dass es am 14. April 1945, bei der Eroberung durch Einheiten der 3. US-Armee, praktisch keine zivile Produktion in der Region mehr gegeben habe. Das Rüstungskommando Chemnitz hatte, wie die entsprechenden Einrichtungen in Dresden und Leipzig, im Zuge der Verlagerung der Rüstungsindustrie in den Raum Thüringen-Sachsen, vor allem Produktionesgebäude der mittelständischen Textil- und Papierindustrie für die Verlagerung in Beschlag genommen. Die Rechte der Eigentümer setzte man unter Androhung von Bestrafung außer Kraft. Selbst banale Zulieferungsleistungen unterlagen strikter Geheimhaltung. Zahlen- und Buchstabencodes ersetzten die Herstellerbezeichnung; gefälschte Post- und Rechnungsadressen warn an der Tagesordnung. Strenge Schweigeverpflichtung für alle Beteiligten.

Die Ankunft der amerikanischen Soldaten am 14. April 1945 veränderte die Lage schlagartig. Sämtliche militärische Produktion hatte nur noch Schrottwert. Es fehlte an elementaren Gebrauchsgegenständen, Lebensmitteln und Rohstoffen.

Trotz dieser extremen Notlage war die sächsische Bevölkerung in der Lage, die zerstörte und missbrauchte Industrie wieder aufzubauen, und auch den Wiederaufbau im beginnenden Kalten Krieg, trotz Warenembargen und ständigem Materialmangel, weiterzuführen. Aus der Not heraus sei man in der Region erfinderisch geworden.

 

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Heiner Unger (Foto Mitte) referierte im Anschluss zur Geschichte der Papierfabrik Penig. Die Fabrik wurde nach dem zweiten Weltkrieg von der Sächsischen Landesverwaltung enteignet. Heute ist sie eine der ältesten, deutschen Papierfabriken, die noch am Standort produziert.

Hermann Friedrich (Foto rechts) referierte zur Geschichte des Kühlschrankproduzenten DKK Scharfenstein. Ausführlich ging er auf die Geschichte ein. Wichtige Impulse kamen von Jorge Skafte Rasmussen, dem legendären Unternehmer aus Dänemark, der die Motorrad- und Autoproduktion in Deutschland mit begründete. Rasmussen erwarb die Scharfensteiner Fabrik, um hier Motoren herstellen zu lassen. Bis zu Kühlaggregaten war es nur ein kleiner Schritt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Betrieb von der Landesverwaltung enteignet und von der russischen Besatzungsmacht demontiert. 147 Arbeiter, so Friedrich, begannen 1946 mit »nichts« in den leeren Hallen den Versuch eines Wiederaufbaus. Heute besteht das Unternehmen nicht mehr. Das ehemalige Firmengebäude ist abgerisssen.

Andreas Eichler trug dann, in Vertretung für den erkrankten Autor Klaus Dietz, eine Erinnerung an den Unternehmer Bodo Hempel vor. Dieser arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Labor für Hochfrequenztechnik in Oberfrohna und gründete etwas später einen eigene Firma in Limbach. Man gewann in einem »Sichtungs- und Zerlegewerk für Wehrmachtselektronik« in Limbach Bauteile, um wieder traditionelle Rundfunkgeräte herzustellen. Die Begegnung mit zwei Absolventen der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, Lutz Rudolph und Claus Dietel, veränderte nicht nur die Firmenwerbung (HELI = Hempel Limbach), sondern das gesamte Produktionsprofil des Unternehmens. Fortan wurden avantgardistische Rundfunkgeräte in Baukastenbauweise, mit Geräteanschlüssen an der Vorderfront, Sensoren, zusätzlichen Hochleistungslautsprechern usw. gefertigt. Das Unternehmen, dass auch Studio-Aufnahmetechnik für Rundfunk und Fernsehen fertigte, erlangte mit seinen Produkten internationale Anerkennung. Doch mit dem Amtsantritt Erich Honeckers wurde das Unternehmen verstaatlicht. Bodo Hempel erkrankte. Ein Neugründungsversuch von 1990 scheiterte. Heute würde nur noch die Ruine des ehemaligen Firmengebäudes an HELI-Radio erinnern, wenn es nicht weltweit die Sammmler und Kenner der Rundfunkgeschichte gäbe.

 

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Der Käpt’n im Seemannspulli, wirklich der Wirt, dankte Heiner Unger und Hermann Friedrich für ihr Engagement und verlah ihnen die höchste Auszeichnung der Branche: je ein (Prell-)Böckchen!

 

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Zum Abschluss das Ritual: Gemeinsames Foto mit einer Eisenbahnermütze aus dem Fundus der Eisenbahnergaststätte »Zum Prellbock«. Jeder Referent darf sich eine Mütze aussuchen. Der Wirt sowieso.

 

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Damit ging ein interessanter Abend zu Ende. Der Besatzung des »Prellbockes« und den Referenten ist für ihr Engagement zu danken. Das fachkundige Publikum war beeindruckt und diskutierte noch lange im kleinen Kreis. Langsam leerte sich die Gaststätte. Auch wir mussten den schönen warmen Raum verlassen. Auf der Terasse kam uns die Erinnerung, dass im Mai 2005 hier das Buch »Nochmal davongekommen« vorgestellt wurde. Zu den Referenten gehörte damals der Nestor der Lunzenauer Heimathistoriker, Wolfgang Bönitz, und auch Dr. George Hudson Wirth, ein ehemaliger Soldat der 3. US-Armee.

 

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Das ist lange her. Vielleicht täuscht mich auch meine Erinnerung. Als ich nocheinmal auf die dunkle Mulde blickte, war mir, als ob plötzlich Nebel über das Wasser zöge? Wurde er nicht immer dichter? Winkte da nicht eine Nixe, nein, das Gesicht war von einem Mann, ein Nixmann?? Wo gibt es denn sowas?! In Lunzenau!

Johannes Eichenthal 

Information

Not macht erfinderisch. Zur Geschichte der Industrie in der Region Chemnitz-Zwickau. 1945 – 1990 – 2015.

14.8 × 21.0 cm, 184 Seiten, brosch., 10,00 Euro

ISBN 978-3-937654-52-2

Bestelbar in jeder Buchhandlung oder direkt beim Verlag: www.mironde.com

Aus der Reihe ist noch lieferbar

Verlagerter Krieg. Umstellung der Industrie auf Rüstungsproduktion im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz während des Zweiten Weltkriegs

14.8 × 21.0 cm, 114 Seiten, brosch., 9,50 Euro

ISBN 978-3-937654-68-3

Erinnerungen an den Frühling 1945. Eine Dokumentation der dramatischen Ereignisse um den 14. April 1945 in der Region.

14.8 × 21.0 cm, 200 Seiten, brosch., 9,50 Euro

ISBN 978-3-937654-47-8

Luftkrieg und Zivilbevölkerung. 1939-1945.

Region Chemnitz-Freiberg-Geithain-Meerane

14.8 × 21.0 cm, 144 Seiten, brosch., 7,50 Euro

ISBN 978-3-9808333-5-6

Enttäuschte Hoffnung.

Wiederaufbau der kommunalen Selbstverwaltung. 1945-1949.

14.8 × 21.0 cm, 168 Seiten, brosch., 7,50 Euro

ISBN 978-3-937654-01-1

Bürgertum und Industrie im Limbacher Land.

14.8 × 21.0 cm, 220 Seiten, brosch., 7,50 Euro

ISBN 978-3-9806774-0-0

 

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